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Bianca Döring
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Vierundzwanzig Stunden hat der Tag, und heute mal mit blauem Mäntelchen, nach dieser grauen stickigen Gummiluft, durch die man sich biß, tagelang, wochenlang, den ganzen Januar lang, der wie immer kalt und schal dahinschlich, man sich durchkaute, durch diesen November Dezember Januar, als wär's für lebenslänglich, vierundzwanzig Stunden hat der Tag, die Stunden abhaken, erledigen, atmen, essen, schlafen, einkaufen, Kranke herum­schieben, reden, lächeln, guten Tag, zweieuro­fuffzig kosten die, in Ordnung morgen um sechs, ja, okay, kommen Sie vorbei, wir besprechen das, ja, finden wir schon, ist nix Schlimmes, wie bitte? Eine Notiz machen, in den grauen Rido Septimus (der ist, wissen Sie, am praktischsten, die Wochentage alle auf einmal gleichzeitig ablesbar inklusive Uhrzeit und so, trotzdem, er paßt in jede Handtasche) (das ist wichtig) (das ist phänomenal) (daß etwas paßt meine ich), die Milch in den Kühlschrank, nur eine? nur eine gekauft? eine einzige? bin ich blöd? nochmal los? Gott es ist Wochenende. Am Wochenende sich unter der Bettdecke verbuddeln, geblümt, lila-blau, löchrig, schon seit über drei Wochen nicht gewechselt, durch­geschwitzt wegen nachts-immer-von-Raptoren-(die aus Jurassik-Park)-verfolgt-werden-und-hoch­schrecken, Herz­jagen: sie stehen vor meinem Fenster, Mann, die sind schon auf meinem Balkon! (der im Grunde ungeeignet für Monster, keine zwei Quadratmeter, ebensowenig: der Flur, das Bad, die Küchenzeile, das Ausziehbett – man sagt Schlafsofa –, wenn das Bett ausgezogen ist, darf sich niemand mehr bewegen, nur noch das Fernseh­bild.) Also daß heute, an einem Samstag, an einem geblümten Bettdecken-Samstag, dieser ultramarinblaue, ultra­violett-blaue, einfach optimistische Himmel so derartig, so... so...

Aber bitterböser kalter Wind immerhin bog die steifen Gräser vom Vorjahr in den Blumenkästen hin und her, das war, vom Bett aus, zu sehen, Jensi wendete sich ab, trank den dritten Becher süßen Tee aus, diese aromatisierte Sorte aus irgendeinem Teeladen in der Innenstadt, wo sie gestern noch, spätnachmittags, mit Ed herumgehangen ist, lächelnd, die Hände kalt, ein Riesenzufall, Überraschung, seit drei Jahren nicht gesehen, immer noch die schönen Haare der Mensch, in Sarajevo eine Universität fotografiert, von unten, vom absoluten Mittelpunkt aus in die Sexagon-Kuppel der Bibliothek, für die Bewerbung bei der EU wegen des Wiederaufbaus, ein fantastisches Foto, ein Kristall könnte das sein, meinte eine Medizinstudentin, so ein Virus-Kristall, oder ein Vitamin, fantastisch, man kann mit Fotos Vermessungen anstellen ohne auch nur einmal das Objekt betreten zu müssen, hat Ed gesagt, und daß er Schifahrn war mit Gigi und daß es toll war und er seit zwanzig Jahren nicht mehr Schifahrn und dann drei Tage Schikurs und dann zweiter geworden bei dem Fortgeschrittenen-Slalom und die Füße waren immer blau und kaputt von den zu engen Schuhen, und mit Gigi geht's sonst aber nicht mehr, nein. Jensi hörte zu und gab sanfte Ratschläge, flog zwischen zwei „mhm!“ immer wieder auf Gedanken-Schiern ins Aus, schwarze Gondel Nirgendwo, in dem sie wie eine Lache verschwamm, sich ausbreitete, wohl aus Müdigkeit, der ganze anstrengende Dienst, während ihr Körper aufmerksam nach vorn gebeugt, an dem schmalen Tisch über den Teeschalen mit dem kostenlosen Probiertee, und irgendein merkwürdiger Mensch mit einer merkwürdigen Metzger-Schürze um sie herumjonglierte. Als Ed nach zwei Stunden fort war, nachdem sie beide noch ständig die Königsstraße rauf und runter, und sie mit der Straba auf dem Nachhauseweg und die Tür der Bahn klemmte und beinahe eine Quetschung an der linken Hand und sie ging am Wasser entlang und plötzlich ein Weinen und so heftig daß sie nach Luft rang, diese kalte eisige Januar-Februar-Luft. Ed und sein Haar und Augen und war ein sehr zärtlicher Liebhaber gewesen, einer ihrer sechs oder sieben oder acht, zehn Jahre her, alles Liebhaber – diese ganze Sache: Liebe, die Liebe, die Liebe kann ich nicht, die hab ich vergessen seit, ich weiß nicht, wohl seit ich denken kann, kann ich die Liebe nicht.

Auch arbeiten so wie Ed kann ich nicht, so durchdringend, innig, und mich freuen so wie Ed kann ich nicht, so direkt, auch innig, nur mich durchbringen, irgendwie, nicht fragen, wie, ach Gott nicht fragen, so ein Irgendwie-Leben, das ist es, was einen ausmacht. Jensi, die sich selbst so nannte, weil es ihr Spitzname war, als sie achtjährig und ausnahmsweise großmäulig, frech, blitzgescheit, lebenslustig daherspazierte, tanzte, in der Luft dirigierte, in diesem dritten Schuljahr, nie mehr vorher oder nachher so wirklich das Leben als Wirklichkeit gefühlt, warum nur gerade da? Hatte es Jensi Derringer gegeben, eine Serie im Vorabendprogramm, die sie selber gar nicht anschauen durfte, aber die anderen durften, warum durften die denn, ein amerikanischer Westernheld mit Pistolen und Pferden und auf einmal hat es geheißen: die Anna, die ist wie der Jensi, Jensi Jensi Jensi. Solche Spuren sind Silberfädchen, bald wohl auch das nicht mehr; Schlieren im Wind, Fata Morganas, und das alltagsverwüstete Auge begreift sie nicht.

Jensi, die sich selbst so nannte, weil das letzte Fädchen sich sonst in Wüstenstaub, Schneestaub zu verwischen drohte und sie selbst zwischen die schmelzenden Eisschollen im Küchengraben sich hätte hinsinken lassen mögen, das war ja auch gar nicht der Nachhauseweg. Und sie blieb stehen unter einem Silberbaum, groß und silbern, ein Blinzeln der Zweige und Blätter, unter denen die Elstern krakeelten, und kamen auch Raben vorbei mit grauen Kehlen, als trügen sie vornehme Anzüge und so stolzierten sie auch, und wenn Jensi Glück hatte, bewegte sich der Baum und flüsterte irgendwas Holdes, was sonst, das man keinesfalls verraten durfte, allerhöchstens sich selbst, unter der Dusche, da auch laut, während der auf heißeste Stufe eingestellte Wasserstrahl den Bauch rot färbte. Danach frühmorgens oder abends bloß noch die Tasche zusammenraffen, Sonntagsdienst, Spätdienst, die Nacht sich um die Ohren schlagen mit Kuchen von BäckerBecker und diversen Büchern, möglichst verschiedenen, den Monitor, die Signallampen im Augenwinkel. Auch wenn man jedesmal, jedesmal, wenn die automatische Glastür sich auftut mit diesem terzähnlichen Knirschen, das man schon mitsingen kann, jedesmal sagt: Nein, jetzt nicht mehr. Endgültig. Over. Und ehe ichs vergesse: Es ist wirklich Schluß und aus. So. Die einjährige Aushilfskraft, Springerin, mit panischer Angst vor Arbeitsamt (wir heißen Agentur für Arbeit) und Pleite und schlimmer, chronisch Ebbe auf dem Konto, geht wieder Klinkenputzen, ich habs Ed nicht verraten können, er hätte mich bestimmt getröstet, aber was war andererseits denn tröstlich an einem HNO-Stations-Monitor, wenn man in einem Kristall sitzen könnte, in der totalen Mitte.

(Und man soll seine Träume nicht wegschmeißen, wissen Sie, das ist mehr Sünde als Geld und Armut zusammen.)

Also bin ich den Samstag, der mit dem blauen Umhang nein Himmelsauge, bin ich heute, bin ich raus, aus dem Geblümten, rein in dieses blaue scharfe Auge, riesig, gar nicht mal kalt, reines Kristallauge, die Gitarre wie vor hundert Jahren unter den Arm geklemmt, in die Fußgängerunterführung am Königstor, damals war's linker Schick oder was war es denn, jeden­falls keine Not­wendig­keit, sich in den dunklen Gefriers­chrank stellen und die Siebziger-Jahre-Songs spielen, die wieder absolut salonfähig, Viglietti, aber klar, alt­modischer Protest, es heult und schreit jetzt bloß niemand mehr, auch wenn sie in Wahrheit alle heulen und schreien, bitterer als je, nachts, wenn die Raptoren kommen, aber das wird nicht verraten, das nicht mal sich selbst unter der Dusche frühmorgens. Zum Schluß die Arien von Bach, bei denen ältere Damen stehen­bleiben und langsam und zitt­rig ihre Geldbörsen öffnen ohne einen anzuschauen und dann dieser Mensch am Ende der Reise. Am Ende des Tunnels, der geschla­gene zwanzig Minuten zuhört und ganze zwanzig Euro in die Mütze schmeißt und Jensi ins Theater einlädt, märchenhaft, hundert­prozent, Staats­theater, erste Reihe, ich kann mich nicht auf das gewiß ganz märchenhafte Stück konzen­trieren, sitze betäubt und erstaunt in der Duftaura dieses fremden Mannes neben mir, sein bloßer, unver­hohlener Körpergeruch, sowas schlägt Worte, Taten, Schönheit, Schlauheit in den Wind, bin ein Tier wie er und nichts wird uns mangeln, der Mann lädt mich noch zum Spanier ein, geschenkt, ich lade ihn nach Hause ein, kann gar nicht mehr atmen, wären es die Siebziger, sagt er, würde ich dich mitnehmen nach Sri Lanka, da hab ich ein Haus. Gehabt. Der Bürgerkrieg. Diese Tamilen­geschichte. Die Inder. Weißt du. Er hat einen Kerzenstand, auf der Messe, sagt er, jetzt bei der Handwerks­messe, Kerzen­drehen ist Handwerk, alles stirbt aus, Häuser, Geld, Handwerk, Zeit, wo wollen wir jetzt alt werden? Hier nicht, sage ich. Im Frühling lade ich dich zum Karussell­fahren ein, auf der Messe, sagt er. Wo man in einem Kristall sitzen kann, in der Mitte, total.

 

Bianca Döring    27.09.2007   

 

 
Bianca Döring
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Lyrik