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Theo Breuer
Das gewonnene Alphabet
Was Lyrik heute kann
Theo Breuers Gedichtbuch Das gewonnene Alphabet
Kritik |
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Theo Breuer
Das gewonnene Alphabet
Gedichte
Pop Verlag 2012
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Die virulente Lyriklandschaft im deutschsprachigen Raum krankt mitunter daran, dass sie Dichter hervorbringt, die sich für Universalgenies halten. Statt sich mit der Gewissheit zufriedenzugeben, eine Stimme lyrischen Sprechens zu repräsentieren, diese zu kultivieren, weiterzuentwickeln, sie zu pflegen und daran zu arbeiten, scheinen solche Dichter mit dem Irrglauben zu liebäugeln, ihrer persönlichen Poesie könne es gelingen, die Sprache neu zu erfinden. Haftete einem solchen Vorhaben schon in jeder Epoche eine gewisse Absurdität an, so erscheint diese in unseren Zeiten, in denen kaum noch jemand Lyrik liest, geradezu ins Kuriose gesteigert.
Wie aber dichtet einer, der sich mit Fug und Recht Universalgelehrter der Poesie nennen dürfte (auch wenn er dieses Etikett kaum für sich in Anspruch nehmen würde)? – Der im Eifler Dörfchen Sistig ansässige Theo Breuer gilt zurecht als einer der profundesten Kenner der Lyrik im deutschsprachigen Raum, und das ist wahrscheinlich noch eine Untertreibung: Es gibt im Verbreitungsgebiet unserer Sprache vermutlich niemanden, der auf so erschöpfende Weise die vielfältigen Dichterstimmen der Vergangenheit und der Gegenwart gesammelt, gesichtet, gelesen (!), reflektiert und verinnerlicht hat wie Theo Breuer.
Wäre Theo Breuer nicht wesentlich Dichter, sondern vornehmlich Sammler und Rezipient, dann könnte sich das umfassende Wissen um die Poesie und ihre Geschichte leicht als unüberbrückbarer Widerstand für das eigene lyrische Schaffen erweisen. Aber Theo Breuer ist seinem ganzen Wesen nach Dichter, und zwar ein solcher, der sich auf die respektvollste und die demütigste – und damit: vorbildlichste – Weise in die Geschichte der Lyrik einfügt. In dieser Haltung wird ihm in seinem jüngsten Buch Das gewonnene Alphabet die Geschichte der Poesie zum Resonanzboden für das eigene Dichten.
Offenbart sich diese Grundhaltung schon in den diesen Gedichten sämtlich vorangesetzten Motti, die ein weites lyrisches Stimmen-Spektrum ausloten zwischen Matthias Claudius und Monika Rinck (und dabei immer wieder auch die Stimmen der Prosa und die der Alltagskultur streifen), so wird dies vollends deutlich in den Gedichten selbst. Hier dichtet einer, der durch die Geschichte der Poesie gegangen ist (und weiter geht) und der sich diese Geschichte so intensiv anverwandelt hat, dass daraus eine ganz eigene, faszinierende poetische Stimme gereift ist. Nichts an diesen Texten ist epigonal, wohl aber sind die Strömungen der Poesie aus Gegenwart und Geschichte in jedem dieser Texte mit-bedacht. Wer in den gängigen Dichotomien von sprachexperimenteller und gesellschaftlich engagierter, von lakonischer und sprachlich elaborierter Dichtung verhaftet ist, den werden diese poetischen Gebilde vielleicht nur schwer erreichen. Es ist allerdings gerade das Verdienst dieser Poesie, dass sie die vermeintlich unüberwindbaren Grenzen (die auch den gegenwärtigen Lyrikdiskurs mitunter so unglückselig beherrschen) in eindrucksvoller Weise aufbricht: Im Experimentellen verzichtet Breuer nicht auf die gesellschaftliche, die politische, die historische Anspielung; und in den Gedichten, die – vordergründig – eher dem Alltäglichen, der Individuation gewidmet sind, manifestiert sich in den Tiefenstrukturen ein subtil ausgeprägtes Formbewusstsein. Damit ist seine Poesie keiner ›Dichterschule‹ zuzurechnen, sondern weist vielmehr in aller Deutlichkeit über alle Kategorisierungen hinaus.
Es war Jürgen Becker, der einst empfahl, der Lyriker verstehe sich am besten „als Korrespondent, und das Ausland beginnt in seinem Gemüsegarten“. Natürlich kennt Breuer diesen Satz. Dass seine Gedichte ihn beherzigen, verdankt sich aber nicht der eifrigen Haltung eines braven dichterischen Nachfahren, sondern der Selbstverständlichkeit einer poetischen Grundhaltung. Tatsächlich setzt die poetische Beobachtung dieser Texte oftmals im Garten oder in der unmittelbar vorfindlichen Naturlandschaft an, registriert die Stimmen von Amsel, Distelfink und Hausrotschwanzpärchen, betrachtet Ringelblumen, Bilsenkraut, Schlangenknöterich und jede Menge Namen nahezu vergessener Apfelsorten (die schon für sich gesehen ein poetisches Alphabet bilden), um von dort aus, stets eingedenk der Geschichte der Poesie, ihre je eigene Textur auszubilden, eine Textur, die immer wieder neu zu überraschen vermag.
Theo Breuers Verse wurzeln im Raum persönlichster Individuation (wobei sie das seit Rimbauds Initialzündung fragwürdig gewordene Ich mitbedenken bis in das Spiel mit Namen und Identitäten), um auf diese Weise Existenzielles, Gesellschaftliches, Politisches auszuloten, freilich niemals im Sinne einer flachen Aussage, sondern in anregenden und einprägsamen poetischen Bildern, die zum Weiterdenken einladen. Alles hängt mit allem zusammen: Diese Grundeinsicht postpostmoderner Wirklichkeitskonstruktion wird in Theo Breuers Gedichtband auf eine für die zeitgenössische Lyrik selten kompromisslose Weise vor Augen geführt. So gelingen erstaunliche poetische Brücken zwischen Birnbaum und Bibel, zwischen Sistig und Syrien, zwischen Wespe und Welt. Alles ist aber auch durch die Poesie gespiegelt: Das wird zum Beispiel nachhaltig deutlich, wenn Breuer in countdown – nicht ohne Ironie – die Vergänglichkeitslehre des traditionellen Sonetts parodiert oder Jakob van Hoddis' Weltende in seinem Gedicht im schneegestöber 2010 ins Poetologische umlenkt. [D]ie schreibende / kraft / ist die // reibende / kraft / ist die // treibende / kraft in diesem vorzüglichen Gedichtbuch, das nicht nur mit dem fulminanten Auftaktgedicht admission free and daily open to the public und dem ebenso eindrucksvollen Abschluss-Zyklus zehn verbote insgesamt ein leidenschaftliches dichterisches Plädoyer für die Freiheit der Poesie, der Kunst, ja: des Lebens selbst darstellt. Was mit der Lektüre dieses Gedichtbuchs gewonnen ist, ist nicht nur ein außergewöhnliches poetisch- ästhetisches Erlebnis, sondern ein bemerkenswerter – und zu weiterer, tieferer Lektüre einladender – Ausblick auf das, was Lyrik heute kann.
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Christoph Leisten
Portrait
Lyrik
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