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Isabelle Lehn
Vor dem Verderben
In dieser Gegend, von allen Meeren weit entfernt, aß man lieber Bockwurst. Gabs an jeder Ecke, auch direkt gegenüber, und nur dort für siebzig Cent. Frau Biller sah hinaus auf die Straße, durch das Schaufenster, das sie seit Jahren mit Luftschlangen und Fischkonserven dekorierte. Die Luftschlangen tauschte sie regelmäßig aus, bevor die Punkte und Streifen auf dem Papier verblassten. Die Konserven aber waren haltbar.
Wenn Frau Biller sich bewegte, zwischen Heilbutt und Karpfen, Waage, Kasse, Wechselgeld, dann wogte ihr Körper wie ein Schiff auf See. Fünf-, sechsmal am Tag kam Kundschaft in den Laden, zehn-, zwölfmal läutete die Glocke über der Tür, und solange Frau Biller nichts hörte in der fischstummen, eisfeuchten Luft, saß sie auf ihrem Stuhl am Fenster. Regungslos, als wäre auch das Aufstehen nur ein Reflex wie der Schritt an die Theke und jedes Wort und jeder Handgriff, darauf folgend. Manchmal fiel Frau Biller die Geschichte von dem Hund und der Glocke ein; dann dachte sie an Speichelfluss und an die Kundschaft, die vor dem Laden die Straßenseite wechselte. Weil alles, was den Leuten noch im Kopf klingelte, Kleingeld war. Siebzig Cent.

Vor der Imbissbude standen Menschen an Tischen aus weißem Plastik. Frau Biller rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und zog eine Postkarte aus dem Kittel. Einmal, zweimal, dreimal las sie, was Frau Nitschke geschrieben hatte, bis ein Schatten auf die Schrift fiel. Ein Mann im schwarzen Anzug sah ins Fenster. Es war Herr Schacht von nebenan. Frau Biller steckte die Karte ein und stemmte sich aus dem Stuhl, sah, wie Herr Schacht nickte und lächelte und dann vorbei ging. Aber da stand Frau Biller bereits, also trat sie auch an die Glastheke heran. Und dann um die Theke herum. Bremer, Einszwanzig stand auf das Glas geschrieben. Blaue Buchstaben und blaue Zahlen, wasserlöslich, und Frau Biller beugte sich vor, rieb mit dem Kittelärmel über das Glas, bis die Zahl verschwunden und der blaue Ärmel noch etwas blauer war. Dann zog sie einen Stift aus dem Kittel, malte eine Null, ein Komma, eine Sieben und noch einmal eine Null, Bremer, Null Komma Siebzig Euro. Mit Cent würde es besser klingen, dachte Frau Biller, aber eigentlich hatte sie das gar nicht zu entscheiden, gar nichts zu entscheiden, was die Preise betraf. Doch dann saß sie bereits wieder auf ihrem Stuhl, sah sie bereits wieder auf die spiegelverkehrte Schrift und hinab auf die Fischfrikadellen, die mit jedem Moment etwas weniger frisch und ihrem Preis, nach und nach, immer gerechter wurden.

Auch damals hatte Frau Biller auf die Straße gesehen, durch das Schaufenster, in dem sich seit kurzem eine Wurstbude spiegelte. Plötzlich war Achim Nitschke durchs Bild gelaufen. Er trug braune Stoffhosen, eine für April etwas zu warme Jacke und steuerte mit großen Schritten auf den Imbissstand zu. Dabei ging er so aufrecht, dass Frau Biller ihn sofort bemerkte und fast nicht erkannte. Was macht der da? Sie stieß Frau Nitschke an, die damals noch neben ihr hinter der Theke stand. Und gemeinsam sahen sie zu, wie Herr Nitschke bestellte, wie er bezahlte und eine Wurst bekam, wie er die Wurst an einem der Stehtische aß und sich die Hände an einer Serviette abwischte, wie er die Serviette auf den Pappteller warf und den Pappteller zum Abfalleimer trug und wie bei all diesen Handgriffen eine Plastiktüte vom Discounter an seinem Handgelenk baumelte. Und wo ist der Hund? Frau Nitschke trat näher ans Schaufenster, und auch Frau Biller konnte sich nicht erinnern, Nitschke jemals ohne den Hund gesehen zu haben. Er rückte sich die Mütze auf dem Kopf zurecht. Wo will er denn jetzt hin? Ohne den Hund? Dann war er verschwunden. Vorerst aus ihrem Blickfeld, vorerst in Richtung Schumannstraße.

Vom Licht, das sich draußen nun länger hielt, drang am Abend nichts in den Laden. Die Jalousien vor dem Schaufenster und vor der Tür waren heruntergelassen, und am Klapptisch unter den Leuchtröhren aß Frau Biller, was übrig war: Fischbrötchen, Heringssalat und Krabbencocktail. Dillhappen, Seezunge, Zander und Dorsch. Nur im Laden durfte gegessen werden, und nur leicht Verderbliches kam auf den Klapptisch. Die Muschelsaison war vorüber, Räucheraal und Schillerlocken lagen haltbar in der Auslage, die Garnelen waren in Kräuteröl eingelegt und der Kabeljau nach Mittelmeerart gepökelt, und dennoch saß Frau Biller an den Abenden nun immer länger im Laden und aß. Am Morgen bereitete sie kleinere Portionen Heringssalat zu, sie gab weniger Krabben in geringere Mengen Cocktailsauße und belegte nur noch halb so viele Brötchen mit Frikadellen. Trotzdem kam es ihr so vor, als bliebe nach jedem Tag mehr und mehr zurück. Und als wüchse ihr Körper mit der Pflicht, alles noch Gute vor dem Verderben zu bewahren.

Seit sie allein im Laden war, wurde der Stuhl unter ihr immer schmaler. Frau Nitschke arbeitete jetzt bei Rossmann, zwei Häuser weiter, gleich neben Pietät Schacht. Als Nitschke nicht zurück­gekommen war, hatte seine Frau die Kinder an Fisch gewöhnen wollen. Tupperdosen- und plastikbeutelweise hatte sie Übriggebliebenes nach Hause geschleppt – und bald darauf zu Rossmann wechseln müssen. Bei Rossmann war länger geöffnet, dort verdiente Frau Nitschke etwas mehr, wobei das Mehrverdiente direkt an Frau Pöltniz ging, die jetzt bis zum Abend bei den Kindern blieb.
Schick sie doch zu mir, hatte Frau Biller gemeint, die die Jalousie kurz angehoben und die Nitschke-Kinder auf zwei Matjesfässern an den Tisch gesetzt hätte. Aber Frau Nitschke schickte die Kinder nicht. Womöglich, weil bei Rossmann nicht noch eine Stelle frei war. Oder vielleicht, weil sich die Kinder, fernab von allen Meeren, noch weniger an Fisch als an Frau Pöltnitz gewöhnen wollten.

Früher war Nitschke zu Hause gewesen. Er hatte den Kindern die Tür aufgemacht, sie an die Schreibtische und vor die Fernseher gesetzt, hatte Tee gekocht und Brote mit ihnen gegessen. Bis Frau Nitschke aus dem Laden kam und die Kinder ins Bett brachte und Nitschke noch eine Runde mit dem Hund drehte und ins Sachseneck ging und Frau Nitschke vor dem Fernseher einschlief und Nitschke schließlich zurück kam, um auch sie ins Bett zu bringen. Am Morgen war er früh wieder los, immer mit dem Hund, immer in den Wald und tief genug hinein, um nicht vor dem Mittag zurück zu finden.

Als die Polizei eine zweite Familie vermutete, musste Frau Nitschke laut lachen. Eine zweite Frau, zwei zweite Kinder, ein zweites Nitschke-Leben, identisch mit dem Ersten. Stell dir vor, sagte Frau Nitschke. Zweimal keine Arbeit, zweimal zu wenig von allem und zweimal die Schnauze voll davon. Frau Biller stellte es sich vor, und sie wusste, dass auch Frau Nitschke es sich vorstellte: eine Krankenschwester vielleicht, eine Nachtschwester, die der Nitschke am Vormittag zu Bett brachte, für deren Kinder er das Frühstück machte, Tee und Brote – eine Frau, der er am Mittag sagte, ich geh mal mit dem Hund, die er am Abend zur Arbeit verabschiedete, wenn er nicht im Sachseneck war und nicht mit dem Hund ging, während Frau Nitschke vor dem Fernseher einschlief – eine Frau, die dachte, der Nitschke gehörte zu ihrem Leben.
Und der Hund, sagte Frau Nitschke. Den Hund hatte er schließlich zurückgelassen. Und auch sonst hatte Nitschke nichts mitgenommen, nicht einmal Geld, weshalb Frau Nitschke mit dem Kopf schüttelte, als der Polizist einen Ausdruck von da-haben-wirs im Gesicht trug. Fünf Euro vielleicht, mehr hatte Nitschke nicht im Portemonnaie. Damit kommt der nicht weit, versprach Frau Biller, als sie Frau Nitschke im Arm hielt. Nicht viel weiter als zum Pleitegeier und zum Imbiss um eine Wurst.

Vielleicht machte Nitschke nur Ferien. Weil er doch Geld hatte, überlegte die Polizei, vom Kartenspielen im Sachseneck? So ein Quatsch, hatte Frau Nitschke gemeint, und dass der Nitschke keiner sei, der gewonnen hätte. Ob sie früher gemeinsam in Ferien gefahren seien. Wo es ihnen gut ergangen sei, zusammen. Was soll man da sagen, hatte Frau Nitschke gefragt und keine Antwort von Frau Biller erwartet, weil sie ja selbst bereits eine Antwort gegeben hatte: In Zingst waren sie einmal gewesen, an der Ostsee, in einem Heilbad, als sie noch jung und unversehrt waren. Also weißt du. Ferien. Zweite Frau. Und dann stellte sich Frau Biller eine Rettungsschwimmerin vor, in die sich der junge Nitschke verliebt hatte. Die ihn heute auf einer Bohrinsel vermutete, ihre Kinder von Fisch ernährte und die damals einer verletzten Möwe den Hals umgedreht hatte, als Nitschke, der Tourist, den Vogel aus der Schnauze des Hundes befreit und – in der Hoffnung auf Rettung – zu ihr gebracht hatte.

An einem Sonntag hatte Frau Biller einen Rucksack gepackt. Sie war mit Frau Nitschke in den Wald gefahren, den Hund hatten sie mitgenommen. Drei Stationen mit der Tram, und trotzdem atmete Frau Biller schwer, als sie den Waldrand erreichten. Sie zog einen Stadtplan aus dem Rucksack und tippte auf einen Zipfel des grünen Flecks, der sich über vier Planquadrate ausdehnte: Hier. Möckernscher Winkel, wilder Mann, Hasenholz, der Kanitzsch, der hintere Forst, las sie. Frau Nitschke zuckte dazu mit den Schultern und ließ den Hund von der Leine, der sich sofort ins Unterholz stürzte. Komm, Harry, komm, pfiff Frau Nitschke, und dann gingen sie ohne den Hund in den Wald hinein. An der ersten Weggabelung setzten sie sich auf einen umgeworfenen Stamm, Frau Biller packte zwei Fischbrötchen aus, sie sahen in die Baumkronen und schoben die Füße durchs Laub, bis der Hund zu ihnen zurück kam. Dann zog Frau Nitschke Frau Biller auf die Beine und den Hund an der Leine auf den Waldweg. Sie gingen nach links. – Bald waren Frau Nitschke und der Hund um die erste Biegung. Frau Biller konnte kaum Schritt halten und hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Das Rauschen wurde immer lauter, irgendwo bellte der Hund und ein Geruch von Sumpf und Zersetzung hing zwischen den Bäumen. Dann hatte Frau Biller sie endlich eingeholt, sie standen zu dritt am Ende des Weges und sahen auf die Faultürme des städtischen Klärwerks.

Zurück im Laden hatte sich Frau Biller auf ihren Stuhl gesetzt. Zurück ans Fenster, sich mit jedem Tag ein bisschen mehr an den Blick auf die Imbissbude gewöhnt und an die altbekannten Gesichter davor, unter denen sie längst nicht mehr nach Achim Nitschke Ausschau hielt. Nitschkes Frau war mit den Kindern an die See gefahren. Sie machten Ferien an einem Ort, der Fischland hieß: Tschüß Alltag, hallo Fischland stand auf der Postkarte, die sie geschickt hatte, über Möwen, Kuttern und tiefblauem Wasser, liebe Margot auf der Rückseite und ein paar Zeilen zu den Wellen, die sich immer am Ufer ausrichteten, zur Sonne, die oft genug schien und zu den Kindern, die den Hund im Sand eingruben.

Alle halbe Stunde zog Frau Biller die Karte aus ihrem Kittel. Sie las sie einmal, zweimal, sah sich die Wellen an und richtete in Gedanken den Strand danach aus. Dann steckte sie die Karte wieder ein, sah aus dem Fenster, auf den Fisch in der Auslage, auf die Tür, aus dem Fenster, auf die Postkarte, auf die Tür, bis sie irgendwann einfach aufstand, einfach so, einfach aufstand, die Karte auf die Theke legte und den Laden verließ.
Sie schloss nicht einmal ab. Beim Vietnamesen an der Ecke gab es durchsichtige Toilettensitze mit eingearbeiteten Dollarscheinen und Plastikschweine, die – in Zellophan verpackt – eine Flasche Schnaps auf dem Rücken trugen. Frau Biller erstand zwei Einkaufsnetze.
Wieder im Laden ging sie zum Schaufenster, beugte sich hinein und riss die Luftschlangen mit einem Ruck von der Decke. Sie angelte die Konserven heraus, Stück für Stück, stapelte sie im Regal und fegte den Staub aus der Auslage. Dann schnitt sie die Einkaufsnetze auf, trennte die Henkel ab, bis nur noch Netz und Maschen zurück blieben, holte Tesafilm aus dem Nebenraum, zog den Stuhl heran, klebte das Bild von Meer und Kuttern und Möwen ins Fenster und die Netze drumherum, rollte ächzend zwei leere Matjesfässer in den Laden, hob die Fässer in die Auslage, hörte das Rauschen des Meeres und nahm den blauen Stift, kniete sich auf den Stuhl, schmeckte Brackwasser im Mund, lehnte sich an das Glas, schrieb ein großes, spiegelverkehrtes B und links davon ein kleines r, hörte das Rauschen des Meeres, schrieb ein kleines e und kippte über die Reling.

Vom Wasser aus sah sie Achim Nitschke. Nitschke auf einem Turm, den Leuchtturmwärter von Fischland, der nachts sein Leuchtfeuer aufs Land richtete, auf seine Frau fernab von allen Meeren, auf seine Frau, die nichts ahnte von all den Schiffen, die an den Klippen von Fischland zerschellten.

Als Frau Biller wieder zu sich kam, tropfte Wasser aus ihren Haaren. Sie saß auf ihrem Stuhl und neben ihr stand Herr Schacht. Er hielt ein leeres Glas in der Hand und suchte mit der anderen Frau Billers Puls. Der Arzt ist gleich da. Frau Biller zeigte auf die Schrift im Fenster und auf den Stift in der Auslage. Dann malte Herr Schacht ein m ein e und ein r dazu und dann – Für wieviel? – eine Null, ein Komma, eine Sieben, eine Null und ein Eurozeichen. Mit Cent hätte es besser geklungen, dachte Frau Biller, sagte nichts und zuckte nur kurz zusammen, als über der Tür die Glocke läutete. Herr Schacht begrüßte den Arzt und verabschiedete sich.

Am nächsten Morgen saß Frau Biller auf ihrem Stuhl am Fenster. Sie las in der Zeitung, die Herr Schacht im Laden liegen gelassen hatte. Dass ein deutscher Junge bestraft worden sei, weil er Moslems Würstchen spendiert hatte. Dass der Euro kein Teuro und die Arbeitslosenzahl gesunken sei, dass zwei Österreicher in Tunesien entführt worden waren. Und dass ein Jäger einen Mann gefunden hatte. Auf einem Hochsitz im Wald, nach einem Freitod durch Verhungern und neben einem Tagebuch, verpackt in einer Plastiktüte. Der Stuhl unter Frau Biller schien kurz nachzugeben, und dann sah sie hinaus aus dem Fenster, durch die Netze, in denen sich altbekannte Gesichter, kleine Plastiktische und eine Imbissbude verfangen hatten. Nur Achim Nitschke war rechtzeitig entkommen. An die See, in einen Leuchtturm, auf eine Bohrinsel. Wohin auch immer. Frau Biller hoffte, es nie zu erfahren.
Isabelle Lehn   15.01.2009    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht   

 

 
Isabelle Lehn
Prosa