|
|
Barbara von Wulffen
Laudatio auf Jörg Bernig, Eichendorff Literaturpreis 2011
Laudatio |
|
Lieber Jörg Bernig. Es freut mich sehr, Sie als einen Autor zu laudatieren, der wahrhaft preiswürdig ist. Da es um den Eichendorff-Preis geht, sei aus der Fülle Ihrer Werke zuerst die Lyrik gepriesen. Sie fordert, sich einem rhythmischen Sog auszuliefern: Trochäen, Daktylen, Anapäste, Jamben - Welle auf Welle, und dazwischen, etwa durch ein streunendes „und“, gebrochen zu kurzen Drei- oder Vierhebern zwischen Langzeilen ohne Reime oder Satzzeichen und erschwert durch Kleinschreibung. Aber Rhythmen in der Poesie sind musikalische Elementarteilchen, weit älter als Stab-, End- oder Binnenreim, die hier zwischendurch ebenfalls aufblitzen. Diese Gedichte wollen also deklamiert sein. Sie sind geprägt von liebevoll visueller Detailwahrnehmung und davon, daß Sie nach dem Abitur als Bergbaulehrling „ein- und ausgefahren“ sind, um zu „teufen“, wie Kumpels sagen, also sich in der Tiefe dahin vorzuarbeiten, wo bestimmte Schichten sich Augen und schürfenden Händen darbieten. Das schien ein Geologiestudium nahezulegen. Da man aber unter Tage in die Vergangenheit gelangt, wurde die Zeit als Steinzeit selber zum Erfahrungs- und Wortfeld für Sie prägend und wies zur Dichtung, also erst einmal auf ein Germanistikstudium an der heimischen Universität Leipzig.
Bei der Wende ergriff der 25-jährige Bernig die Freiheitschance nicht als Banane, sondern ging für Studien und einen Lehrauftrag nach Schottland, wo es aus „den schornsteinen riecht nach torf von den highlands“. Es folgte eine Dozentur an der walisischen Universität Swansea, also an der Küste der „keltischen See“, wo nach der irischen Sage die Wellen in Schaumkronen brechen und Mähnen der Meerpferde sind. In Berlin promovierte er anschließend über „Die Schlacht von Stalingrad im deutschsprachigen Roman nach 1945“.
Von Untertage hat er Erfahrung und Sprache eines der ältesten Handwerke menschlicher Kultur heraufgebracht und deutet die Geschichte bergmännisch als Abfolge von Schichten, wie wir sie von Aufschlüssen im Gebirge kennen. Durch Plattentektonik können im nie endenden Drama der Erdbewegungen alte Schichten bergmannssprachlich im „Liegenden“ und „Hangenden“ über neuere geraten als versteinerte Zeit. Geologen sprechen von „Schicksalsverbundenheit mancher Minerale“ nach ihren unterschiedlichen Entstehungsbedingungen. Dasselbe erkennt Bernig in Geschichte und Sprache, spürt es daher in der Grammatik auf: Präsens und Perfekt sowie Imperfekt und Plusquamperfekt sind bekanntlich aufeinander bezogen, und das Futur exakt gilt einer erst noch bevorstehenden Vergangenheit. Dieses seltsame zweite Futur ist häufig in seiner Poesie und Essayistik. Ein Gedicht im Band „wüten gegen die stunden“ ist mit „futur II“ betitelt und endet mit der vertrauensvollen Hoffnung, „intakt und ganz und wie aus einem guß so werden wir gewesen sein.“
Bernigs Prosatext über die Elbflut habe ich in der FAZ vom 19. August 2002 etwas unachtsam als eines von vielen Feuilletons über dieses Jahrhundertereignis gelesen. Erst beim Wiederlesen nach fast zehn Jahren erkenne ich dessen dichterische Wucht und Tiefe. Da heißt es wie nebenher, „wenn das Wasser wieder gegangen sein wird, werden wohl einige der jahrhundertealten Häuser zusammenstürzen. Das Wasser näherte sich langsam aber beständig dem Haus, in das wir nächste Woche ziehen wollen. Aber kein falsches Wort über die Elbe. Sie will eben mit „Sie“ angeredet werden“. Einen ganzen Haufen gutgemeinter Ökolyrik wiegt der Schlußsatz dieses Feuilletons auf.
Aus dem Futur II gewinnt Bernig Argumente gegen platten Fortschrittsglauben sowie gegen politische Ausreden, man solle die Vergangenheit um einer angeblich besseren Zukunft willen verdrängen. Denn sie bleibe als Phantomschmerz unter unseren Füßen weit gegenwärtiger als die stets ungewisse Zukunft. Erlauben Sie mir dazu einen Miniexkurs zum Philosophen Robert Spaemann, der einen „Nietzsche-resistenten Gottesbeweis aus der Grammatik“, nämlich aus dem futurum exactum vorgeschlagen hat. Dieses sei denknotwendig mit dem Präsens verbunden: „Von etwas sagen, es sei jetzt, ist gleichbedeutend damit zu sagen, es werde in Zukunft gewesen sein. Wenn wir z.B. heute hier in Wangen beisammen sind, werden wir morgen hier gewesen sein. Das Gegenwärtige bleibt als Vergangenheit des künftig Gegenwärtigen immer wirklich“. Spaemann betont, daß dies nicht einfach nur auf menschlicher Erinnerung beruhe, die bekanntlich ziemlich rasch erlischt. Erinnerungsträger sind ja nicht nur vergeßlich sondern sterblich. Es sei daher Unsinn zu sagen, in ferner Zukunft werde es nicht mehr wahr sein, daß wir heute hier zusammen waren. Das sei schlicht denkunmöglich, denn wenn die gegenwärtige Wirklichkeit einmal nicht mehr gewesen sein wird, dann ist und war sie niemals wirklich. Wer das futurum exactum beseitige, lösche den Präsens aus. Spaemann erinnert an Nietzsches Auspruch in seiner Spätschrift über den Antichrist: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.“ Ich erwähne das nicht um des Gottesbeweises willen, der daraus folgt, daß wir ein Bewußtsein denken müssen, in dem alles was geschieht aufgehoben ist. Ich erwähne es vielmehr, um den Tiefgang unseres Autors zu zeigen, der sich weigert, Gegenwärtiges nur als Weg auf Zukünftiges hin zu denken.
Damit sind wir beim Romancier Bernig mit dessen geologischem Geschichtsbewußtsein. Im Jahr 2000 wurde der noch Unbekannte mit dem Förderpreis zum Friedrich Hölderlin-Preis für seinen Erstling „Dahinter die Stille“ ausgezeichnet, den Jurymitglied Reiner Kunze über einen Stapel von Neuerscheinungen hinweg durchsetzte. Es geht um das Schockerlebnis eines Zehnjährigen, der die Mutter nach einer Ehekrise erhängt im Speicher findet; daraufhin stürzt er in lebenslanges Schweigen, wird Friedhofsgärtner und verschwindet im nahen Fluß, aber nicht spurlos sondern Aufzeichnungen hinterlassend. Dieser Roman ist ein sprachlich-kompositorisches Meisterwerk multiperspektivischer Erzähltechnik mit vielen scharf konturierten Personen.
Der 2002 erschienene Roman „Niemandszeit“ wurde dann sofort begeistert von der Kritik aufgenommen. Diesmal begab sich Bernig ins verminte Gelände der heißumstrittenen Vergangenheit zwischen Tschechen und Deutschen. Der in Sachsen geborene und aufgewachsene Enkel nordböhmischer Vorväter ist von den Erzählungen eines Großvaters geprägt, der häufig sagte: „Du bist hier nur geboren. Zuhause ist woanders, aber das mußt du nicht in der Schule erzählen“; denn Schule war DDR, wo nach geltender Lehre die Deutschböhmen vom tschechischen Brudervolk nur mal ein wenig umgesiedelt worden seien.
Bernig fingiert einen hinter einem Steinbruch unzugänglichen Ort, wo Deutsche und Tschechen, beide gleichermaßen Täter und Opfer, ausgerechnet 1945 zueinanderfinden und ein Friedensjahr lang so leben, wie es einmal möglich gewesen wäre. Damit treten sie aus der schlimmen Gegenwart in eine sanfte, liebevoll gezeichnete Utopie: der Autor kann wiederum multiperspektivisch zu erzählen beginnen, und der Leser begreift, daß Vergangenheit auch nicht zu „bewältigen“ ist, weil ihre Schmerzensspur durch jede Gegenwart in die Zukunft führt. Angeregt hat diesen Roman das Entsetzen über die neuen Balkankriege mit weiteren ethnischen Säuberungen, die ausgerechnet durch Woodrow Wilsons einstiges Diktum vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ins politische Spiel gekommen waren; wiederum wurden Menschen zu Fremdvölkern innerhalb ihrer Grenzen. Schon im Unwort „ethnische Säuberung“ steckt Verbrechen: Minderheiten werden im Volkskörper zu Schmutz, von dem das jeweilige Herrenvolk sich reinigen müsse, um sauber und in Frieden leben zu können. Ach Gott, wie wir das kennen! Es begann zwischen Türken und Armeniern, ging weiter in der Folge von Versaille, dann im Dritten Reich und dann und dann und dann ohne Ende.
Für Bernig folgten Arras-Preis, Förderpreis zum Lessing-Preis und etliche Stipendien. Hartnäckig verweigert er sich der Lüge, daß Heimaterinnerung bereits Revanchismus sei. Unser Gedächtnis führt nämlich in Tiefen, die wenig mit politischer Korrektheit zu tun haben. Ich selber, aus Bernigs Elterngeneration, habe den Heimatverlust als Achtjährige erlebt und bloß nachträglich das politische Drum-und-dran beim Beschreiben meiner böhmische Kindheit erkundet, habe aber deren Prägung erst erfahren, als wir von München in die Oberpfalz umzogen. Denn dort sprechen die Leute einen mir seltsam vertrauten, diphtongisch melodischen, von Bernig in Erinnerung an seinen Vater „hügelig“ genannten Dialekt; sie sagen etwa Mouder für Mutter und dahuam für daheim. In den oberpfälzischen Wäldern wachsen Blaubeeren und Pfifferlinge, an deren Rändern blüht roter Fingerhut und es ergriff mich dort wie ein Echo aus großer Ferne etwas Eichendorffisches – „aus der Heimat hinter den Blitzen rot, da kommen die Wolken her“, was wohl nur Menschen ganz verstehen, die selber vertrieben sind und „es kennt mich dort keiner mehr“ erfahren müssen.
Erst meine Mutter konnte mir dieses Gefühl von Vertrautheit mit der Oberpfalz erklären. Sie sagte, hier lagere Urgestein, also Granit „wie daheim“; und sie meinte damit Westböhmen, wo wir Pfifferlinge gesammelt, Blaubeeren gepflückt und roten Fingerhut blühen gesehen hatten.„No, schau-ok, Kind“ sagte unsere reichenbergische Kinderfrau: Da waren Herrenpilze im Moos, da waren Hügel, das tief eingeschnittene Flußtal der Miesa zwischen schroffen Klippen, und um den Uhuhorst lagen leere Igelhäute. Auch in meine Kindheit ist jene Schmerzensspur eingegraben, die meine Mutter am eigenen Leib erfuhr, als sie um ein Haar im Pilsener Bori-Gefängnis umgekommen wäre, hätten nicht die vorübergehend nach den Rechten schauenden Amerikaner sie herausgeholt und nach Bayern verfrachtet, wo sie aufgewachsen war. Wir hatten also noch Glück und erlebten nicht die Bitterkeit bloßer Duldung als „Flichtlinge“, wie die Schlesier sagten, die im Westen den Verschonten zugemutet wurden. Denn man fand einfachheitshalber, sie verbüßten angeblich zurecht die ganze Nazischuld, eine Sicht, in der die offizielle BRD und die nur mehr inoffizielle DDR weiterhin einmütig verbunden sind, die beide gerne die Geschichte unserer böhmischen Völker erst mit 1938 beginnen lassen.
In seinen brillanten Essays geht Bernig übers Persönliche oder Politische hinaus und hat luzide Prosa über Mitteleuropa vorgelegt, soeben in einem Sammelband unter dem Titel „Der Gablonzer Glasknopf“ im Thelem-Verlag erschienen. Mitteleuropa ist eine Region mit schwärenden Schmerzensspuren, die von der Ostsee über Danzig, Breslau, Prag, Wien oder Belgrad bis zur Adria reichen. Denn als die vielerlei Völker zu Nationen geworden waren, kam es zu Ketten gegenseitiger Landnahmen mit Vertreibungsverbrechen. Auch wenn das bisherige Westeuropa in seinem Kulturdialog noch „stottere“ und erst langsam lerne, daß auch das alte Mitteleuropa zu Europa gehört, so sei es immerhin viel wert, daß kein Nachbarschaftskriege mehr denkbar sind, auch wenn der Preis hoch sein mag in Grenzräumen, die Ausgrenzräume sind, zunächst mit Vietnamesenmärkten und Straßenstrich oder mit Entvölkerung ganzer ländlicher Regionen Schlesiens, der Slowakei oder Rumäniens. Aber auch deren heutige Zukunft, so in Bernigs Text „Europa und das laute Singen im Wald“, wird einmal Zukunft gewesen sein, also Vergangenheit werden mit der Frage nächster Generationen: Und was habt ihr daraus gemacht?
„Ja, mein Junge, so war es“, erzählte der Großvater in seinem „hügeligen“ Dialekt dem kleinen Jörg, der auf tschechisch ein Jirí geworden wäre. Damit wies er diesem seinen späteren Lebensweg, den eines Erzählers und dem es stets um Gegenwärtigkeit verschiedener Zeiten geht, eben um Ge-Schichte, also um über- und untereinander geratene Sedimente, Vulkangesteine, tektonisch verfaltete Lagen. Der große Jörg erzählt also auch davon, wie er in den achtziger Jahren als weiß Gott nicht freiwillig in der NVA Dienender das Desertieren erwog, um nicht ins Polen des damals herrschenden Kriegsrechts einmarschieren zu müssen: „Polen ist diesmal gottlob uneinmarschiert geblieben gegen den Wunsch der Ostberliner Kommunisten. Polen – na klar, Großvater im Ersten Weltkrieg, Vater im Zweiten“. Wenn das niemand erzählt, wird es beinahe wie nicht gewesen sein. Und dafür daß dies nicht geschieht, sind Dichter wie dieser Jörg verantwortlich.
|
|
|
|
|