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Lisa Fritsch
Beau Rivage 317

An dem Tag, an dem ich in Genf eintraf, wurde wegen einer Bomben­drohung der Haupt­bahnhof evakuiert. Ein Terror­komman­do hatte einen Anschlag geplant. Aber da befand ich mich bereits im Hotel Beau Rivage, in dem seinerzeit Uwe Barschel tot aufge­funden worden war. Von der Hotel­terrasse aus konnte ich den Rad­dampfer sehen, der das Wasser im Sonnenlicht zer­stäubte. Ich ver­suchte mir vorzustellen, was sich hier am Ufer des Genfer Sees vor 20 Jahren ereignet hatte. Der bis dahin erfol­greiche Politiker verlor sein Leben inmit­ten einer Affäre, die sich zu einem der größten poli­tischen Nach­kriegs­skandale aus­weitete. Immer stärker und über das Land Schleswig Holstein hinaus, dessen Minister­präsident er fünf Jahre war, wurde das Vertrauen in die Politik erschüttert. Barschels Tod bedeutete mehr als das Ende eines Lebens.
  „Ja, das ist hier passiert“, gab der Chef an der Rezeption unver­bindlich zu.
  „Die Hintergründe sind bis heute nicht geklärt“.

Im Verlauf der Nach­for­schungen hat sich gezeigt, wie ungewöhnlich Barschels Situation im Hotel Beau Rivage war. Jahre später versuche ich die Einzel­heiten jenes verhängnis­vollen Sonntages zu begreifen. Ich gehörte zu denen, die zunächst an Selbstmord glaubten. Heute bin ich davon überzeugt, dass es Mord war. Nie hätte er nach Genf kommen und nie in diesem Hotel übernachten dürfen, wo man ihn erwartet hatte.

Texte aus: Wannen Wonnen. Sonderzahl Verlag.

Lisa Fritsch    18.06.2010   
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