poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Jan Fischer
Unter den Türmen hinter der Stadt

Manchmal hält der Aufzug zwischen den Stockwerken, dann muss ich an Romy denken. An den Gang im fünften Stock, wo sie zwischen den Kunden ihre Zigaretten rauchte. An den rosa Bademantel, den ihre Kunden nie zu sehen bekamen. An das Stückchen schwarze Spitze, das manchmal darunter hervor­schaute, und das ich nie ganz zu sehen bekam. Wenn Romy keine Kunden hatte, rauchte sie, und man kämpfte sich in ihrem Gang durch Qualm, meistens mittwochs und am Monatsende.

Der Aufzug ächzt, wenn er anhält, ein langgezogenes Ächzen, fast eine Stimme, ein bisschen klingt es, als beklage die Ruine sich. Ich habe Ruinen schon immer geliebt, das hatte ich mit Romy gemeinsam. Das hier, sagte sie, als ich sie einmal im Flur traf, eingewickelt in diesen schäbigen rosa Bade­mantel, das hier, sagte sie, das Haus, die Ruine, alles, was hier von den Wänden ab­bröckelt, das ist, als hätte jemand mal gesagt, dass alles irgend­wann besser wird. Aber was danach passiert, davon hat niemand gesprochen. Es gibt hier nur noch Geheim­nisse, die in Wänden rascheln und vielleicht doch nur Ratten sind, oder Mäuse. Wenn der Aufzug anhält, muss ich nur auf den Knopf drücken, ich muss nur auf die Stimme am anderen Ende der Notrufleitung warten. Manchmal fährt der Aufzug nach ein paar Minuten einfach weiter.

Ich habe Romy kennengelernt, weil ich den Aufzug nicht oft nehme. Ich habe nichts dagegen, dass ich manchmal feststecke, dass ich darauf warten muss, bis die Ruine oder der Notrufdienst mich befreien. Es ist nicht so, dass ich etwas Besseres zu tun hätte. Ich nehme den Aufzug oft nicht, weil ich lieber die Ruine durch­streife, die Keller, wo ich auf das Rascheln in den Wänden höre, ich schaue mir die Spiegelung der Betondecke in den Pfützen an, ich versuche mir vorzu­stellen, wie die Laden­zeilen aussahen, bevor die Schaufenster zugenagelt waren, ich gehe durch die Treppenhäuser, wo die Türen und die Fenster verrammelt sind und die Neonröhren Schatten an die Wände flackern.

Ich habe oft Zeit, die Treppe nach oben zu nehmen: Manchmal sage ich anderen Leuten am Telefon, ich sei beschäftigt, aber in Wirk­lichkeit gehe ich fast jeden Tag die zehn Stockwerke zu Fuß, manchmal öfter als einmal, und beobachte die Ruine dabei, wie sie zerfällt. In der Mitte lernte ich Romy kennen. Romy hieß nicht wirklich Romy, ihren richtigen Namen sagte sie mir nie, sie meinte, Romy passe zu ihr. Wer im schmut­zigen rosa Bade­mantel rauchen kann, sagte sie, und dabei trotzdem noch gut aussieht, hat den Namen verdient. Sie lehnte an der Wand, als ich sie kennenlernte, sie bot mir eine Ziga­rette an: Ich rauche nicht, nach wie vor nicht, aber ich sagte, ich könne ihr beim Rauchen zusehen. Ich hatte nichts Besseres zu tun.

Ich gehe heute noch manchmal an der Tür vorbei, hinter der Romy arbeitete, auf halbem Weg zwischen Dach und Keller, durch den Flur, der zweifarbig gestrichen ist: oben dunkelrot und unten grau, und beide Farben blättern ab.

Ich suche Romy nicht mehr, sie ist eine von den Geschichten aus den Zeitungen geworden: Geschichten von Menschen, die aus unserer Ruine nicht mehr wieder­kamen. In den Zeitungen nennen sie die Ruine ein Objekt. Ein sanie­rungs­bedürf­tiges Objekt. Als sei die Ruine leblos, nur totes Gemäuer, als könne man alles mit ein bisschen Geld verspachteln, ihr den Unfug damit austreiben. Sie hat sich jahrelang dagegen gewehrt.

Ich hätte, daran denke ich, wenn der Aufzug feststeckt, nicht gehen sollen, ich hätte nicht weg­laufen dürfen. Aber vielleicht wäre ich dann jetzt auch ver­schwun­den, und ich kenne niemanden, der mich suchen würde, so, wie ich Romy gesucht habe. Es ist leicht, mutig zu sein, oben, in meiner Wohnung, wenn die Türen abge­schlossen sind, wenn die Musik läuft, und die Stadt von unten mein Wohn­zimmer beleuchtet. Wenn ich die Lampen ein- und aus­schalten kann, wie ich will. Selbst im Aufzug ist es leicht, mutig zu ein, ver­gleichs­weise. Es ist leicht, wenn es nicht dunkel ist, und nicht nach diesem Sumpf riecht, wenn sich nicht hinter jeder Ecke etwas bewegt.

Früher kam Romy abends vorbei, nach der Arbeit, und wir tranken Wein oder Bier oder was eben da war, und starrten aus dem Fenster Richtung Horizont, wir hörten Musik, die Romy mitbrachte: Musik, in denen die Trompeten und Saxophone im Rhythmus der Lichter unter uns flackerten, und Romy stand da und rauchte, und wenn sie weg war, musste ich lüften. Romy blieb nie über Nacht. Ich erinnere mich an ihre Silhouette, die vor dem Fenster steht, die Stadt tief unter ihr: Ich wohne im zehnten Stock, die Bäume und die ganzen anderen Hochhäuser liegen unter mir, lagen unter uns: Es gibt in dieser Stadt nichts, das höher ist als der Turm auf der Halbinsel, man sieht zumindest nichts davon aus dem Fenster.

Romy redete nicht über ihre Arbeit, sie mochte es nicht, sagte sie, sie mit in den Feier­abend zu nehmen. Ich ging nie zu ihr, ich hätte es mir nicht leisten können. Ich konnte ihr Wein kaufen, und Bier, ich konnte ihr mein Fenster anbieten, den Ausblick, und hin und wieder ein unter­kühltes Trom­peten­solo. Romy wohnte schon länger in der Ruine als ich, nicht viel länger, ein zwei Jahre, aber aus ihrem Fenster sah man nicht so viel wie aus meinem. Hätten wir uns umgedreht, und hätte es dort ein Fenster gegeben, oder hätten wir am Badfenster gestanden, zu zweit, dicht­gedrängt, hätten wir statt der Stadt die anderen Türme sehen können: Unsere Ruine besteht aus Türmen und Winkeln, und Wohnungs­blöcken, die vom Himmel dazwischen gefallen sind.

Romys Streifzüge waren länger als meine, ich gehe immer nur von unten nach oben, Romy ging die Türme in immer weiteren Kreisen ab, soweit das Labyrinth es zuließ: ausgedehnte Wande­rungen zu den Türmen, die ich immer nur im Bad sehe, morgens, hinter mir im Spiegel, oder abends, wenn ich mir die Zähne putze: Die Türme liegen spiegelverkehrt hinten im Dunst, der immer über unserer Stadt hängt.

Unter einem der Türme, sagte Romy, dem am anderen Ende unserer Halbinsel, sei in Schwimmbad, einmal sei sie dort gewesen, nach der Arbeit, als der letzte Kunde ver­schwunden war, und sie noch warten musste, bis der Geruch aus ihrer Wohnung ver­schwunden war: Für Romy gab es einen Arbeits­geruch und einen Schlafgeruch, bei dem einen konnte sie nicht schlafen, und bei dem anderen nicht arbeiten.

Sie sei, erzählte sie, durch einen der Keller gegangen, mit ihrer Taschenlampe in der Hand und dem Pfefferspray in der anderen: Es ist nur manchmal die Ruine, die die Menschen nicht mehr gehen lässt. Sie sei eine Stunde durch die Keller gegangen, sagte Romy, nur sie und ihre Taschen­lampe, und die Ratten in den Wänden: Das ist das Einzige, was man dort unten hört.

Manchmal, sagte Romy, sei sie in Räume gekommen, in denen jemand irgendwann einmal vergessen hatte, die Neonröhren auszuschalten: Sie surrten dort schon jahrelang und beleuchteten den Staub, in dem es keine Fußspuren gab, sie war so tief, so weit eingedrungen ins Labyrinth, dass es noch nicht einmal mehr Müll gab: Niemand war hergekommen und hatte etwas abgestellt. Müll gab es nur in der Randzone, an den Eingängen. Romy wusste nicht mehr, wo und wie oft sie abgebogen war, sie merkte sich ihre Wege nicht. Ich selbst habe das Schwimmbad nie gefunden, obwohl ich gesucht habe, als ich Romy nicht mehr wiederfand, als ich selbst den Baum sehen wollte, den sie dort gefunden hatte.

Das Schwimmbad, sagte Romy, hätte sich nicht angekündigt: Es hätte keine Rohre gegeben, keine Leitungen, Heizungen, keinen Chlor­geruch, nichts davon: Sie öffnete eine Tür und stand im Kinderparadies, Clowns waren an die Wände gemalt und grinsten sie an, und die Fliesen bröckelten von den Wänden, Plastik­palmen ließen ihre Wedel hängen, weiter hinten war ein großes Sport­becken, und nirgends gab es Wasser, die Fugen zwischen den Beckenfliesen hatten keine Algen angesetzt. Romy glaubte, das Schwimmbad hätte nie Wasser gesehen, es sei nie jemand hier geschwom­men. Sie sagte, sie hätte vier Becken gezählt, einen Sprung­turm und zwei Rutschen, und in der Mitte stand ein riesiger Plastikbaum, um den sich die Rutschen runter in die leeren Becken wanden: Mindestens zwei Stockwerke hoch, sagte sie, aber ihre Taschenlampe reichte nicht weit genug nach oben, der Lichtstrahl verlor sich auf halbem Weg.

Ich kenne die Keller: Man sieht dort immer jemanden: die Schatten rostiger Metallträger oder irgendwelcher Rohre, die nirgends mehr hin­führen, in den vorderen Kellerteilen Kinderwägen und Fahrräder, die in dunklen Ecken ver­rotten. Das, und die Geräusche der Tiere in den Wänden, das viel zu kleine Licht der Taschenlampe: Aus solchen Teilen setzen sich die Menschen zusammen, denen man hier begegnet: Spuren, Schatten, Poltern, Rohre.

Die Sache ist die: Ich muss mich entscheiden. Ich muss mich entscheiden, ob es ein Mensch war, der Romy mitge­nommen hat, ob sie es selbst war, oder etwas anderes. Ich muss mich entscheiden, ob der Aufzug immer anhält, weil er kaputt ist, oder weil er anhalten will.

Romy kam wieder aus dem Schwimmbad heraus, natürlich. Die Ruinenkeller haben genauso viele Eingänge wie Ausgänge. Letzt­endlich passierte nichts, außer dass Romy am Rand ihrer Wahr­nehmung ein Schatten gefolgt war, ein Schauer auf dem Rücken, über den wir lachten, als wir bei mir saßen und auf die Lichter unten in der Stadt schauten, als wir Wein tranken und Musik hörten. Wir saßen in einer sicheren Höhle, und das beruhigte uns, vielleicht ein wenig zu sehr, glaube ich heute.

Damals glaube ich, dass das, was Romy im Schwimmbad gesehen hatte, nur sie war, ihre Angst, der Schrott, die Rohre, das schmale Licht. Hätten wir etwas anderes geglaubt, wären wir nicht noch tiefer gestiegen, wir hätten niemals die oberen Keller­räume verlassen, wir wären niemals über den Ring aus Müll heraus­gegangen, der anzeigte, dass irgendwann einmal ein Mensch dort gewesen sein musste. Wir hätten niemals eine rostige Metalltür nach der anderen geöffnet, wären niemals eine Treppe nach der anderen hinuntergestiegen. Wir glaubten damals, glaube ich heute, viel zu wenig.

Der Plan, den wir hatten, unsere Idee, unsere Unternehmung: Wären wir unten gewesen, wir hätten es bleiben lassen. Aber wir saßen hoch über allem, in meinem Wohnzimmer, in den alten Sesseln, die ich schon mein halbes Leben lang von Wohnung zu Wohnung schleppe. Wir hörten Musik, deren unter­kühlte Trompeten­soli uns beruhigten, wir tranken Wein, der uns alles egal sein ließ, und Romy hatte die erste Blüte Gras dabei, die ich seit Jahren gesehen hatte: Sie sagte, es sei, um ihren Kopf auszulüften. Wir rauchten es, und Vieles erschien uns wie eine gute Idee: Nichts zu sagen, auf dem Teppich zu liegen, die Blechbläsersoli zu hören, als wären es unsere Körper, die sie ausatmeten.

Ich will nicht alles auf den einen Abend schieben, oder auf die Schutz­atmosphäre, die wir uns schufen. Ich schiebe es auch auf uns: Ich habe Ruinen, ich habe unsere Ruine, immer geliebt. Des­wegen war ich derjenige, zu dem Romy abends immer kam, derjenige, dem sie von ihren Ausflügen erzählte. Romy sah die Ruine anders als ich: Ich sah ihr immer nur dabei zu, wie sie verfiel, Romy sah in dem abblätternden Putz einen Traum, der sich schon längst erfüllt hatte, und baute sich aus den Resten dieser alten Träume, aus dem, was übrig war, ihren eigenen: Romy sah etwas Neues, während ich nur sah, wie das Alte sich auflöste.

Es war Romy, die vorschlug, noch einmal nach unten zu gehen. Nicht ins Schwimm­bad, das kannte sie schon, tiefer runter, so tief, bis es keine Treppen mehr gäbe, die wir hinunter­steigen könnten: Sie wollte bis zur Wand hinter der letzten Tür gehen, nur um zu sehen, wo das sein könnte, und was es dort für sie, für uns, zu sehen gäbe. Das letzte Geheimnis der Ruine erkunden, so sagte sie es.

Ich kannte die Keller, ich kannte die tiefen Punkte, und wusste, wie tief sie waren, und dass es dort zwischen den Orten, wo Türme und Wohnungs­blöcke Wurzeln schlugen, immer noch eine Treppe gab. Romy wusste, wie weit­läufig es dort unten war, wie weit man unten in den Gängen geradeaus gehen konnte, soweit, glaubte sie, dass man unsere Halb­insel mit den Türmen verließ, dass man irgendwo anders unter der Stadt war, vielleicht unter dem Fluss. Ich weiß noch, wie wir Sachen packten, Taschenlampen, Ersatz­batterien, Pfeffer­spray, Obst, einen Erste-Hilfe-Kasten, und kein bisschen über unsere eigene Vorsicht lachten. Wir brauchten das alles nicht, bis auf die Taschenlampen, und wären ohne vielleicht besser dran gewesen.

Es war schwül, die Luft bewegte sich nicht, Gewitter­tierchen klatschten an mein Fenster, wir schwitz­ten, während hinten, hinter der Stadt, hinten im Dunst, die ersten Blitze leuchteten.

Wir liefen die Treppen hinunter und gingen kaum geradeaus, immer nur die paar Meter bis zur nächsten rostigen Tür, wo die nächste Treppe in eine neue Dunkel­heit führte, wo es immer kühler wurde. Als ich wieder heraus­kam, roch es nach Regen, und die Straßen waren nass, und später hörte ich von Bäumen, die ent­wurzelt worden waren. Wir bekamen unten nichts davon mit. In den Kellern ist es anders dunkel als die Nacht draußen: Draußen gibt es immer Lichter, es gibt immer Sterne, einen Mond. Es gibt immer etwas, das einen daran hindert, nichts zu sehen. Ohne Taschen­lampen sind die Keller so dunkel, dass es keine Wände gibt. Es gibt nur schwarz, und die Geräusche hören auf. Je tiefer man kommt, desto ruhiger ist es. Dort unten ist es so still, dass jedes kleine Geräusch sich auf­faltet, sich über­einander­schichtet, so lange, bis es alles sein könnte, und von überall herkommen könnte. Ganz am Ende, als selbst das vorbei war, gab es nichts als uns. Unsere Schritte, unser Atmen, das Rauschen unseres eigenen Blutes in den Ohren. Wir gingen nach unten, wir schwenk­ten das Licht unserer Taschen­lampen hin und her, wir suchten nach der nächsten Tür: Wir kamen in leere Räume, grauer Beton, wo es noch nicht einmal Staub gab, nicht einmal eine kaputte Lampe an der Decke, keine Rohre, nichts von den Eingeweiden der Ruine, wie wir sie kannten. Wir flüsterten, obwohl es dafür keinen Grund gab, außer dem Echo.

Ich habe, als ich wieder oben war, nachgeschaut, habe gesucht, was wir da gefunden hatten: Das Schwimm­bad gibt es nicht, nirgends, die Zeitungen berichten nicht davon, und auf die Baupläne ver­lasse ich mich sowie­so nicht mehr. Es sollte nicht da sein, irgend­jemand hat es irgendwann gebaut, und kein Wasser in die Becken gelassen: Irgend­jemand hat es irgend­wann vergessen, als wäre es nie da gewesen.

Was wir zuerst fanden, gibt es, die Zeitungen nennen es Geisterstation: Eine Erweiterung der U-Bahn, eine Station, die nie ans Netz ange­schlossen worden war. Ich weiß nicht, warum sie es Geister­station nennen, Geister, dachte ich immer, seien die Reste der Lebenden, das, was übrig bleibt. Es gibt keine Schienen, keine Werbe­plakate, keine Menschen und keine Spuren von Menschen. Es gibt keine Reste, weil nie etwas dort gewesen ist, was Reste hätte hinter­lassen können. Es ist nicht, als hätte jemand die Station gebaut, eher, als sei sie einfach da gewesen, als gehöre sie zur Ruine, als sei sie ein Teil des Wurzel­werks, als sei die Ruine einfach daraus erwachsen. Unsere Schritte hallten, als wir daran vorbeigingen, dort, wo eigentlich die Schienen hätten liegen sollen. Wir schauten uns um, nach hinten in den Tunnel und nach vorne, als käme viel­leicht doch noch irgend­wann ein Zug. Wir erkundeten die Station nicht, ich erinnere mich, dass Romy ihr Pfeffer­spray in die Hand nahm, viel­leicht, weil sie glaubte, sie bräuchte eine Waffe. Wir gingen an der Station vorbei, wir probierten Türen an den Tunnel­wänden aus, es waren Notausgänge, die wir nicht nehmen wollten, weil die Treppen dahinter alle nach oben führten, wir gingen immer tiefer in den Tunnel. Heute glaube ich, es ging bergab, wir bemerkten die Neigung nicht.

Was mich heute erstaunt, ist nicht, dass irgendjemand diese Ruine tatsächlich einmal gebaut hat, geplant, dass jemand sie für eine gute Idee hielt: Ich verstehe jetzt, was Romy damit meinte, wenn sie sagte, dass sie ein Ver­sprechen sei, dass sich schön längst erfüllt habe. Was mich erstaunt ist, dass es noch da ist, dass es danach einfach stehen blieb.

Wir konnten es riechen, bevor wir es sahen: Der Tunnel führte bergab, und was wir fanden, war tatsächlich die letzte Wand der Ruine, das Ende der Keller. Es roch modrig, dieser dunkle, grüne Geruch von feuchten Wäldern, wo alles ständig verrottet und aus dem, was übrig bleibt, wieder etwas Neues wächst, das wieder verrottet. Hinter dem letzten Stück Tunnel sahen wir die Wurzeln der Ruine, riesige, braune Stämme, auf denen Flechten wuchsen, von denen Wasser tropfte, sich unten in Lachen sammelte, aus denen andere Stämme nach oben wuchsen und sich um die Wurzeln wanden, in sie hinein­wuchsen: Wir sahen dort unten einen Wald aus Wurzel­werk, in dem es keine Blätter gab, wir sahen Seen, in denen Schlamm auf dem Wasser stand. Sie rochen nach etwas Lebendigem, das gerade stirbt, nach Maden, die sich durch Fleisch fressen. Es roch wie ein Kühlschrank, der jahrelang nicht einge­schaltet war. Wir gingen weiter, wir verfingen uns in den Wurzel­schlaufen und stol­perten, während wir mit unseren Taschen­lampen nach oben leuch­teten, und ich erinnere mich, dass meine Füße nass wurden, dass das modrige Wasser sich durch meine Socken, durch meine Turnschuhe hochzog. Von oben tröp­felte es, das Echo der Tropfen faltete sich über uns auf, als sei es ein Wasser­fall, es rauschte, unsere Klei­dung wurde klamm, und unsere Haare lagen platt an den Köpfen. Ich erinnere mich, dass wir nicht redeten, dass wir schweigend durch den Wald stolperten, versuchten, uns an den glitschigen Stämmen festzuhalten, und dass wir uns irgend­wann verliefen, dass wir nicht mehr wussten, wo wir herge­kommen waren: Durch den Wald, durch das Wurzelwerk der Ruine gab es keinen geraden Weg.

Romy nahm meine Hand. Als ich sah, wie sich etwas bewegte, irgendwo zwischen den blatt­losen Bäumen, riss ich mich los und lief. Die Hand war feucht, glitschig von den Stämmen, an denen wir uns abgestützt, an denen wir uns vor­wärts gezogen hatten, die Hand war das Letzte, was ich von ihr spürte. Ich hörte noch, wie sie nach mir rief, das glaube ich jeden­falls, wenn ich heute daran denke. Ich weiß nicht, wo wir waren, vielleicht war es unter dem Fluss, viel­leicht auch unter dem Schwimm­bad, ich glaube fast, eine der Wurzeln mündet oben in den Baum. Ich würde das Schwimm­bad gerne finden, würde mich gerne vergewissern, dass der Baum tatsächlich aus Plastik ist. Ich würde die Wurzeln und die Bäume gerne wiederfinden.

Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich wieder nach oben kam, ich nehme an, ich fand einen Aufzug, der nicht stecken blieb.

Ich weiß nur, dass ich eine Tür öffnete und im Freien stand, die Luft roch nach Gewitter, und die Straßenlaternen hatten Licht­bögen von dem Dunst, der aus der nassen Erde kam.
Jan Fischer    2013    

 

 
Jan Fischer
Prosa