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Jan Fischer
Pacific Ocean Blues

„Yeah yeah yeah yeah
Water yeah water yeah water yeah“

Dennis Wilson – Pacific Ocean Blues


Schon auf dem Schiff schimmerte das Metall in den Zähnen des Vogelmädchens. Pacific Ocean Blues bemerkte es nie. Das Metall war dem Vogelmädchen hinters Zahnfleisch geschoben zur Verstärkung ihrer hohlen Vogelknochen. Ihre Augen standen schief. Ich hatte die ¾ -Gitarre sicher unter Deck gebracht. Was sie trug war rosa und glänzte von kleinen Glitzersteinen. Meine Eltern stellten mich ihren Eltern vor und stellten mich ihr vor. Ich schüttelte ihre Hand, und sie sah mich mit ihren schiefen Augen an. Ihre rosa Glitzermütze flatterte im Seewind. Sie hatte Reiher­beine und weiße Haut aus weichem Plastilin.
So, sagte ich.
So, sagte sie.
Wir fahren zur Insel, sagte ich.
Hier gibt es nur Inseln, sagte sie.
Wie in Japan, sagte ich.
Hokkaido, sagte sie.

Tagsüber gingen wir am Strand entlang zurück zum Hafen und schauten mit Sand zwischen den Zähnen den Schiffen beim Ablegen zu. Unser Schiff lag nicht mehr am Dock. Andere Schiffe waren ange­kommen.
Das fährt zu einer anderen Insel, sagte das Vogelmädchen.
Das andere auch, sagte ich.
Das dritte nirgendwohin, sagte das Vogelmädchen.
Das Schiff nach Hokkaido verpassten wir immer nur knapp. Mädchen mit Flip-Flop-Lächeln liefen auf Roll­schuhen über den Asphalt. Sie hatten pinkblaue Augen und schauten dem Vogelmädchen ins schiefe Gesicht.
Wie am Strand von California, sagte das Vogelmädchen.
Malibu, sagte ich.
Miami, sagte das Vogelmädchen.
Beverly Hills, sagte ich.

Nachts schlichen wir erst ins Grüne und von da aus an den Strand, und auf dem Weg dorthin stakste das Vogel­mädchen durch den Misch­sand und scheuchte Fisch­reiher aus brackigen Tümpeln auf. Sie trug keinen BH und die rosa Glitzermütze tief im Gesicht.
Krah, krah, sagte ich,
ieek, ieek, sagte das Vogelmädchen.
Wir vergruben unsere Füße im Sand und das Handy um meinen Hals spielte Weißnasenblues. Wir vergruben uns im Sand und die Höhen schepperten von meiner Brust zum Meer.
Malibu, sagte ich.
Beverly Hills, sagte das Vogelmädchen.
Wir beide wohnten in einem Haus, das ganz aus Glas war und ein kleines Stück weit von L.A. Richtung Pazifik gebaut. Vom Haus blickten wir in Richtung Japan. Wenn die Tage klar waren, konnten wir die Leuchtfeuer von Hokkaido sehen. Wir rollten uns ein in unsere Schlafsäcke die innen voll waren mit Sand und rochen den Rauch. Wir schliefen ein, als wir uns an das Kratzen der Sandkörner gewöhnt hatten.
Morgens trafen sich unsere Eltern zum Frühstück vor den Bauernhäusern. Sie hatten nebeneinander gemietet. Den Strandsand hatten wir überall verteilt. Wir aßen Miso-Suppe mit Sanddornmarmelade und zum Nachtisch California-Wraps. Die Eltern fragten uns nach unserem Tag. Das Vogelmädchen stupste mich mit ihrer rosa Glitzersocke an.
Heute gehen wir surfen, sagte ich.
Und dann gehen wir ins Kino, sagte das Vogelmädchen.
In den Film, in dem du mitspielst, sagte ich.
Ich küsse in dem Film den blonden Surferboy, den jeder kennt, sagte das Vogelmädchen.
Ich lachte. Meine Eltern nahmen mich beiseite und sagten, ein gebrochener Kiefer sei nicht lustig.

Nachts gingen wir durchs Grüne an den Strand und betrachteten die Lichter von Hokkaido. Das Metall hinter den Zähnen des Vogelmädchens schimmerte. Unser Haus aus Glas bestand nur aus Höhen.
Ein Leuchtturm, sagte das Vogelmädchen.
Tokio, sagte ich.
Saporro, sagte das Vogelmädchen.
Wir entwarfen die Orte auf der Landkarte aus dem Blauen heraus.
Niemand weiß, wie es in Japan aussieht, sagte das Vogelmädchen.
Niemand weiß, wie es in California aussieht, sagte ich.
Wir beide schon, wir haben da ein Haus, sagte das Vogelmädchen. Wir dachten, dass California eine Insel sei wie diese hier, nur dass der Sand dort nicht im Schlafsack kratzt, und die Sonne früher oder später aufgeht, so dass man nicht müde sein muss, wenn man den Sonnenaufgang sieht.

Bei Sonnenaufgang gingen wir mit Augenringen vom Glashaus zurück in die Bauernhäuser unserer Eltern, jeder in seines. Zum Abschied umarmten wir uns und ich zählte die Sekunden. Ich schlich um unser Haus herum und dann um ihres und schaute von hinten rein in ihr Fenster. Sie streifte ihren rosa Glitzerrock ab und ihr Top und trug keinen BH. Sie zog den Vorhang zu und lächelte mich an, dann sah ich nur noch ihren Schatten.

Morgens zog ich die Vorhänge zu. Ich lag im Bett und konnte nicht schlafen. Das Gebälk des Bauern­hauses knarrte. Das Vogel­mädchen zwitscherte nicht, oder nur sehr leise. Manchmal blitzten ihre Zähne auf vom grünen Licht der Wecker­zahlen. Das Gebälk knarrte. Die grünen Wecker­zahlen hatten irgendwann das ganze Licht verbraucht, das sie den Tag über absorbiert hatten.

Nachmittags schlichen wir uns an den Rand des Nackt­bade­strands und ich hatte Ringe unter den Augen und das Vogel­mädchen hatte einen Feld­stecher dabei. Sie hatte ihn von ihrem Ornithologenvater ausgeliehen. Wir schlichen durchs Grüne über keinen Weg in Richtung hohes Schilf.
Penis und Vagina, sagte ich.
Schwanz und Fotze, sagte das Vogel­mädchen.
Wir lagen im hohen Schilf und als uns langweilig wurde, legten wir uns erst auf den Rücken und sahen durch den Feldstecher die Wolken. Dann küsste das Vogel­mädchen meine Wange und ich zählte die Sekunden.

Nachts schlichen wir ins Grüne und von da aus an den Strand und wenn am Strand keine Batterie mehr da war für den Weißnasenblues, zupfte ich dem Vogel­mädchen ein Lied zurecht. Die Gitarre hatte ich von meinem Musiker­vater geliehen.
Gute Lieder, sagte das Vogel­mädchen.
Amerikanische Lieder, sagte ich.
Handeln von Bergen, sagte das Vogel­mädchen.
Hinter den Bergen liegt immer California, sagte ich.
Wegen all der Landschaften fühlten wir uns eingesperrt auf der Insel und ich spielte ein Lied ohne Land­schaften.
Das ist mies, sagte das Vogelmädchen.
Nein, sagte ich.
Doch, sagte das Vogelmädchen.
Das Vogelmädchen schmiss die ¾-Gitarre ins Meer. Sie versank und wanderte am Meeres­boden die ganze Strecke nach Hokkaido, wo ein japanisches Kind sie aus dem Wasser fischte und ein Popstar wurde und nach California zog, direkt in unsere Nach­barschaft. Er hatte ein Haus ganz aus Stein. Meinem Vater konnte ich seine Gitarre nicht wieder­bringen.

Morgens lagen wir in unserem Haus aus Glas in California und ein japanischer Popstar schmiss einen Fisch gegen die Wand. Die Scheibe sprang nicht. Der Fisch schlierte daran herunter und hinter­ließ einen langen Fleck.
Ein Hai greift uns an, sagte das Vogelmädchen.
Ein Rochen, sagte ich.
Ein Killerdelphin, sagte das Vogel­mädchen.
Ich wischte den Fleck weg. Den toten Fisch brachte ich mit. Wir wickelten ihn in Seetang und kochten Reis mit Essig und tunk­ten es in Sojasoße mit Meerrettich und Thousand-Island-Dressing aus der Tube.

Tagsüber trafen wir uns an der Mauer, die so verwittert war, dass oben drauf schon hohe Gräser wuchsen. Das Vogelmädchen trug einen kurzen rosa Glitzer­rock. Die weißen Reiherbeine hatte sie gekreuzt und lehnte an der Mauer. Sie umarmte mich zur Begrüßung und ich zählte die Sekunden. In ihrem Magen grummelte es.
Hinter der Mauer ist ein Gutshof, sagte ich.
Ein Friedhof, sagte das Vogel­mädchen.
Einer für Filmstars, sagte ich.
Vielleicht auf Honshu, sagte das Vogelmädchen.
Danach gingen wir am Leuchtturm vorbei ins Vo­gel­schutz­ge#-biet.

Abends stellte sich der japanische Popstar aus der Nach­barschaft vor und zeigte mir seine ¾-Gitarre. Vögel waren uns vom Vogel­schutz­gebiet gefolgt. Die Gitarre hatte Seepocken, und auf dem Holz waren Vogel­krallen­spuren. Wenn der Popstar sie stimmen wollte, legte er sie eine Stunde lang ins Wasser.
Ich bin Halbjapaner, sagte er.
Ich auch, sagte das Vogel­mädchen.
Sein Name war Pacific Ocean Blues. Sein Haus aus Stein war fast ganz aus Bässen gebaut. Seine Augen wummerten. Das Vogel­mädchen hatte eine rosa Glitzer­sonnen­brille auf und den Mund geschlos­sen. Ich ver­langte meine Gitarre zurück. Pacific Ocean Blues lachte, und ich warf ihm das Sashimi von gestern in den Mund.

Nachts ging ich nach Hause. Ich stakste durch den Mischsand Richtung Vogel­schutz­gebiet, und verlief mich zwischen dem Gezwitscher. Das Vogel­mädchen zwitscherte auch. Ich erkannte es am Blitzen hinter ihren Zähnen. Als ich das Bauern­haus wiederfand, war es spät, auch für alle Vögel. Alle Eltern wollten wissen, wo ich gewesen war. Ich sagte: Nicht California.

Morgens war das Durcheinander heillos. Die Eltern des Vogel­mäd­chens be­merk­ten, dass sie nicht nach Hause gekommen war von California. Ich sagte, ich hätte sie gesehen, sie sei an mir vorbei geflogen. Wo sie ange­kommen sei, wisse ich nicht, könne es mir aber denken. Alle Eltern wussten nicht, was sie tun sollten. Ich sagte, das Vogel­mädchen sei davon geflogen, Richtung Westen, von California nach Hokkaido. Sie fanden sie schließlich am Strand.
In dem Haus allein hatte ich Angst, sagte das Vogelmädchen.
Und Pacific Ocean Blues?, sagte ich.
Das Vogelmädchen sagte nichts, sondern bekam Fieber. Sie hatte Zug be­kom­men.

Tagsüber packten alle ihre Sachen. Das Metall hinter den Zähnen des Vogel­mädchens glühte rot. Sie zitterte vor Kälte, weil ihr heiß war.
Wir müssen das Haus aufgeben, sagte ich.
Wir sollten sowieso umziehen, sagte das Vogelmädchen.
Das Vogelmädchen zog ihre rosa Glitzermütze auf. Ich schrieb ihr heimlich noch (3>_<3) auf einen Zettel als Weg­zehrung und steckte ihn in ihren Rucksack. Sie wäre sonst vom Fleisch gefallen. Im Gebälk des Bauern­hauses knarrte es.

Abends gingen wir zum Hafen und mit Salzwasser zwischen den Zähnen sah ich zu, wie das Vogelmädchen ein Boot nahm. Sie fuhr Richtung Japan. Ich schaute ihr noch eine zeitlang nach. Dann nahmen wir ein Schiff. Die ¾-Gitarre hatte ich sicher unter Deck gebracht.


Für L. Die Zeit danach, und die davor.

Jan Fischer    2013    

 

 
Jan Fischer
Prosa