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Namenlose Orte

Eine Lesart zu Wolfgang Hilbigs Kurzprosa Idyll und Bungalows
Namenlose Orte
 

Die beiden Erzählungen sind erstmals in Stimme Stimme erschienen, Reclam Verlag, Leipzig 1983. Neu editiert in: Wolfgang Hilbig. Erzählungen. Frankfurt/M.: S. Fischer Taschenbuch Verlag, 2002.




Das Morbide, das diese Erzäh­­lungen atmo­­sphärisch prägt (in Idyll stößt der Ich-Erzähler auf eine halb zerfallene Mühle, erkundet die Räume, beginnt zu träumen; in der zweiten Erzählung zieht er sich zum Schreiben in einen leer­­stehenden Bungalow zurück, am Rande der Ortschaft), und das mich gleicher­­maßen angezogen wie abge­­stoßen hatte, der Ding-Welt verhaftet, weshalb ich diese Texte immer wieder lesen, mich immer von neuem hinein begeben mußte. Hinein in diese Wuche­­rungen, Abgründe, in denen ich verloren zu gehen, mich dem Erzähler gleich zu vergessen drohte, und in denen ich aus der Welt heraus­­genommen war, weil die beschriebenen Orte als Unorte längst schon von der Erinnerung aufgezehrt, nicht einmal mehr erfahrbar waren. Örtlich­­keiten, an der Peripherie von Siedlungen gelegen, im Range von Wüstungen oder der einen und anderen Wüsten Mark, wie sie zahlreich in dieser Gegend zu finden waren, den Braun­­kohle­­revieren südlich und nordwest­­lich von Leipzig, und zumindest dafür sorgten, daß es Legenden gab, die diese Orte mit der Außenwelt zu verknüpfen vermochten. Legenden gleich Sicherungs­­leinen, damit sie nicht entgültig abdrifteten, in die Leere, in etwas, dem nicht einmal mehr ein Name eigen, das keine Bezeichnung verdiente, eine Existenz, die mit Worten nicht zu fassen ist, weil es dafür keine Worte gibt, für das Namenlose, und jegli­­cher Beschreibungs­­versuch scheitern müßte, und doch hat W.H. es vermocht, diesem Namenlosen einen Ort zu schaffen, der es ortbar machte ... Und uns erfahrbar, daß wir nichts als Tage­­löhner sind, Tage­­löhner der Poesie, der Wirklichkeit, die ein strenges Regiment führt, einem nichts schenkt, es sei denn in einem anderen Sinne ... und wir lediglich hinein­­geliehen, in diese Rolle ...



Geschichte unserer Geschichte
Lesart zu Wolfgang Hilbig: Die Einfriedung


Die Lektüre dieser Erzählung erwies sich für mich als schwierig, im Anfang, öfters verlor ich den Faden. Der 1979 geschriebene Text eröffnet mit einem Traum­­gesicht, ehe er die Empfindungs­­welt eines kurz vor der Entlassung stehenden Inhaf­­tierten reflektiert (unsere Geschichte wie der kleine Presse­­teufel H. aus dem Hause Bild mir 2005 beharrlich tele­­graphierte, denken sie an unsere Geschichte, obgleich es meine, nicht die seinige war, er sie sich jedoch längst ange­­eignet hatte und mich nun zu verführen versuchte, meine Zustimmung zu erlangen, unsere Geschichte durch den Fleischwolf dieses Organs pressen zu lassen).
  Der Text reflektiert Erfah­­rungen, die ich zu teilen in der Lage und die ihn mir klarer erscheinen lassen, zugäng­­licher, obwohl Bastionen unend­­licher Wort­­reihungen dessen Kern bewachen, gleich Abwehrketten (Kettenhunde, die zu Kriegszeiten berüchtigte Feldpolizei), den Kern, das Innerste dieser Geschichte, die wir doch auf verschiedene Weise teilen – Auch ich hatte gesessen, anderthalb Monate, nicht lang, doch hinreichend, den Grund aus­­zukosten, den Grund dieser Anstalten, oder ihn auszuleuchten, die Stadien von Verzweiflung (daß man in dieser Lage), des Gefühls, ausgeliefert zu sein, bis hin zur äußerlichen Anpassung, der An­­eignung der dem Institut eigenen Sprache, und zu den Phantasien, die sich auf den Tag x beziehen, den Tag der Ent­­lassung, ein Film, der sich tagtäglich immer wieder von neuem abspulte, nur leicht modifiziert, und der für einen in der U-Haft sicher etwas anders beschaffen als für eine Person, die schon rechts­­kräftig verurteilt, der das Strafmaß verkündet worden war …
  Konnte man diesen auf Tag x bezogenen Film als Hoffnungs­­zeichen interpretieren? Als Zeichen, daß man die Hoffnung noch nicht aufgegeben? Oder bildete er nicht eher das Signal dafür, daß man sich eingegliedert hatte, in das Regime, das parzellierte Heer der Insassen, ange­­kommen war, man sich ihrer Sprache bediente, sich ihrer Gunst versichert hatte, ihrem Dunst, in dem das Draußen nur noch als Projektion zu erfahren, und nicht mehr als das, dessen man enteignet worden war? Was ich auf die innere Leinwand projizierte, war eine Fiktion, zu­­sammen­­geschnit­­ten aus bruch­­stück­­haften Bildern, Erinnerungen an das, was ich zwei drei Jahre zuvor während meiner gelegentlichen Besuche von der Stadt wahr­­genommen, in deren Anstalt ich nun einsaß – Wieder­­holt sah ich mich bei sonnigem Wetter aus dem Portal treten, auf die Freitreppe an der Schießgasse, sah mich die Stufen hinabrinnen, gleich einem fröhlichen Wasser, das keine Widerstände spürt, sie spiele­­risch überwindet, und so rann ich die Thälmann­­straße entlang, im Schatten der Kolon­­naden – doch nie steuerte ich einen der beiden Fern­­bahnhöfe an, um endlich nachhause zu gelangen, das zu jener Zeit noch das elter­­liche Heim. Nie, nimmer eine ent­­sprechende Einstellung, Szene, und damals ist mir das nicht einmal aufgefallen: daß ich ohne Ziel, es für mich kein Ziel zu geben schien in dieser Stadt. Immer nur diese wenigen Straßen, wie ich sie nach dem Besuch des Albertinums zu passieren pflegte, nach Verlassen des Gebäudes mit der grau-schwarzen Sand­­stein­­fassade –
  Die Sprache der Bilder war eine andere und man also eingetaucht in den Grund dieser Institution, in der sich jegliche Zukunft jenseits des Tages x der Vor­­stellung entzog; war man in diesem Sinne verheert, daß es diese Zukunft, eine Vor­­stellung davon, die auch nach einer anderen Sprache verlangte, schlichtweg nicht geben konnte, sie nicht denkbar war, weil man der eigenen Sprache letzt­­endlich benommen war, sich ihrer ent­­schlagen hatte, um den Schmerz nicht länger spüren, ihn verraten zu müssen – vielleicht auch, weil die Entlassung eher einer Frei­­setzung gleich­­kommen würde, gleichkommen mußte …
Jayne-Ann Igel    20.12.2009   
Jayne-Ann Igel
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