poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Theo Breuer
Das gewonnene Alphabet

Was Lyrik heute kann
Theo Breuers Gedichtbuch Das gewonnene Alphabet
  Kritik
  Theo Breuer
Das gewonnene Alphabet
Gedichte
Pop Verlag 2012


Die virulente Lyriklandschaft im deutschsprachigen Raum krankt mitunter daran, dass sie Dichter hervorbringt, die sich für Universalgenies halten. Statt sich mit der Gewissheit zufriedenzugeben, eine Stimme lyrischen Sprechens zu reprä­sen­tieren, diese zu kultivieren, weiter­zu­entwickeln, sie zu pflegen und daran zu arbeiten, scheinen solche Dichter mit dem Irrglauben zu liebäugeln, ihrer persönlichen Poesie könne es gelingen, die Sprache neu zu erfinden. Haftete einem solchen Vorhaben schon in jeder Epoche eine gewisse Absur­dität an, so erscheint diese in unseren Zeiten, in denen kaum noch jemand Lyrik liest, geradezu ins Kuriose gesteigert.

Wie aber dichtet einer, der sich mit Fug und Recht Universalgelehrter der Poesie nennen dürfte (auch wenn er dieses Etikett kaum für sich in Anspruch nehmen würde)? – Der im Eifler Dörfchen Sistig an­sässige Theo Breuer gilt zurecht als einer der profundesten Kenner der Lyrik im deutschsprachigen Raum, und das ist wahr­scheinlich noch eine Untertreibung: Es gibt im Verbreitungsgebiet unserer Sprache vermutlich niemanden, der auf so erschöpfende Weise die vielfältigen Dichter­stimmen der Ver­gangen­heit und der Gegenwart gesammelt, gesichtet, gelesen (!), reflektiert und verinnerlicht hat wie Theo Breuer.

Wäre Theo Breuer nicht wesentlich Dichter, sondern vornehm­lich Sammler und Rezipient, dann könnte sich das umfassende Wissen um die Poesie und ihre Geschichte leicht als unüberbrückbarer Wider­stand für das eigene lyrische Schaffen erweisen. Aber Theo Breuer ist seinem ganzen Wesen nach Dichter, und zwar ein solcher, der sich auf die respekt­vollste und die demü­tigste – und damit: vorbildlichste – Weise in die Geschichte der Lyrik einfügt. In dieser Haltung wird ihm in seinem jüngsten Buch Das gewonnene Alphabet die Geschichte der Poesie zum Resonanz­boden für das eigene Dichten.

Offenbart sich diese Grundhaltung schon in den diesen Gedichten sämtlich voran­ge­setzten Motti, die ein weites lyrisches Stimmen-Spektrum ausloten zwischen Matthias Claudius und Monika Rinck (und dabei immer wieder auch die Stimmen der Prosa und die der All­tags­kultur streifen), so wird dies vollends deutlich in den Ge­dich­ten selbst. Hier dichtet einer, der durch die Geschichte der Poesie ge­gan­gen ist (und weiter geht) und der sich diese Geschichte so inten­siv anver­wandelt hat, dass daraus eine ganz ei­gene, faszi­nierende poe­tische Stimme gereift ist. Nichts an diesen Texten ist epi­gonal, wohl aber sind die Strömungen der Poe­sie aus Gegen­wart und Ge­schichte in jedem dieser Texte mit-bedacht. Wer in den gängigen Dicho­tomien von sprach­experi­menteller und gesell­schaft­lich enga­gier­ter, von lako­nischer und sprach­lich ela­b­orierter Dich­tung ver­haftet ist, den werden diese poe­tischen Gebilde viel­leicht nur schwer er­reichen. Es ist aller­dings gerade das Ver­dienst dieser Poesie, dass sie die vermeint­lich unüber­windbaren Grenzen (die auch den gegen­wärtigen Lyrik­diskurs mit­unter so unglückselig beherrschen) in ein­drucks­voller Weise auf­bricht: Im Experi­mentellen ver­zichtet Breuer nicht auf die gesell­schaft­liche, die poli­tische, die histo­rische Anspielung; und in den Gedichten, die – vordergründig – eher dem All­täg­lichen, der Indi­viduation gewidmet sind, mani­festiert sich in den Tiefen­struk­turen ein subtil ausge­prägtes Form­bewusst­sein. Damit ist seine Poesie keiner ›Dichterschule‹ zuzu­rechnen, sondern weist vielmehr in aller Deutlichkeit über alle Katego­risie­rungen hinaus.

Es war Jürgen Becker, der einst empfahl, der Lyriker verstehe sich am besten „als Korres­pondent, und das Ausland beginnt in seinem Gemüse­garten“. Natürlich kennt Breuer diesen Satz. Dass seine Gedichte ihn be­herzigen, ver­dankt sich aber nicht der eifri­gen Haltung eines braven dichte­rischen Nach­fahren, sondern der Selbst­ver­ständ­lich­keit einer poe­ti­schen Grund­haltung. Tat­sächlich setzt die poe­tische Be­obach­tung die­ser Texte oft­mals im Garten oder in der un­mittelbar vor­find­lichen Natur­land­schaft an, regis­triert die Stimmen von Amsel, Distel­fink und Haus­rot­schwanz­pärchen, betrachtet Ringel­blumen, Bilsen­kraut, Schlan­gen­knöter­ich und jede Menge Namen nahezu ver­ges­sener Apfel­sorten (die schon für sich gesehen ein poe­tisches Alpha­bet bilden), um von dort aus, stets einge­denk der Geschichte der Poesie, ihre je eigene Textur auszu­bilden, eine Textur, die immer wieder neu zu über­raschen vermag.

Theo Breuers Verse wurzeln im Raum persönlichster Individuation (wobei sie das seit Rimbauds Initial­zün­dung frag­würdig gewor­dene Ich mit­bedenken bis in das Spiel mit Namen und Identitäten), um auf diese Weise Existen­zielles, Ge­sell­schaft­li­ches, Poli­tisches aus­zuloten, frei­lich niemals im Sinne einer flachen Aus­sage, sondern in anre­genden und ein­präg­samen poe­ti­schen Bil­dern, die zum Weiter­denken einladen. Alles hängt mit allem zu­sammen: Diese Grund­einsicht post­post­moder­ner Wirk­lich­keits­kon­struk­tion wird in Theo Breuers Gedicht­band auf eine für die zeit­genös­sische Lyrik selten kompro­miss­lose Weise vor Augen geführt. So gelingen er­staun­liche poeti­sche Brücken zwischen Birn­baum und Bibel, zwischen Sistig und Syrien, zwischen Wespe und Welt. Alles ist aber auch durch die Poesie gespiegelt: Das wird zum Bei­spiel nach­haltig deut­lich, wenn Breuer in count­down – nicht ohne Ironie – die Ver­gänglich­keits­lehre des traditionellen Sonetts paro­diert oder Jakob van Hoddis' Weltende in seinem Gedicht im schneegestöber 2010 ins Poeto­logi­sche umlenkt. [D]ie schreibende / kraft / ist die // reibende / kraft / ist die // treibende / kraft in diesem vorzüglichen Gedichtbuch, das nicht nur mit dem fulminanten Auftaktgedicht admission free and daily open to the public und dem ebenso ein­drucks­vollen Abschluss-Zyklus zehn verbote insgesamt ein leiden­schaft­liches dichte­risches Plädoyer für die Freiheit der Poesie, der Kunst, ja: des Lebens selbst darstellt. Was mit der Lek­türe dieses Gedicht­buchs gewon­nen ist, ist nicht nur ein außer­gewöhn­liches poetisch-ästhe­tisches Er­lebnis, sondern ein be­mer­kens­werter – und zu weiterer, tieferer Lektüre einladender – Ausblick auf das, was Lyrik heute kann.
Christoph Leisten   14.11.2013   

 

 
Christoph Leisten
Portrait
Lyrik