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Thomas Pynchon

Gegen den Tag

Ein glitzernder Trümmerberg

Kritik
  Thomas Pynchon
Gegen den Tag
Roman
Rowohlt 2008
1760 Seiten | € 29,90


Die Romane des großen Unbekannten der amerikanischen Gegen­warts­lite­ratur haben Gewicht – 1600 dichtbedruckte Seiten wie bei Gegen den Tag ignoriert man nicht so leicht. Thomas Pynchon muss niemandem mehr etwas beweisen, seinen Platz in der Litera­tur­geschichts­schreibung hat er sicher. So kann er sich Zeit lassen für ein neues Buch, und schreiben, schrei­ben, schreiben … So schreiben, wie er es möchte, ohne sich vorab um Kritiker­stimmen Gedanken machen zu müssen.

1893 fliegt das Luftschiff Inconvenience zur Chicagoer Weltausstellung. Die von einer unbekannten Zentrale gesteuerten Freunde der Fährnis, wie sich die sehr junge Besatzung nennt, fungieren als die Klammer, welche das ausufernde Werk zusammenhält. Sie tauchen immer wieder mal auf, um seltsame Abenteuer zu bestehen. Bei realen Ereignissen wie eben der Weltausstellung, im Inneren der hohlen Erde, unter dem Wüstensand, im Nordpolarmeer. Dass triviale SF-Groschen­hefte stilistisches Vorbild für diesen Strang der Handlung sind, macht der Autor überdeutlich, indem er gelegentlich auf frühere Ausgaben der Serie verweist oder sogar einen anderen Romanhelden auf dem Ritt durch die Prärie in solch einem Heft schmökern lässt. Wie üblich bei solch einer Gattung, ist die Handlung über­zeichnet und zuweilen richtig albern. Aller­dings treffen die Freunde auch wiederholt mit anderen Prota­gonisten des Buches, die auf hand­festeren Ebenen angesiedelt sind, zusammen. Diese wiederum haben inmitten ihres real­kapita­listischen Alltags auch manchmal irreale Begeg­nungen mit unter­irdischen Gnomen, Tatzel­würmern etc.

Auch wenn die Personage des Romans kaum zu überschauen ist, schälen sich Webb Traverse, Bergarbeiter und bombenwerfender Anarchist, nebst seiner Familie, welche wiederum auf vielfältige Weise mit der Sippe des Super­kapitalisten Scarsdale Vibe verwoben ist, als Konstanten heraus. Zumindest streckenweise. Webb wird von zwei Auftrags­killern Vibes er­mordet. Seine Tochter Lake heiratet den einen der Ganoven und geht auch mit dem anderen ins Bett. Sohn Reef lässt sich von Vibe ein Studium an der Yale University finanzieren, während Frank und Kit, die anderen Söhne, nach Rache trachten. Tat­sächlich bringt Frank auch einen der Killer zur Strecke. Das Attentat auf den Auftraggeber selbst aber, das im letzten Drittel des Buches zum Zentral­thema zu werden scheint, geschieht ­dann ganz beiläufig durch dessen engsten Vertrauten.

Pynchon bedient sich eines gewaltigen Werkzeugkastens stilistischer Mittel. Dabei steht das Spiel mit (pseudo-)natur­wissenschaftlichen und mathe­matischen Phänomenen und Problemen im Vordergrund. So gibt bei­spiels­weise der Islandspat mit seiner Eigenschaft der doppelten Lichtbrechung einem ganzen Großkapitel die Überschrift, wird auch wiederkehrend erwähnt, ohne aber irgendwie zum Fortgang der Geschichte beizutragen. Ebenso unmotiviert wirken die heftigen gesellschaftskritischen Ausbrüche, die sich nicht aus der Handlung ergeben, sondern einfach eingeschoben werden. Seine Gelehr­samkeit demonstriert Pynchon anhand gehäufter Begriffe, die ein normal gebildeter Leser nachschlagen muss (und manchmal nicht finden kann) sowie vielen Einsprengseln in Russisch, Italienisch Serbisch, Spanisch und anderen Sprachen. Gelegentlich stolpert der Schriftsteller aber selbst über die Fakten. So gebraucht er den Begriff Maschinen­pistole im Jahr 1906, redet wenig später von austro-ungarischem Blues und hält die Sprache von russischen Ikoneninschriften für altslawonisch. Knallharte Fans des Autors werden selbst solche Missgriffe als vorsätzliche Finten inter­pretieren.

Reale Personen wie Nicola Tesla oder Erzherzog Franz Ferdinand sind ebenso eingebaut wie historische Ereignisse, so der Einsturz des Campanile von Venedig. Damit auch der Tunguska-Meteorit verwurstet werden kann, muss Kit Traverse schnell einen Abstecher von Südeuropa nach Ost­sibirien unternehmen. Und in diesem Zusammenhang ist dann auch gleich von Tschernobyl die Rede. Der Erste Weltkrieg hingegen ist letztlich nur noch eine Randnotiz auf den letzten paarhundert Seiten, wo zwischen­menschliche Angelegen­heiten und rektale Integrität an Bedeutung gewinnen.

Selbst euphorische Rezensenten des Buches müssen zugeben, dass es keinen Plot hat. Personen werden eingeführt und verschwinden folgenlos. Zum Ende hin mutiert die Erzählung zum nicht weiter ausge­sponnenen Exposé. Selbst bei diesem „Was noch passierte“ werden vormalige Haupt­personen einfach vergessen. Unüber­sehbar ist das Gas raus aus dem hoch­fliegenden Zeppelin. Er stürzt nicht einmal ab, trudelt nur noch so dahin.

Pynchon häuft in seinem Werk mit sprachlicher Souve­ränität gigantisch viele Ideen an, aus denen sich Dutzende gute Romane machen ließen. Gegen den Tag bleibt aber ein Konglomerat. Die Montage­technik gehört schon immer zu seinen Mitteln. Wenn aber zwischen einze­lnen zusammen­gehö­rigen Teilen zwei­hundert Seiten Abstand liegen, wird kein Ganzes daraus. So bleibt ein Trümmer­haufen, in welchem viele Fundstücke verlockend glitzern. Ein Gesamt­bild kann sich beim Leser allerdings nicht einstellen.
Jens Kassner     08.06.2009   
 
Jens Kassner