poeten | loslesen | gegenlesen | kritik | tendenz | news | links | info | verlag | poet |
Tom SchulzKanon vor dem VerschwindenZeilensprunghaft Kritik
Der Titel des neuen Buches von Tom Schulz kam mir irgendwie bekannt vor. Lag es daran, dass Kollegin Andrea Heuser im letzten Jahr einen Lyrikband mit der Aufschrift „vor dem verschwinden“ vorgelegt hatte oder weckte er Erinnerungen an Hans Magnus Enzensbergers Gedichtsammlung „Die Furie des Verschwindens“, die 1980 in sattem Orange in der legendären edition suhrkamp erschienen war? Wohl letzteres. Denn schon Enzensberger beklagte eindringlich das Verschwinden der Dinge – wie zuletzt auch Jenny Erpenbeck ganz konkret in ihrer Kolumnensammlung „Dinge, die verschwinden“. Den Anspruch, einen Kanon darzustellen, löst Tom Schulz jedoch nicht ein. Aber vermutlich will er auch gar nicht an einem solchen Anspruch gemessen werden, denn das Titelgedicht ist nur bedingt exemplarisch für die Lyrik des 1970 in der Oberlausitz geborenen Autors: „die Trauerränder, die nachtblau / zerstochenen Venen, die Geburtstagskarten / ins Jenseits, während du durchgefeuert wirst / im Universalsarg, einfachste Ausführung“. Die Vergänglichkeit alles Irdischen ist immer schon ein zentrales Thema der Lyrik gewesen. Das „memento mori“ des Tom Schulz kommt gleichwohl flott, unaufgeregt, manchmal sprunghaft, immer aber in nicht abgegriffenen Formulierungen und Versen daher. Typisch an der zitierten Stelle ist die häufige Verwendung des Zeilensprungs (Enjambement) als Stilmittel, das der Autor quasi auf die Spitze treibt, indem er nicht nur Sätze oder Halbsätze, sondern sogar Wörter in Silben bricht: „verbrecherisch schön, o wir fox / trotteten nicht, wir wurden in die Ein / Friedung gestickt als Tränenemblem“. Das wirkt einerseits originell und auch etwas witzig, gelegentlich aufgrund der häufigen Verwendung aber auch ermüdend. Formal arbeitet Tom Schulz ohne Satzzeichen, lediglich Kommata trennen Sinneinheiten, gelegentlich mit Kursivdruck, um Zitate – auch fremdsprachige Einsprengsel – hervorzuheben, und immer mit einer Einteilung in Strophen, zumeist sind es drei- oder vierzeilige. Wortspiele wie „Tuppermütter“ oder Komposita als Neologismen, beispielsweise „Liegenschaftsrand“ und „Segenswasserlibelle“, verstärken im Kontext die poetische Darstellung, wenngleich sie an einigen wenigen Stellen schon fast etwas manieriert wirken. Ein Großteil des in vier Abschnitte untergliederten Bandes sind Reisegedichte („Abschied von Gomera“). Am stärksten sind die Gedichte von Tom Schulz, wenn sie sich konzentriert einem Thema widmen und auf Schnörkel sowie kalauernde Sprachspiele – wie zum Beispiel „Kollekte, Dekolleté“ – verzichten. Der Text „Zimmer mit Aussicht“ spielt im Titel auf die gleichnamige romantische Filmkomödie an, fokussiert jedoch im Folgendem in sehr eindringlicher Weise und in einem eigenständigem lyrischen Ton den Alltag in einem Altenheim und hinterlässt beim Leser eine nachhaltige Wirkung: „bei den Tablettenschachtelhalmen / die Großmutter an ihrer letzten / Statt: das Einschlafzimmer, die Ölung / der Zweige, die niederschlagsreichen // Nächte im November“.
|
Henning Heske
Lyrik
Rotverschiebung
Ereignishorizonte
Wegintegrale
Ikonografien
|
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany
|
virtueller raum für dichtung
|