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Vor dem Gedicht


Als ich begann, Gedichte zu schreiben, war ich mir meiner poetischen Welt gewiss. Ich war sehr naturnah aufgewachsen, also boten Kindheit und Landschaft erstes Material für das poetische Sprechen:

Naturgedichte versuche ich zu schreiben, weil ich auf der Suche bin nach einer langsamen Sprache, mit der sich das unmerkliche Wachstum der Knochen nachvollziehen lässt. Sich im späten Sommer der Landschaft zuzuwenden, mag von einer Ruhe sein, die vielleicht einfältig erscheint, weil sie nur mit einfachen Wörtern für einfache Bedingungen auszukommen versteht. Dann aber beginnt man zu begreifen, was es heut­zutage noch bedeuten kann, wenn etwas sich nicht fort­während verändert, und begibt sich auf die Suche nach dessen Zeichenschrift und gelangt womöglich an sein eigenes Zuhause.

Um der Landschaft ein Gedächtnis einzu­schreiben, fütterte ich sie mit den Mythen der Antike, ich war auf den Unter­schied aus zwischen Ursprung und Dauer und wollte daran Zeit begreifen.
  Mit der Zeit machte ich die Erfahrung, dass eine poetische Welt, die einem geläufig genug ist, dass sie zur Gewohnheit wird, an Sprach­kraft verliert. Ich hatte mir angewöhnt, bestimmte Motive in einem bestimmten lyrischen Gestus mit­ein­ander zu verketten, der mir jede andere Sprachform von Dich­tung unsichtbar bleiben ließ. Ich war meine Gedichte gewohnt und wurde blind für das Spektrum der Dichtung.

Es ist weitaus schwieriger, sich etwas abzugewöhnen, nachdem man es sich angewöhnt hat. Daran habe ich mich in Gedanken abgearbeitet, bis ich müde war und unsicher darüber, ob es sich überhaupt lohnt, wenn ich in Gedichten spreche. Ich hatte das Gefühl, an meiner Sprache zu verarmen. Ich war sozu­sagen sesshaft geworden und musste mich wieder auf die Suche machen, damit der Acker, den ich bestellte, nicht an Mono­kultur einging, musste ich ihn liegen lassen und stattdessen einen neuen urbar machen. Was das heißt? Das heißt, dass mein bis­heriges Vermögen wohl seine Berechtigung hatte, weil es in der Sprache verwurzelt war, aber es heißt auch, dass ein gewachsenes Sprach­bewusst­sein von einem bestimmten Moment an den Blick oder Zugang versperrt zu seinem Boden. Das heißt fürs Gedicht? Zu begreifen, dass meine Gewohn­heiten Sicherheit bedeuteten, denn was sollte mir geschehen: Es war ja die Sprache, aus der alles wuchs, die Sprache kann man nicht anzweifeln, die Sprache ist immer das Erste und Letzte, was gilt, sie ist Netz, Seil und Balancier­stange in einem. Und nun davor stehen und wissen, dass es bei dieser Art von entstandener Sicherheit nicht bleiben darf, denn sie ist bereits topo­graphier­tes Land. Also erneut mühsam roden zu müssen auf einen weißen Fleck hin, das Vorhandene entfernen zu müssen, weil es bereits als Etwas angesehen wird, das verschwin­den soll. Denn was tut denn der, der rodet? Er nimmt das Vorhandene gar nicht mehr wahr, er überblickt es nur noch gemäß seines inneren Plans von dem, was dort in Zukunft stehen soll.
  Muss ich also roden gehen, um zu begreifen, dass meine Gewohn­heit nur ein Innehalten war, ein Fürwahr­halten vielleicht, dass der Weg aber weitergeht, endlos weitergeht, dass ich neun Gedichte schreibe für ein zehntes, dass dieses zehnte Gedicht jedoch nicht bedeutet, irgendwo angekommen zu sein, sondern dass genau danach wieder neun neue Gedichte entstehen für ein zehntes, das ist nicht in meinem Sinne, aber das ist es dann. Ja, und dann? Fängt alles wieder von vorn an.
  Wenn mein Weg zum Gedicht etwas ins Ideal über­führen könnte, dann doch das: Immer und immer wieder auf den Kreislauf zu deuten, noch nicht ganz angekommen zu sein. Ist das ein Gedicht, dann weil es sich um seine eigene Achse dreht wie der Ballett­tänzer um seinen aufgestellten Fuß. Ist das ein Gedicht! Eine Schmerzensgabe, der aufgestellte Fuß im Ballett mit den blutig geschundenen Zehen. Und soviel Schönheit, dass sie einen ganz willenlos macht, weil man sich weiterhin wünscht, nirgendwo anzukommen. Ein Gedicht ist grausam, es hört nur sich, es aufzuschreiben, erfolgt aus der Hilflosigkeit, nicht anders zu können, aber das, was man kann, ist ihm noch zu wenig.

Dann machte ich eines Tages Bekannt­schaft mit dem Tod und erfuhr, dass der Tod jede Sprache beendet und dass vor diesem Hintergrund die Sprache eine Gewalttat ist. Sie ist das Erste, aber auch das Letzte, was gilt. Ich habe versucht, Gedichte zu schreiben, die diese Gewalt in sich tragen. Was ich wollte, was ich brauchte, war, mein Entsetzen gegenüber dem zum Ausdruck zu bringen, was sich nicht begreifen und darum sprachlich nicht mehr fassen lässt. Also auch mein Entsetzen gegenüber der Sprache, weil der Tod sich in ihr nicht darstellt. Und gegenüber meinem eigenen Kopf, weil er nur dieser Sprache fähig ist.

Eben, ich wünschte, mein Kopf ließe sich zubereiten wie ein Feldsalat: Abschneiden, zerpflücken, würzen und wieder einverleiben.

Die Gedichte waren wie eine Hetze. Und machten mich müde:

Ich habe schlafende Hund in mir. Wenn ich nicht zugrunde gehen will, muss ich sie regelmäßig wecken. Geh hin und lass die Hunde los. Dabei habe ich solche Angst vor ihnen. Die Hunde zerbeißen alles, was mir lieb ist. Und ich hinterher und sammle es ein. Dass ich sonst zugrunde ginge, habe ich mir selbst zum Gesetz gemacht.

Mittlerweile kann ich sagen, dass ich die Natur ganz gut kenne, mich ebenso, und den Tod vom Sehen. Dass ich aber, weil ich mir meiner unzu­reichenden Sprache bewusst bin, häufig alles aus einer Perspektive des Mangels betrachte. Die Sprache ist mir das Erste und Letzte, was gilt, aber oft lässt sie mich nicht ein und ich muss mich fragen, ob noch irgendein Unterschied besteht zwischen mir und dem Mann vom Lande in Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“:

Wenn alles langsamer verläuft, sehen sich die Dinge wieder größer an. Und in mich hinein. Dann kommen die Wörter, die für die Schmerz­grenze sind. Und werfen mich aus sich heraus, bis ich verzweifelt bin. Dann aber sagen sie „Tritt ein, wir sind auch von innen ansehnlich“, und laden mich in ihr Zuhause ein. Kann sich einer diese Spannung vorstellen, man ist wie aus der Welt und ein Frieden ist nicht in Sicht. Und wünscht man sich Beruhigung wenigstens, holt einen wieder diese Strohsprache ein.
  In der Kunst liegt ein Rausch, davor und danach bin ich abhängig von ihr. So einfach ist das. Ein aufgeschriebener Satz, ein fort­geschriebener Text, ein auf­geschriebener Satz in einem fortgeschriebenen Text können selig machen, aber davor muss man in jedes Wort hinein mit der Gewissheit, dass es einen dafür nicht ungeschoren davonkommen lässt. In diesem Sinne können Wörter grausam sein, obwohl sie nur folge­richtig sind. In diesem Zustand liegen Gewitter vor ihrem Ausbruch noch im Schlaf und räumen die Spinnen in den Ecken ein, dass jede eine Norne ist, nur welche der drei, verraten sie nicht. Das steht im Gedicht.
  Und ich kann es nicht sehen. Jedes richtige Gedicht sieht seinen Schreiber ganz und gar an, weil dessen Augen zu Höhlen geworden sind, in die sich das Tier zurückgezogen hat. Jedes Gedicht ist eine Gewalttat, die nimmt nur der Dichter an sich vor: immer aufs Neue blind zu werden, immer wieder für jedes Gedicht erneut zu erblinden. Wie kann das auszuhalten sein? Wo doch nichts für eine Belohnung des Dichters spricht? Er weiß das alles und immer dann, wenn ein Gedicht gelingt, ist eine Weile Frieden.
  Simone Weil hat das beschrieben, in
Schwerkraft und Gnade. Die Gnade ist, was während der Kunst geschieht. Ihre Gnade ist das sich Hinabbeugen der Kunst, Schwerkraft ist, wenn sie herabgesetzt wird.

Im Grunde bewege ich mich zwischen zwei Polen, die Wittgen­stein bereits benannt hat. Der eine besteht aus der bangen Frage „Wie kann ich denn mit der Sprache noch zwischen die Schmerzäußerung und den Schmerz treten wollen?“, der andere aus der Erkenntnis, dass die Worte wie die Haut auf einem tiefen Wasser sind. Daran habe ich begriffen, dass mit und in der Sprache unterwegs zu sein immer eine Gratwanderung zwischen Mangel und Fülle bedeutet, und dass die Sprache das als Kippmoment in sich trägt. Sie steht sozusagen auf Kippe und stellt damit alles in Frage oder auch nicht.

Einiges habe ich schon begriffen: dass ich sie nur umdeuten muss, dann werden Dinge plötzlich anerkennenswert. Bei Tschechow habe ich den Satz gelesen: Ich bin von Einquartierung frei. Dorthin will ich. Ich habe keine Sicherheit, aber ich weiß um jeden Schritt, den ich mit meinem Bewusstsein auf dem Rücken unternehme.

Dass ich aber als ein Ich das spricht, die Macht habe, Standpunkt und Gesetze meines Sprechens selbst festzulegen. Und damit das Netz der Wort-Laut-Verbindungen, die Art, wie Metaphern und Metonymien sich darin unter­scheiden, dass Metaphern überblenden und Metonymien verbinden. Ich kann mich von Roman Jakobson an die Hand nehmen lassen und verstehen lernen, warum Metonymien in Gedichten eine ganz andere Spannung erzeugen als Metaphern. Ich bin nicht mehr auf Gedeih und Verderb der Tatsache ausgeliefert, abbilden zu müssen, sondern ich kann mir modellieren, was ich brauche und wie ich es mir wünsche. Dabei kann ich alles aufnehmen, was sich wahrnehmen lässt und mein Denken bewegt, und die Sprache als Seismographen innerer und äußerer Erschütterungen verstehen.
  Denn ich, ein Ich kann mit der Sprache sprechen. Man kann im Gedicht verhandeln, wie es zum Gedicht kommt. Sicher, da ist ein Ich, das sehr genau weiß, dass man mit der Sprache nicht hinter die Sprache gelangt. Aber dieses Ich kann sprechen. Es kann sich mit Sprache ansprechen, es kann die Sprache ansprechen und damit im Gedicht eine Situation erzeugen, bei der Sprache sich aus sich selbst gebiert.
  Wiederholung ist etwas Wesentliches für das Sprechen im Gedicht. Wird etwas in die Sprache geholt, wiederholt sich die Wirklichkeit. Wird dieses im Gedicht wiederholt, lässt sich die äußere Wirklichkeit in eine innere verwandeln. Wissen um ein Zitat, einen Mythos, in früheren Gedichten nur herbeigerufen um bestaunt zu werden, wird jetzt vom Aufnahmestandpunkt des Ich und seiner besonderen Bewusst­seinslage aus verhandelbar. Nicht mehr: was ist wahr, sondern: was ist wahr für mich. Denn etwas, was in der Sprache steckt, aber nicht Sprache ist, verändert sich während Sprache spricht. Etwas offenbart sich in der Rede, die sich entwickelt. Am Ende spricht die Sprache mit sich selbst. Die Rollen haben sich verändert. Das Ich, das einst die Sprache anrief, schaut ihrer Entwicklung zu, den Kräften, die einmal in Gang gesetzt, nie wieder aufhören. Und die Sprache wendet sich unaussprechlich an das Ich und gibt ihm die Gründe zu sprechen zurück.

Mallarmé hat mal geschrieben: „Das reine Werk impliziert das sprechende Hinwegtreten des Dichters, der die Initiative den Wörtern überläßt, den durch den Aufprall ihrer Ungleich­zeitigkeit mobili­sierten; sie entzünden sich im gegen­seitigen Widerschein wie ein virtuelles Gleiten von Feuern über Edelsteine, die im früheren lyrischen Wehen hörbaren Atemzüge oder die per­sönlich-enthu­sias­tische Satz­führung ersetzend.“

Seitdem es Gedichte gibt, läuft ein Wechsel­gesang zwischen Sprache und Ich, bei dem aus Mangel Fülle entsteht. Kann sein, es kommt aus lauter Wiederholung zu einer Verwandlung in ein „Lied aus reinem Nichts“, bei dem die Sprache feiert. Das tröstet mich.

Zuerst erschienenen in: Sprache im technischen Zeitalter.

Kerstin Preiwuß    22.10.2010   

 

 
 
Kerstin Preiwuß
Lyrik