Ammann und Engeler stellen den Betrieb ein, Kookbooks in Nöten und die Regale voll mit Fun und Fantasy. Dazu die aktuellsten Blut-und-Sperma-Operetten, Tankstellenliteratur nebst den neusten Spiessbürgerlichkeiten irgendeines einsam vor sich hindämmernden, selbsterklärten Kulturchefs. Was ist los in unseren Buchhandlungen? Game over in der Verlagslandschaft (Standard, Dante Andrea Franzetti, 21.08.09)? Oder Neustart? Die Ladenlokale, sie wachsen stetig, allein für die sogenannte hehre „Literatur“ bleibt eine halbe Wand. Neben Mankell prangen Kaffee-Pads, was zählt sind Gewinnmargen pro Fläche. Aber entgegen allem Kulturpessimismus: das ist womöglich DIE Chance für die Literatur! Es wird wieder Platz frei für ökologische Nischen, die den Selbstzweck guter Literaturproduktion feiern. Keine Frage, es wird wohl werden wie im Musikmarkt: die Großen verzetteln sich in Trash, die Mittleren werden aussterben, dazu die Digitalisierung und was bleibt, ist der Multi und eine kleine (aber unabhängige?) Anarchie. Ist das der Keim, aus dem die Renaissance erwächst, ist es der stille Rebound einer nicht nur unterhalten, sondern den Menschen erklären wollenden (Achtung: Sendungsbewusstsein) Literatur? Zum Glück, es gibt sie noch, Verlage, die der zunehmenden Vertrashung mit Qualität begegnen, indem sie stoisch ihre Arbeit als Literaturvermittler ernst nehmen (auch Dank Querfinanzierungen). Zu diesen Dinosauriern gehört u.a. der Göttinger Steidl Verlag. Nehmen wir das Debut von Ruth Johanna Benrath. Aufatmen schon beim Blick auf das Cover, keine Seidenschenkel, kein allzu schwulstiger Titel. Dagegen eine schlicht-witzige Paraphrasie: „Rosa Gott wir loben Dich“. Eines vorweg: das Buch ist gnadenlos anstrengend, die immer leicht überstrapazierte Parataxe bohrt sich dem Feierabendleser in die Hirnwindungen wie ein Korkenzieher. Es ist ein kindlicher, fast naiver Duktus, ein unschuldig staunender Blick, der die Perspektive der heranwachsenden Protagonistin begleitet. Die verstockte Religiosität eines schrecklich-liebenswerten Elternhauses kondensiert in Sätzen wie: „Die Mutter kommt lange nicht wieder. Sie muss zur Kur. Irgendetwas ist mit der Mutter passiert.“ Ist es nicht immer wieder Zeit, erneut auf die Absurditäten der Kindheit zu schauen? „Das mit dem Anschwellen der Mutter lässt sie nicht los.“ Die im Grunde objektivere, weil pathosungetränkte Sichtweise der Protagonistin wirkt hier erfrischend. Also weg mit dem allwissend flanierenden Erzählschwulst, humorig werden die ersten sexuellen Erfahrungen absolviert (und das realistischerweise nicht pünktlich zur ersten Menstruation) sondern viel früher: So steckt „der Nachbarsjunge, Sohn eines schwedischen Diplomaten (…) Marie im Hobbykeller seine Zunge in den Mund. Sie schmeckt wie eine Schnecke (…) Die anderen behaupten, dass jeder echte Junge eine zweite Schnecke besitze.“ Leicht angewidert, beschämt und zugleich amüsiert liest man diese Zeilen. Klar, identifikatorisches Moment, Verkaufszahlen, ach, vergessen wir das, folgen wir Benraths Protagonistin einfach durch ihre Adolenzenz: „ihr Finger wird schneller, es gilt Lisa nicht zu verlieren, lösest auch endlich einmal meine Seele ganz, breitest über mein Gefild lindernd deinen Blick (…) Alles ist plötzlich aus Zucker, Marie zuckt zusammen, zwischen ihren Beinen ist es nass, sie zieht ihre Hand zurück, zwischen ihren Beinen ist es nass (…). Am Zeigefinger hat sich eine durchsichtige Schliere gebildet.“ Herrlich ist dieses gekonnte Einweben von Bibelsprache in die heiligen Niederungen der Pubertät, die hiermit erzeugte Ambivalenz. Nicht etwa Phantasien literarischer Lustmolche werden bedient, auch keine Blümchen-BH-Klischees, die Ambivalenz zwischen dem Über-Ich des puritanischen Bibel-Sing-Sangs und der sezierten Realität hinterlässt eine eigenartig ratlose Anspannung beim Lesenden. Die lyrischen Alliterationen lösen parataktische Blockaden, das Handwerk der Sprachkunst erhält seinen Platz in der Prosa zurück. Der erfolgreiche Weg ins Erwachsenendasein ist wahrlich anstrengend wie ein Gedicht und doch, aus der Perspektive der Benrathschen Protagonistin geradezu kathartisch verglichen mit jener Befindlichkeitsprosa von 8-88, mit der uns nicht selten die Publikumsverlage überschwemmen. Klar, die in prekären Verhältnissen lebenden Geistesarbeiter, sie haben anderen Sorgen als sich durch harte Kost zu kämpfen (BZ, Jörg Sundermeier, 11.08.09), aber entschuldigt das die Dominanz der als Hochkultur getarnten Surrogate der aktuellen Publikationsmaschinerie? Besprochen wurde Benraths Kleinod in der Tat wenig, zu unschleimig und unkonstruiert kommt es daher in einer Flut scheinbar „perfekter Debuts“.
Wo wir schon bei Marc Degens wären über dessen jüngere Prosa der Kollege Kapielski lakonisch urteilte: „Dieses Buch ist gut!“ Warum also all diese feuilletontypischen Superlative eines neuen Kafka, Benn oder Döblin bemühen? Eben jener Kapielski schimpfte wiederholt auf den Debutantenquatsch im deutschsprachigen Literaturbetrieb und ist auch sonst wohl eher ein Sympathisant Degensches „Abweichens“. Degens reflektierte bereits Jahre vor der jetzigen (teils noch ignorierten) Krise des Buchhandels über die Mechanismen der (Hoch-) Literaturindustrie. So beginnen die gesammelten Degenschen Essays in „Abweichen“ denn auch mit einer identifikatorischen Gegensympathiebekundung, denn „der Weg des 1951 geborenen Charlottenburgers (Kapielski, Anm. d. Verf.) zu den Lesermassen war lang und entbehrungsreich: Selbstverlag, Arbeitsamt, Armut.“ Kapielski rüpelte und grölte sich in den Literaturbetrieb hinein. Dazu Ausstellungen im Dunkeln, bei denen ein Kühlschrank so umgebaut war, dass er nur von innen leuchtete, wenn er geschlossen war. Künstleridole wie Kippenberger, Roth oder Büttner werden zitiert. Degens setzt auch hier eigene Wegmarken. Wie bei den jüngst erschienen, journalistischen Fauser Texten (Alexander Verlag, jetzt auch Diogenes) scheint klar, dass sich gerade die Abweichler unter den Künstlern ihres Ortes immer wieder versichern müssen. Da ist die durchaus berechtigte Angst vor der Einverleibung durch die Hochkultur und zugleich die heimliche Sehnsucht danach. Alle diese sehr lesenswerten und amüsanten Essays Marc Degens' fokussieren ehrgeizige Antikarrieristen, auch T.Raumschmiere sei ja „rockig, rotzig und irgendwie asozial, so wie der Schwitzkasten eines älteren, nach Zigarettenrauch und Schweiß riechenden Schulkameraden.“ Dietmar Dath kommt in einem Interview zu Wort, Céline wird, bei aller Problematik, gewürdigt, denn er „dekonstruierte die Gattung, pfiff auf Narration und Linearität, verbannte jede literarische Künstlichkeit aus seinem Werk und verschnürte die knorrigen Handlungsbrocken mit seinem furienhaften, einzigartigen Stil …“ Die sich aufdrängende Frage hinter dem Degenschen Opus ist: Wo und wie finden derartige Abweichler heutzutage ihren Platz? Da ist natürlich der von Degens erfolgreich betriebene Sukultur-Verlag, zudem Yedermann, Wallstein, Blumenbar, da ist Suhrkamp, die sich nach langer Vorarbeit (und einem Hesse-Tantiemenregen) einen Dath, einen Kapielski leisten – aber das war es dann auch schon fast. Die Frage ist, ob nicht neue, autonome Strukturen ein Ausweg aus dieser den Abweichlern gegenüber so widrigen Marktsituation bieten könnten? Projekte wie Kookbooks, ein hochanspruchsvoller Verlag als Zusammenschluss von Autoren, Lyrikern, ein Vorhaben welches, wie sollte es auch anders sein, ohne Mäzene, Eigenbeteiligung (Selbstausbeutung?) oder die besagte Querfinanzierung leider nicht auskommt. Doch wo sind diese heutigen Mäzene? So teuer ist doch eigentlich gar nicht, ein paar Bücher zu produzieren und ein idealistisches Häufchen Germanisten darin zu unterstützen, selbstaufopfernd dafür einzutreten? Und auch wenn große Verlage 30.000 Euro für einen neuen Titel ausgeben (Börsenblatt) werden diese hierdurch nicht unbedingt besser, oder gar verkäuflicher. Sind das am Ende nicht die gleichen Fehler der Musikindustrie? Ist das alles etwa ein Déjà-vu? Mit Geldausgeben allein war auch dort kein Boden mehr zu retten, da halfen keine Michael Jacksons in Freiheitsstatuengröße, der Markt ist diversifiziert wie ein Flickenteppich. Schlägt nun also die Stunde der Indies? Nach dem Sterben der Majors hat sich in der Musikszene bereits eine durchaus eindrückliche Gegenkultur etabliert, hier publizieren und produzieren sich die Bands mittlerweile (und keines&wegs nur die erfolglosen) höchstselbst. Zitat Emily Haines (übrigens Tochter eines Kanadischen Dichters) und Sängerin der Band Metric: „Ich glaube, dass sich die Künstler meiner Generation sagen: so schwer ist es gar nicht, ein bisschen Ahnung von den Dingen zu bekommen“ (Musikexpress, 08/09). Der Retter, er wird nicht kommen. Wann beginnt die Literatur also abzuweichen ...? Wo finden sich Spielwiesen für Experimente, wo findet es noch statt, das Betreten von literarischem Neuland? Wo sind sie, die Renegaten, Brandstifter, die kleinen Revolutionen? Was ist mir den Büchners unserer Tage? In welchem Gebirg warten sie zu und auf was? Die arrivierte Vermottung jedenfalls wartet nicht selten, so scheint es, an der Wiege der hübsch frisierten Jungautorenschar. Wollen die das so? Warum gleicht das Betreten eines gemeinen Buchladens heute zunehmend einem masochistischen Akt? Klar, die Verlage, sie müssen Jobs halten, das ist löblich, die Firma usw., das ist nicht zu verübeln. Und auch die Leser verweigern sich nach einem langen Arbeitstag medialem Overkill und inmitten einer prekären Lebenssituation zunehmend einer anspruchsvollen Lektüre. Vielleicht hilft hier nur (denn die Mittleren werden, analog zum Musikbetrieb kaum Chancen haben) die Gründung von Kleinstverlagen weiter, begleitet von einem Plädoyer für mehr Stipendien und staatliche Literaturförderung. Klar, Sozialismusverdacht, Planwirtschaft usw. Aber ernsthaft: gründet Verlage, bestellt in Zukunft via TUBUK, wegen mir auch bei amazon, aber bitte Degens oder Benrath.
|
Daniel Ketteler
Lyrik
|