Christian TeisslKleines Sammelsurium: Statt einer PoetikIII. Unterredungen mit meinem jüngsten Fragment
(Ein sonniger Wintertag. Soeben nach Hause gekommen, treffe ich ein kürzlich begonnenes, vielleicht etwas vorschnell abgebrochenes Gedicht an –: mein jüngstes Fragment. In einem schattigen Winkel meines Wohn- und Arbeitszimmers kümmert es vor sich hin. ICH: Warum begibst du dich nicht in die Sonne? DAS FRAGMENT (nach einigem Zögern): Dort würde ich doch keinen Schatten werfen. ICH: Warum suchst du dir nicht eine glückliche Stelle am Fenster? DAS FRAGMENT: Dort hätte ich keine Aussicht. (Nach einer Pause:) Weder auf einen Anfang noch auf ein Ende. (Ich wende mich von ihm ab, gehe in einen anderen Raum. Es verstreichen mehrere Stunden; Abenddämmerung macht sich breit, dann stellt sich draußen vor den Fenstern die Dunkelheit auf und entblößt sich. ICH: Warum willst du ausgerechnet hier die Nacht verbringen? DAS FRAGMENT: Das darfst du mich nicht fragen. ICH: Ein Schreibtisch wie meiner ist höchstens ein Schlafplatz für leere Sanduhren und alte Kalender. DAS FRAGMENT atmet tief durch. ICH: Hier kannst du nicht schlafen. DAS FRAGMENT: Ich schlafe ja auch nicht; ich stelle mich lediglich ein paar Stunden lang tot. (Ich unterlasse es, weitere Fragen zu stellen, überlasse mein jüngstes Fragment seinem Scheintod und lege mich schlafen.) DIE FRAGMENTARISCHE STIMME: Guten Augenblick! Gute Aussicht! ICH: Wo bist du? DIE FRAGMENTARISCHE STIMME: Ganz am Anfang oder ganz am Ende - ich weiß es nicht. ICH: Willst du am Ende verloren gehen? DIE FRAGMENTARISCHE STIMME: Vielleicht. ICH: Oder am Anfang? DIE FRAGMENTARISCHE STIMME: Vielleicht auch dort. ICH: Willst du dich nicht mehr von mir erinnern lassen? DIE FRAGMENTARISCHE STIMME: Erinnern? So oft wie nur möglich. ICH: Wann? DAS FRAGMENT: Jetzt und jetzt dann wieder jetzt und dann noch einmal jetzt. ICH (leicht gereizt): Wenn ich mit dir sprechen muss, so kann ich dich nicht erinnern. DAS FRAGMENT verstummt auf der Stelle. aus: Hermetisch offen, herausgegeben von Ron Winkler
Christian Teissl 02.04.2008
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Lyrik
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