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Viktor Pelewin
Tolstois Albtraum

Graf T. schießt um sich
  Kritik
  Viktor Pelewin
Roman
Übersetzung: Dorothea Trottenberg
Luchterhand 2013
21,99 Euro, 448 Seiten


Leichenfledderei sei das gegenwärtig am höchsten geachtete Genre, weil es als direktes Pendant zur Erd­öl­förde­rung angesehen werden könne. So erklärt Ariel Edmun­do­witsch Brahman seine Arbeits­weise und ergänzt: „Früher dachte man, bloß die Tschekisten hätten die Dinosaurier beerbt. Aber dann hat die kulturelle Öffent­lichkeit auch was gefunden, wo sie bohren kann. Also werden jetzt sämtliche lieben Ver­storbenen ein­gespannt.“
  Ariel sagt dies zu Graf T., der Hauptfigur in Viktor Pelewins neuem Roman. Im rus­sischen Ori­ginal heißt das Buch schlicht „T“. Dass der Verlag für die deutsche Übersetzung den Titel „Tolstois Albtraum“ gewählt hat, war keine gute Ent­schei­dung. Sofort erwartet man einen His­torien­schinken, der es nicht ist. Und ein einzelner Buch­stabe als Titel ist ja spä­testens seit Thomas Pynchons „V“ auch legitim. Auch wenn der Russe, Jahr­gang 1962, deutlich jünger ist als der ameri­kani­sche Groß­autor, teilt er mit ihm nicht allein den Spleen der Flucht vor jeder Öffent­lichkeit. Auch wenn sein Ariel behaup­tet, von der Post­moderne keine Ahnung zu haben, ist das hefti­ge Herum­rutschen zwischen ver­schie­denen Stil­ebenen Grund­prinzip seiner Erzähl­weise. Denn er ist vorgeb­lich der Autor, Er­finder des Grafen T., sowie dessen Mit- und Gegen­spieler. Genauer gesagt, er ist Kopf eines Teams von Schreibern, dem außerdem Spezia­listen für Glamour und Erotik, für Action-Szenen, für innere Monologe sowie für Erfahrungen mit Alkohol und Drogen angehören. Die Vorgaben zur Verteilung dieser Ingre­dienzen kommen von einer Agentur für Markt­forschung. Um große Literatur geht es nicht, sondern darum, dass Ziel­gruppen von sexuell frustrierten Single-Frauen über Büro-Schicki-Mickis bis zu verkapp­ten Schwu­len das Buch kaufen sollen, also ein Mil­lionen­publi­kum allein im heutigen Moskau. Zudem gibt es im Manage­ment Kämpfe zwischen Hard­linern und Libe­ralen.
  Aus dieser Konstellation wird klar, dass es Pelewin eigentlich um eine satirisch angehauchte Darstellung der Zustände in jenem „neuen Russland“ geht, das wie eine verzerrte Kopie des Manchester-Kapitalismus im west­lichen Europa des frü­hen 19. Jahrhunderts aussieht, vermischt mit slawophiler Frömmigkeit und post­sowjeti­schen Relikten. Aller­dings nehmen die Abenteuer des imaginären Grafen T. viel breiteren Raum ein, Leiche­nfledderei muss sein.
  Nach knapp einhundert Seiten absurd erscheinender Ver­folgungs­jagden auf dem Weg nach Optina Pustin, von dem Graf T. nicht weiß, was es eigentlich ist, begegnet er erst­mals seinem Schöpfer Ariel, seinem Lohn­schreiber der Jetztzeit. Aus der Erkennt­nis, nur eine Figur zu sein, ent­stehen Gedanken­spiele und Ver­wick­lungen. So erzählt T. einem alten Juden, dass sein Schöpfer trotz des alt­testamenta­rischen Namens anti­semi­tisch einge­stellt sei, worauf der Alte erstaunt fragt: „Sie hatten mit dem Schöpfer zu tun?“ Ariel und seine zer­strit­tenen Kumpane haben aber wenig von ehrfurchtgebietenden Demiurgen an sich. Er muss selbst zugeben: „Gott ist nur der Markenname auf dem Umschlag.“
  Die direkte Kommunikation zwischen dem Schrift­steller und einem Roman­helden muss dazu führen, dass jener ver­sucht, sich aus dem Mario­net­ten­status zu befrei­en. Natür­lich hat dieser Graf T. nicht allein den Wohn­sitz Jasnaja Poljana mit dem realen Lew Tolstoi gemein. Pelewin flicht in die Story jede Menge Prota­gonisten der rus­sischen Geschichte und Kultur ebenso ein wie diverse Mythen. Die Über­setzerin Dorothea Trotten­berg bemüht sich, den deutschen Leser mit Fußnoten diese Anspie­lungen zu erläutern. Das betrifft partiell auch Fach­begriffe der Computer­spiel-Branche. Denn nach der Pleite seines ersten Auftrag­gebers ver­sucht Ariel aus dem Material ein Shooter-Game für den ameri­kani­schen Markt zu machen. In dieser Phase begeg­net T. dann in einem apo­kalyp­tischen Peters­burg Dostojewski, der damit beschäftigt ist, tote Seelen aus­zusaugen.
  Pelewins Idee der Verknüpfung von Handlung und Meta­ebene ist reizvoll. Konsequent führt er sie weiter bis zur Rolle des Lesers und dessen Anteil an der Erzählung. Dass man sich am Ende fragt, wer eigent­lich Viktor Pelewin ist, passt zu dessen Medien­abstinenz. Doch scheint auch sein virtueller Mar­keting­berater mit „Tolstois Albtraum“ mehr zu wollen, als für eine gezielte Kunden­ansprache sinn­voll ist. Das intel­lektuel­le Spiel wird mit all zu viel Trash auf­geladen, der schnell er­mü­dend wirkt.
Jens Kassner     19.04.2013    

 

 
Jens Kassner