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Isabelle Lehn
Die Liebe in den Zeiten der Vogelpest
Früher einmal hatte ich einen Mann, den es jetzt nicht mehr gibt. Natürlich gibt es ihn noch. Er lebt noch immer in der Stadt, in der auch ich einmal gelebt habe, er trägt noch immer meinen Nachnamen vor seinem, er ist noch immer der Freund meiner Freunde. Und er schickt noch immer Pakete, schwere Pakete, die der Postbote nicht in den dritten Stock hinauf bringen will. Darauf steht meine Adresse in roten Buchstaben, mit Herzen über den Is in meinem Namen und dem der neuen Stadt: weil er wissen muss, wie sehr es mich ärgert. Doch was schwer wiegt, ist bloß Geschirr, das auf dem Postweg zerbricht, und das ich zurückschicken soll, schreibt er, wenn es zerbrochen ist.
Nur ein paar Tassen und die Gedanken ans Unterwegssein hat er behalten wollen. Jetzt aber müsse alles raus. Er schickt Fotoalben und Reiseführer, Roadmaps und eine Weltkarte, auf der er unsere Fluchten nachgezeichnet hat. Er schickt Zimmerschlüssel aus Lissabon, Visitenkarten aus King Solimans Perfume Palace, Kühlschrank­magneten vom Park Avalon Restaurant, Festivaltickets aus Killyleagh, einen Mundschutz – gelber Stern auf rotem Stoff – und eine CD vom Thang-Long-Water-Puppets-Theatre-of-Hanoi.

Hanoi war damals der Anfang, Vietnam unsere letzte Reise. Auf Reisen hatten wir bessere Zeiten, und zwischen Indien und China, in einem Strom aus hupenden Mopeds, verlor sich plötzlich alle Hysterie. Um eine Straße in Hanois Altstadt zu überqueren, brauchte es nichts weiter, als ein Ziel vor Augen und einen gleichmäßigen Takt durch den Fluss aus knatterndem Metall, der immer wusste, an welcher Stelle er sich zu teilen hatte. Als ich so zum ersten Mal hinüber gekommen war, in einer Blase aus Adrenalin, fiel mir das Atmen noch auf der anderen Straßenseite schwer. Im Blick zurück fuhren Vietnamesinnen unbeeindruckt vorüber, und tatsächlich saß da, im kunstseidenen Ao Dai, so etwas wie Anmut mit auf den Kleinkrafträdern. Die Frauen trugen Schirmmützen oder Stoffhüte, und jeder reichte ein Mundschutz bis unter die Augen – pastellfarben, bedruckt mit Comicfiguren, manchmal auch mit Stars and Stripes. Das Motiv sah man hier sonst über Toilettenspülungen: American Standard. Und die Frauen auf den Mopeds kümmerten sich nicht um Abgase, sondern um weiße Haut.

An all den Straßen lief mein Mann, damals, mit einem Lächeln entlang. Als ließe sich hinter jedem Mundschutz eine Freundlichkeit vermuten, die es zu erwidern galt: Offen und angenehm zurückhaltend, nur selten aufdringlich, schroff oder gar fremdenfeindlich, besonnen und gesittet. So sollen sie gewesen sein, die Menschen in Vietnam. So steht es im Reiseführer, bereits im Vorwort, dem ich gerne nachdenken will, hinterherdenken, weil ich mich selbst nicht mehr erinnern kann: An niemanden so gut wie an uns, dort, wo er meine Hand gar nicht loslassen will, uns auf der Straße unumfahrbar macht und unser beider Leben riskiert. An uns, wie wir im Jetlegtaumel durch die Nacht laufen, den Händlern auf dem Markt beim Aufbauen zusehen, wie wir im Wasserpuppentheater sitzen, er die Musik nicht erträgt und mir später heimlich die CD kauft, wie wir den Schlammweg zur Parfümpagode hinaufpilgern und eine Mango opfern, gemeinsam so gut sind wie nirgends sonst, zurückhaltend, besonnen, gesittet und ...

Und darum gibt es sie noch, die Orte: Ha Noi, Ha Long, Sa Pa. Hue, Hoi An und Mui Ne, Saigon, die Pfahlhäuser, die schwimmenden Märkte im Mekongdelta. Und darum sind sie es wieder: Nichtkriegsschauplätze, die wir bereist und uns hinterlassen haben, unzertrümmert für spätere Gedanken daran.

Hanoi liegt beiderseits des Roten Flusses und rings um den Hoan-Kiem-See, es ist durchzogen von Kanälen und Wasserläufen. Als Bangkok, Jakarta und Singapur noch Sümpfe waren und Venedig bereits wie ein Abort roch, nannten sie Hanoi Venedig des Ostens. Hanoi, wo es nach gebratenen Tieren roch, nach den Garküchen auf den Gehwegen und der Hühnersuppe Pho, die man bereits zum Frühstück und zu jeder Zeit mit Essstäbchen aß. Es roch nach dem Nylon falscher Markenrucksäcke, nach den Uniformen, die rund ums Ho-Chi-Minh-Mausoleum patrouillierten und nach einer gewaltigen Leninstatue aus grauem Marmor, deren Pose sich fürs Foto gut nachahmen ließ. Räucherstäbchen und dampfende Reisegruppen im Literaturtempel, rotlackiertes Holz und der Geruch von feuchtem Haar unter einem beständigen Nieselfilm. Glaube ich. Vermute ich, denn für mich roch Hanoi nach Tigerbalm auf der Brust seit dem Flug und zwölf Stunden Klimaanlage. Auch die Seife roch ich nicht, mit der sich übergroße Handpaare wuschen, auf Plakaten, die in der ganzen Stadt zur Nachahmung aufforderten. Währenddessen lagen meine Haut und alles jenseits meiner Haut in Eukalyptus, im Duft der Eintracht: denn wir waren uns wohlgesonnen, damals, der Mann und ich in der Gasse des Huhns, der hang ga in den Zeiten der Vogelpest.

In Ninh Binh wusch das Wasser die Toten. Die Lebenden begruben die, von denen sie abstammten, in den Reisfeldern. Und obwohl die Menschheit schon seit langem aus mehr Verstorbenen als Lebendigen bestand, verschwanden langsam die Felsnadeln, Bergkegel und Zuckerhüte, die Kalksteinriesen, die aus den Resten der Ahnen inmitten der Reisfelder gewachsen waren, um nun mit Sand und Zement vermischt zu Häusern für die Nachfahren zu werden. Womit sich der Kreis geschlossen und alles Neue im Alten gewohnt hätte, wäre diese Geschichte nicht bloß erfunden. Stattdessen war ein Drache einst den Menschen gegen die Feinde im Norden zur Hilfe gekommen. Mit Schweifhieben hatte er das Schlachtfeld zerklüftet und es dann überschwemmt, als er sich ins Meer stützte. Doch während nur ein Ausläufer der Flutwelle nach Ninh Binh schwappte, was seither in der Trockenen Ha-Long-Bucht liegt, umgibt die Felsen im Nord-Osten nun das südchinesischen Meer, die feuchte Ha-Long-Bucht, die heute von Touristenströmen überschwemmt wird.
Nach Ninh Binh aber, meinte Herr Tuc, kämen zu wenige Touristen. Obwohl die Felskegel auch hier beeindruckend seien. Und selbst, wenn man sie von Ninh Binh aus nicht mit einer Dschunke ansteuern konnte, so doch immerhin mit dem Fahrrad durch die grünen Reisteppiche, in deren Wasser sich (bei genauem Hinsehen) die Felsen spiegelten. Herr Tuc sprach Deutsch und mochte besonders deutsche Touristen, nachdem er als junger Mann in Dresden gearbeitet hatte. Nun führte Herr Tuc eine Pension. Und wir? Osten oder Westen? Herr Tuc schenkte Reisschnaps nach. Wir tranken und hörten seine Geschichten über Dresden und ein fremdes Land, bis wir Mühe hatten, vom Tisch bis zum Treppengeländer zu gelangen.
Am nächsten Tag fuhren wir mit den Fahrrädern durch die Reisfelder. In den Dörfern kamen Kinder an den Straßenrand gelaufen, riefen hello und streckten uns ihre Hände zum Abklatschen entgegen. Wie Rockstars ließen wir uns von den Kinder berühren und lachten dazu, weil es uns peinlich war, und weil wir uns freuten wie sie.
Später dann war alles wie sonst. Da gab es einen Streit am Tisch von Herrn Tuc und einen Grund, der mir bis heute nicht einfallen will. Ein halb gegessenes Thunfischsandwich, ein zu kurzes Kleid, zwei Tickets für den falschen Zug, eine Zigarette, ein abwesender Blick, ein zu schnell gesprochenes Wort, ein Gedankenspiel, eine Falte zwischen den Augen­brauen, er, ich, eintausend Gründe für eine Schlacht gegen einander und gegen alle, von denen wir abstammten.
Am Ende des Tages fuhr uns Herr Tuc zum Bahnhof und tat, als habe er nichts bemerkt. Zum Abschied schenkte er uns eine Flasche Reisschnaps und wir versprachen eine Postkarte aus Südwestdeutschland, die wir vielleicht sogar einmal geschrieben haben. Dann stiegen wir in den Nachtzug von Nord nach Süd, der den schönen Namen Wieder­vereinigungs­express trug.

Auf Reisen haben wir uns gerne zusammenfotografiert: Gemeinsamkeit aufgebaut zwischen wechselnden Kulissen und Selbstauslöser. Noch heute sieht man uns das Zählen der Pieptöne an und die Bemühung, unsere hastige Umarmung nicht nach Pose oder Testimonium aussehen zu lassen. Als wir zum ersten Mal verreist sind, war es Winter, Spanien, und wir seit kaum vier Wochen ein Paar. Es gibt keine gemeinsamen Bilder aus dieser Zeit, nur wenige Fotos von mir. Ich sehe verschwindend aus, auf einem Stein im Meer in seiner roten Fleecejacke. Heute schreibt er, wenn er an gute Zeiten denke, dann höchstens an Spanien. Vielleicht, weil ihn diese Bilder rühren, weil er sie mit Unschuld verbindet und sich nicht erinnern will, wie er mir damals schon seine Angst vorwarf; wie er in Schweigen verfiel und meiner Hand auswich, weil ich sie irgendwann wieder zurückziehen könnte.
Als etwas später die Bilder aus Rom kamen, standen wir schließlich zusammen da: Zwischen gekauften Trauzeugen und gegen alle Bedenken. Wir sehen nebeneinander gestellt aus, uns nicht gewachsen, und es wäre besser gewesen, wir hätten die Bilder aus dem Handgelenk geschossen. Im Vorbeifahren, auf einem Motorroller wie in Hue: Da sitze ich hinter ihm, den Kopf auf seiner Schulter. Mir steht die Hitze ins Gesicht geschrieben, von ihm ist nur ein Auge zu sehen. Hinter uns, hinter den grünen Streifen in unserem Rücken liegen die Kaisergräber: Khai Dinh in Stahlbeton, Minh Mang in strenger Symmetrie und Tu Duc in Gesellschaft seiner einhundertvier Gemahlinnen. Hue liegt am Fluss der Wohlgerüche.

Blütenpollen trieben auf dem Song Huong, und noch besser als der Fluss roch mein Mann. In einem kleinen Aluröhrchen trug er Parfüm bei sich, und wenn ich erschöpft war, oder wenn es im Zugabteil nach fremden Füßen roch, dann strich er erst mir und dann sich selbst einen Tropfen Parfüm unter die Nase. Auf dem Rückflug trug er den Mundschutz wie ein heruntergelassenes Visier und gefiel sich in seiner Haltung zwischen Albernheit und Provokation. Gekauft hat er das Ding in Hoi An, in der "Stadt der Geschäfte am Meer", der Hauptstadt der Souvenirs. Doch an jenem Nachmittag hingen die Schneider in einer Seitenstraße ihre Modellkleider ab, die Schuhverkäufer räumten ihre Schuhe in die Läden und die Andenkenhändler klappten ihre Auslagen ein. Wir standen am Straßenrand inmitten von Schaulustigen. Zwei Männer in grauen Lumpen gossen Wasser auf die Straße, eine Rikscha fuhr durchs Bild und dann ein Oldtimer. Mein Mann machte ein Foto. No Flash! schrie jemand durch ein Megaphon, und die Männer mussten ihre Bottiche wieder füllen, die Rikscha und der Oldtimer zurück auf Los. Als die Szene abgedreht war, verteilte sich die Menge und wir schoben uns an der Straße entlang. Vorbei am Oldtimer, in dem die wunderschöne Hauptdarstellerin saß und auf etwas wartete. Let me tell you how beautiful you are, sagte mein Mann durch das geöffnete Fenster. Da lächelte sie stumm, nickte, und ich zog ihn weiter, sprachlos vor Scham.

Das Schweigen ist uns nie leicht gefallen. Wir waren nicht gut in der stummen Enttäuschung, hatten kein Talent zum stillen Einvernehmen und nicht die Absicht, fürs Hier und Jetzt dem Pläneschmieden zu entsagen. Vielleicht waren wir deshalb so oft unterwegs. Weil jede Reise ein neuer Plan war, und weil jeder Plan auf Reisen schmerzloser aufgegeben werden konnte. Schließlich war es nur eine Reise. Schließlich war jede Reise vorübergehend. Und schließlich war es nur das Wetter, das Mui Ne die Farben raubte, und nicht wir.
Der Reiseführer (individualtouristisch und im Schwarz-Weiß-Druck) kannte Farben nur als Worte für Mui Ne: Gelber Fels, grünes Hinterland, rote Sanddünen, türkisfarbenes Meer. Da wollten wir hin. Es kostete achtzehn Stunden.

Wir verließen Hoi An im Bus einer Open-Tour. Die Fahrkarten gab es zum Spottpreis, und wir erinnerten uns daran, an den Pausenbistros gut zu essen und zu trinken – Bananen­pfannkuchen und Coca Cola, um den Busfahrer nicht seine Provision zu kosten. Während wir fuhren, lief Musik. Immer die gleiche Kassette, immer Modern Talking, und manchmal sang die Schwedin vor mir leise mit. Am Straßenrand lief ein Mann mit Kegelhut, der einen Ochsen zog. Ich dachte an ein Buch, das bereits eine solche Modern-Talking-Szene am Ende der Welt beschrieb und fühlte mich um die Eigenart des Moments betrogen.

Wir erreichten Mui Ne gegen Mittag und verschliefen den Rest des Tages. Am nächsten Morgen war das Wasser grau und vom Sonnenaufgang nichts zu sehen. Wir gingen zurück ins Bett und verschliefen auch die Hälfte des zweiten Tages. Am Nachmittag wehte ein warmer Wind über die noch immer grauen Wellen, aus denen Fischer nun ein Schleppnetz an den Strand zogen. Es dauerte fast eine Stunde, obwohl Frauen und Kinder und auch ein paar Touristen mit anpackten. Als wir den Fang sahen, waren wir enttäuscht: ein paar winzige silberne Fische, Seetang und eine wattfarbene Flunder von der Größe eines Badelatschenpaares.
Im Hafen von Mui Ne schaukelten Fischkutter, synchron und von identischem Bau. Nur die Steuerhäuser und die Masten unterschieden sich, ergaben (vom Hügel besehen) blau und grün, gelb und rot ein Mosaik. Wir fuhren weiter zum White Lake, in dem sich der Himmel schwarz spiegelte. Nur die Dünen um den See standen in Flammen. Eine Rinderherde zog am Wasser entlang, und drei Kinder erklärten uns für ein paar Dong den Weg zur Tankstelle. Auf unserem Rückweg warteten andere Kinder an der Straße und streckten uns ihre Hände entgegen: Where you want go? We know ways! Dann kam der Regen. Ich klebte auf dem Sozius und wurde festgesaugt am Rücken meines Mannes, der hinter seiner Brille blind durch den Monsun fuhr. Im Bungalow war der Strom ausgefallen. Wir tasteten uns frierend zur Dusche, und danach wäre ein guter Moment für Sex gewesen. Ich glaube nicht, dass wir es getan haben.

Ein Streit in Ninh Binh und achtundzwanzig Tage in Vietnam, deren Farben synchron neben einander schaukelten. Es gab keinen Höhepunkt unserer Reise, keinen Höhepunkt dieser Geschichte und unserer gemeinsamen Zeit. Ein paar Monate nach unserer Rückkehr war es schließlich vorbei, aus zahllosen Gründen, und vielleicht hätte es bereits hier enden sollen. In Vietnam, am Abend des siebenundzwanzigsten Tages, als wir Cocktails tranken in der Saigon-Saigon-Bar zwischen alleinstehenden Männern in mädchenhafter Begleitung. Ich überlege, ob ich damals verliebt aussah, wie seine europäische Geliebte, eine exotische Alternative in Vietnam, und ob ich es vielleicht hätte sein sollen: Seine Geliebte in Vietnam, eine schöne Erinnerung, die er hätte zurücklassen können.
Isabelle Lehn   15.01.2009    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht   

 

 
Isabelle Lehn
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