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Membrum Virile

Meine Geburt stand unter einem schlechten Stern. Kurz bevor ich zum ersten Mal nach Luft rang, ertränkte sich Mr. Tripps, der Familiensittich, im Badehäuschen und Oma Fine brach sich den Hals beim Versuch, ihn davon abzuhalten.

Es gab keine Abschiedsbriefe, die mich entlastet hätten. Überzeugt davon, mit meiner Geburt das Ableben seiner Mutter forciert zu haben, bestritt Vater a priori jede Beteiligung an meinem Dasein. Er hielt mich für das teuflische Produkt eines wollüstigen Elementargeistes, der es Nacht für Nacht meiner Mutter besorgt hatte, während er in fremden Städten Konzerte gab, um die Familie zu ernähren. Ein nach Schwefel stinkender Incubus, der mich in seine Frau pflanzte, um später mit meiner Hilfe die Weltherrschaft an sich zu reißen. Dabei lag die nach Überzeugung meiner Mutter schon in Oma Fines Händen. Sie war der "Don" der Familie und führte häufig vom Keller aus Ferngespräche nach Saudi-Arabien.

Die Nachricht von den Todesfällen ereilte meinen Vater, noch bevor sich die Tür zum Kreißsaal öffnete. Eine waschmaschinengroße Hebamme mit Pianistenhänden trat in den Warteraum und rief:
"Wer ist der Glückliche?"
"Ein Incubus!", schluchzte mein Vater und rannte nach Hause.

Um ihn in seinem albernen Dämonenglauben nicht zu bestärken, verschwiegen wir ihm die näheren Umstände meiner Geburt. Ich kam völlig schweigsam zur Welt und auch meine Mutter machte keinen Mucks. Sie war stinksauer, weil ich ihr in eine Doppelfolge des Denver Clans geplatzt war. Und wenn sie stinksauer war, schwieg sie oder rauchte Kette. Sie hätte auch während der Entbindung gern geraucht, um nicht schweigen zu müssen, erklärte sie später. Besonders während der Presswehen. So aber ging ich als die stillste Geburt in die Geschichte des Severinsklösterchens ein.

Als Tante Luise "Der Don ist tot!", in den Hörer brüllte, war die Sache mit dem Denver Clan vergessen und ich verließ als Tochter einer euphorischen Mutter das Krankenhaus.

Eine handtellergroße Delle im Grammofondeckel, ein tiefgefrorener Hüftknochen und zwei Zähne in einem Samtkästchen erinnern noch heute an den Todestag von Oma Fine. Das Grammofon ist aus Mooreiche und der Gedanke, dass Fines Kopf den schweren Deckel so eindellen konnte, half meinem Vater schließlich über den Verlust hinweg.
"Sie hatte die härteste Hirnschale der Welt", verkündete er jedes Mal stolz beim Entstauben und Polieren der Delle.
"Ja, sie hat dem Ding so richtig eingeheizt!", versicherten wir ihm, hielten den Daumen hoch und tauschten im Keller den ekligen Hüftknochen des "Don" gegen ein Modell aus Ton aus.

Trotz des schlechten Starts fehlte es mir nicht an mütterlicher Zuwendung. Schon früh wälzte ich mit meiner Mutter medizinische Schmöker, die sich mit seltenen, dermatologischen Krankheiten befaßten. Die Faszination am Greuel hielt uns bis in die Nachtstunden wach. Warzenübersäte Gesichter, eitrige Flechten, chronische Ausschläge und interessante Beulenbildungen an den undenkbarsten Stellen des menschlichen Körpers waren meine bevorzugten, nächtlichen Begleiter. Es gab da die dreibrüstige Tibetanerin. Sie war mein Favorit. Frau Holle und Peter Pan kamen einfach nicht gegen den wohlgeformten dritten Busen an, der da aus ihrer Stirn wuchs und das rechte Auge überdeckte. Bei Vollmond schwoll er angeblich an. Über die Beschaffenheit des Busens bei Neumond schwieg sich die tibetanische Frau aus. Das machte mich fertig.

Meine Mutter quälte sich mit der Frage nach der Körbchengröße.
"Sie hat dort oben doch mindestens 50 D?!"
"Nein, sie hat Cup C, aber der 50er-Umfang dürfte hinhauen", behauptete ich.

Dank Madame Camille kannte ich mich mit BH-Größen bestens aus. So oft ich konnte, lungerte ich in ihrem Dessous-Lädchen herum und ließ mir alles Wissenswerte über den weiblichen Busen erklären. Madame Camille erkannte sehr schnell meine Leidenschaft und nannte mich ihre "petite élève". Ich lernte spielerisch mit Früchten. Cup A stand für Mandarinen, Cup B für mittelgroße Äpfelchen, Cup C für Pampelmusen und Cup D für Honigmelonen. Weiter ging's mit Wassermelonen und Kürbissen. Die Früchte für Cup G - Z mussten noch erfunden werden. Die weibliche Bevölkerung meiner Stadt war für mich ein einziges großes Obstsortiment.

Mein Vater versuchte, mir die schönen Künste näherzubringen. Er lehrte mich das Komponieren und Singen, steckte mich in einen Malkurs und nahm mich wutschnaubend wieder heraus, als ich ihm die "Warzenschulter eines sumatranischen Jünglings" in Öl präsentierte. Es war ein schönes Gemälde. Meine Mutter hängte es in den Keller zu den anderen Bildern. Es gab da das "Dorf jungfräulicher Elefantenfrauen", die "Tibetanische Brust bei Neumond", "Herbstflechten" und "Membrum Virile", das einen überglücklichen Mexikaner mit 2 Schwänzen zeigte. "Membrum Virile" bekam mein Vater auf dem Kopf stehend zu sehen. "Das nenn ich doch mal Kunst!", rief er begeistert aus. "Aber warum spielt der Flötist auf zwei Instrumenten gleichzeitig? Außerdem könnte er sich mal den Bart schneiden. Wer ist denn das überhaupt?" Es war stets ein schlechtes Zeichen, wenn mein Vater anfing, die Gemälde hin- und herzudrehen. Meine Kindheit führte mich allzu oft in den Keller mit dem Hinweis So läuft das nicht!

Meine Neigung zum Experimentieren zeigte sich früh. Im zarten Alter von vier begann ich, die ersten Pflanzen anzunagen und auf die Nebenwirkungen zu warten. Die leicht säuerlichen, durchaus bekömmlichen Butterblumen in unserem Garten bildeten den Anfang. Der Löwenzahn auf dem Nachbargrundstück verursachte leichte Atembeschwerden. Aber die köstliche Milch der meisten Pflanzenstengel berauschte mich. Ich erweiterte mein Territorium, fraß mich durch wilde Gärten, weidete an grasbewachsenen Hügeln und machte selbst vor den saftigen Wiesen, die den Fußballplatz umgaben, nicht Halt.

"Dein Kind grast die ganze, verdammte Stadt ab!", schrie mein Vater die Mutter an.
"Ach ja? Wer sagt das?"
Gerade lief ein Double-Feature von Reich und Schön.
"Unser Nachbar möchte sie zum Heckenstutzen mieten!"
"Frag ihn, was dabei herausspringt und vergiss' auf dem Rückweg meine Zigaretten nicht!", schnitt meine Mutter ihm und Seifenoperkönigin Stefanie Forrester das Wort ab.

Meine Tage verbrachte ich hauptsächlich damit, das Fassungsvermögen meiner Blase auf natürliche Weise zu erweitern. Ich ging nicht mehr auf dieToilette. Das führte neben einem verkniffenen Gesichtsausdruck zu übersteigerten Aggressionen.

Als ich von der Existenz des Sandmanns erfuhr, bekam ich panische Angst.
"Er streut dir doch nur Traumkörnchen in die Augen, damit du einschläfst", sagte meine Mutter.
"Ach ja? Nenn' mir einen, der schmerzlos einschläft, wenn er die Augen voller Sand hat!"
Ich fand das krank. Was waren die Beweggründe dieses Mannes? Und warum hatte er nichts Besseres zu tun, als mit Sack und Schaufel bewaffnet in die Schlafzimmer fremder Menschen einzudringen? Für mich war die Sache klar: Der Sandmann war gefährlich und stand dem debilen Hasen, der die Haushalte in nur einer Nacht ungefragt mit Eiern überschwemmte, in nichts nach. Ich ließ meine Eltern auf "Die Haut und ihre Anhangsgebilde" von Georg Deutschmann schwören, dass es keinen Streichholzmann gab, der in Vollmondnächten die Fußsohlen junger Mädchen ansengte, damit sie besser laufen konnten.

Alles, was es im Überfluss gab, machte mich misstrauisch. So übte ich mich kurz vor der Einschulung in exzessivem Atmen. Schuld daran war mein Vater. "Es gibt nichts umsonst, merk' dir das! Wenn es was umsonst gibt, hat es einen Haken. Spare in der Zeit, so hast du in der Not!", predigte er bei jeder Gelegenheit. Ich sparte Sauerstoff. Für schlechte Zeiten hortete ich frische Luft in Tüten und Dosen und eignete mir die Atemtechnik unseres Hundes an. "Warum hechelt das Kind so?" fragte Tante Luise, die als Schwester meiner Mutter, Geschiedene meines Onkels und in der gesamten Nachbarschaft als "die Besoffene aus dem Bushäuschen" bekannt war. Volltrunken zog es Tante Luise in die Ferne. Meist schaffte sie es bis zum Bushäuschen, wo wir sie oft aus einem Bierflaschenteppich herausschälen mussten.
"Na, sie sammelt Sauerstoff", brummte mein Vater unwillig.
"Ja weißt du denn auch, Kleines", hob Luise an, "daß die Haut mitatmet?" Dabei beugte sie sich so weit vor, daß sie mir mit der rotfarbenen Spitze ihrer Haarpyramide ins Auge stach. "Nein!" rief ich erstaunt aus, entledigte mich aber augenblicklich all meiner Kleidung. Lange Zeit war ich ein nacktes, sauerstoffdurchtränktes Kind.

Mit der Einschulung begannen die ersten zwanghaften Verhaltensweisen.
"Halt' bloß die Augen offen. Dann verpaßt du nichts!", rief mir meine Mutter am ersten Schultag zu, nachdem man mich gewaltsam, Finger für Finger, von ihr losgerissen hatte. Ich hielt die Augen offen. Nach ein paar Tagen gelang es mir, das Zwinkern völlig einzustellen. Meine Augen lagen auf Trockendock, doch dafür nahm ich täglich wesentlich mehr Eindrücke in mich auf als meine zwinkernden Mitschüler, denen ich bald meine nutzlosen Lider zum Verkauf anbot.
"Ihr Kind starrt", sagte man meiner Mutter beim ersten Elternsprechtag. "Es starrt?" "Nun, es bewegt seine Lider nicht", erklärte mein Klassenlehrer mit einem raschen Seitenblick auf mich. Er mied mich. Mein Glotzen hatte ihn mit der Zeit nervös gemacht.

Ich wurde zu einem guten Therapeuten geschickt, der mich von der Notwendigkeit des Zwinkerns zu überzeugen suchte. Stundenlang saß ich in einem abgedunkeltem Zimmer und beobachtete, wie Herr Hänse demonstrativ seine Augen vor mir auf- und zuschlug. Als mir die Sache zu albern wurde, blinzelte ich einmal heftig mit dem rechten Augenlid. Es quietschte dankbar. Hänse knuffte mich wie verrückt und entließ mich als geheilt in die Welt der Zwinkernden. Mein Tick war damit nicht etwa verschwunden. Ich verfeinerte ihn, indem ich drei Tage mit dem rechten, drei Tage mit dem linken Auge zwinkerte. Sonntags guckte ich gar nicht. Das glotzende Auge richtete ich nach wie vor auf meinen Klassenlehrer, der seinerseits ein nervöses Zucken entwickelte.

Mein Schulweg war langweilig. Also begann ich, meine Schritte bis nach Hause zu zählen. Ich kam auf 1216. Mal versuchte ich, die Zahl zu halbieren, mal zu verdoppeln, mal schritt ich aus wie ein Soldat, mal wie eine Spitzentänzerin. Die Langeweile blieb. Der Heimweg wurde zum Hindernisparcours, den ich in drei Etappen einteilte, die jeweils mit einer streng vorgegebenen Anzahl an Bodenberührungen zu bewältigen waren. Der erste Streckenabschnitt begann vor dem Schultor und endete unmittelbar dahinter, mußte aber mit 35 Bodenberührungen zurückgelegt werden. Auf der Stelle zu laufen war nicht erlaubt. Die zweite Etappe war die gefährlichste. Sie führte über eine große Kreuzung, die mit geschlossenen Augen zu bewältigen war. Der letzte Abschnitt begann am Stamm einer Eiche aus Tante Luises Garten und endete vor der elterlichen Türschwelle. Mit 16 Schritten und vier Flugrollen war er zu schaffen. Versagte ich auf einer Etappe, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder ich begann wieder am Schultor oder ich erteilte mir Absolution durch die Abbüßung sorgfältig erdachter Strafen. Unterlief mir ein Fehler beim letzten Abschnitt, konnte ich ihn durch eine innige Umarmung mit Tante Luises Jägerzaun ausmerzen. Öffnete ich versehentlich auf Etappe drei ein Auge, mußte ich den Rest der Strecke ohne T-Shirt zurücklegen. Das entband mich nicht etwa von den Flugrollen.

"Das ist nicht unser leibliches Kind!" riefen meine Eltern oft wie aus einem Munde zu den gaffenden Nachbarn, wenn ich mit entblößtem Oberkörper zum Mittagessen auf der Türschwelle aufschlug.
Tante Luise war es peinlich, wenn sie mich dabei erwischte, wie ich ihren Jägerzaun umarmte. "Was machst du da nur?" fragte sie und zerrte mich ins Haus. "Du solltest dich was schämen!" "Wenn du mich ihn jetzt nicht umarmen lässt, komme ich vielleicht in einer halben Stunde ohne Shirt vorbei und knuddel ihn trotzdem", entgegnete ich trotzig.

"Dein Kind ist gänzlich aus der Art geschlagen!" ereiferte sich mein Vater.
"Ach ja? Und was meinst du, woher es seine Macken hat? Na?", schrie meine Mutter aufgebracht.
"Vom Incubus?!"

Auch ich dachte über diese Angelegenheit nach, während ich oben in meinem Zimmer saß, mit dem linken Auge zuckte und versuchte, Bleistifte mit meinen Lippen zu spitzen.

Auf dem erzbischöflichen Gymnasium für Mädchen entdeckte ich schnell, daß Schwester Leoni soff wie ein Loch. Sie gab Kunstunterricht. Ich brachte ihr hochprozentigen Stoff von zu Hause mit. Dafür ließ sie mich in Ruhe. Ich hatte keine Zeit, stundenlang auf Bildkompositionen verstorbener Künstler zu starren. Das wollte ich mir für die Zeit auf dem Sterbebett aufheben. Als 14jähriger Teenager interessierte mich der Umgang mit Ton und was sich aus ihm formen ließ. Es entstanden einige Kunstwerke, die mein Vater zu den Gemälden in den Keller verbannte:

Das blutende Ohr Van Goghs
Vagina einer Übergewichtigen
Rabelais bei der Sezierung an einem Gehängten
Komplettes Werkzeug des Rippers
Ein Jungfrauenopfer zu Ehren der Göttin Kali

Die "Zeugung Mose" stieß auf großes Interesse. "Schön, wirklich schön. Ein religiöses Motiv, sagtest du? Was stellt es dar?", fragte mein Vater und betrachtete ehrfürchtig das tönerne Gebilde in seinen Händen. "Na, einen hebräischen Bauern und ein Pharaonenflittchen beim Akt."
Wortlos und mit hängenden Schultern trug er die Zeugung in den Keller. Er sprach zwei Wochen lang nicht mit mir. Zur Besänftigung töpferte ich ihm die "Papagena" aus Mozarts "Zauberflöte". Mein Vater weinte vor Rührung. Als er sich beruhigt hatte, fragte er, was es mit dem seltsamen Hubbel auf Papagenas Stirn auf sich habe. "Schau, das ist eine Pampel...", hob ich an, wurde aber von einem kräftigen Tritt meiner Mutter zum Schweigen gebracht.

Als ich erfuhr, daß Gehirnzellen absterben, traf ich den Entschluss, all die nutzlosen Lehren und Eindrücke, die täglich auf mich eindrangen, abzublocken. Ich teilte mein Gehirn in Sektoren ein und führte meinen geistigen Beeten fest entschlossen nur das zu, was ich als erachtenswert betrachtete. Albert Camus Erkenntnis der Sinnlosigkeit aller Dinge kam mir bei dem Versuch zupass, bereits gespeicherte, jedoch hartnäckig auf ihren Platz beharrende, Daten zu löschen.

Die tibetanische Brust erhielt einen Ehrenplatz neben der Erinnerung an eine Feuersbrunst, während der Sandmann und die Knallgasprobe rausflogen. Die chronologische Abfolge der Ereignisse während der französischen Revolution ließ mich kalt. Doch die freizügige Oberbekleidungsmode des weiblichen französischen Pöbels speicherte ich gleich unter der naturgetreuen Abbildung einer blutverschmierten Guillotine.

Aus Angst, meine grauen Zellen versehentlich mit Schrott zu füllen, schwänzte ich den Lateinunterricht. Unter der Doppelbelastung einer toten Sprache und eines nervtötenden Sprachfehlers der Lateinlehrerin, Frau Schopp, befürchtete ich die totale Verwüstung meiner sorgfältig angelegten Sektoren.

Frau Schopp begann ihren Unterricht mit einer Drohung: "Sie alle werden, mäh, das große mäh, Latinum unter meiner mäh, Leitung schaffen. Mäh?" Ihr Latein hörte sich nicht besser an: "Ego cecidi mäh, unum porcum et mäh ego habeo bonum mäh vinum. Mäh?" (Ich habe geschlachtet mäh ein Schwein und mäh ich habe guten mäh Wein. Mäh?) Ich schaffte weder das kleine, noch das große Latinum, gewann aber dafür einen großen, freien Sektor für zukünftigen Drogenmißbrauch.

Während einer Klausur zu Stefan Zweigs "Schachnovelle" entdeckte ich Kira, eine Gleichgesinnte. Ausdruckslos saß sie vor ihren leeren Blättern und sinnierte. Gelegentlich ging ein Ruck durch ihren Körper, woraufhin sie erschrocken zur "Schachnovelle" griff und heftig darin herumblätterte. Sie tat das mit einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Wie ein junger Welpe, der seine tapsige Pfote zum ersten Mal in tiefen Schnee taucht. Dann - womöglich zur Beruhigung - wandte sie sich einem Haufen bunter Radiergummis zu, den sie vor sich ausgebreitet hatte. Sie radierte mit einer Inbrunst, daß es eine Lust war, ihr dabei zuzuschauen. Die Schnipsel sortierte sie nach Farben und deponierte sie in einem eigens dafür vorgesehenen Kästchen.
Wir wurden Freunde.

Kira brachte mir bei, Joints zu drehen und die Muskulatur der Oberschenkel so weit anzuspannen, daß sie nahezu jedes Gewicht aushielten. Als uns das Stemmen kleinerer Krafträder zu langweilig wurde, legten wir unsere Beine unter das Auto ihres Bruders, der dann zwei-, dreimal über uns hinweg fuhr. Als mein Vater davon erfuhr, war er außer sich. Meine Mutter war begeistert und ließ sich zusammen mit uns überfahren.

Kira soff mit der gleichen Inbrunst wie sie radierte. Wir verbrachten viel Zeit in zwielichtigen Bars, in denen man schon breit war, wenn man nur einmal tief durchatmete. Als entschiedene Gegner der Mittelmäßigkeit kifften und soffen wir uns durch die gesamte Stadt bis in die Notaufnahme des Krankenhauses. Wir kamen ins gleiche Zimmer und erhielten die gleiche, knappe Genesungskarte:
"In vino mäh veritas. Ibi jacet mäh lepus. Mäh?"
(Im Wein mäh liegt die Wahrheit. Da liegt mäh der Hase [im Pfeffer]. Mäh?)
Selbst von meinem Vater erhielt ich einen Genesungswunsch. Er schickte mir den Holzschnitt eines gefallenen Engels und unterschrieb mit "Incubus".

Die Zeit kurz vor den Abiturprüfungen verbrachte ich vor dem Fernseher. Mit halbgeschlossenen Augen und verzücktem Gesichtsausdruck erforschte ich die Welt der Seifenopern. Meine ungeteilte Aufmerksamkeit galt dem Modehaus Forrester aus Reich und Schön. Die Dialoge waren von simpler Schönheit:

Ein Büro in LA
Ridge Forrester: "Mutter, wo haben wir noch gleich die Stoffe für die Frühjahrskollektion?"
Stefanie Forrester: "Na, die hat sich Brooke, dein kleines Flittchen, unter den Nagel gerissen!"
Brooke Logan: "Stefanie! Ich werde deinen Sohn heiraten. Du kannst es nicht verhindern.

Ein anderes Büro in LA
Thorn Forrester: "Vater, wo haben wir noch gleich die Mappe für die Winterkollektion?"
Eric Forrester: "Na, die hat Clarke, der kleine Emporkömmling, gestohlen!"
Clarke: "Eric! Ich werde deinen Sohn heiraten. Du wirst mich nicht daran hindern können.

Strandhaus in LA
Taylor Hayse: [blickt versonnen auf den Wehenschreiber] Oh Ridge! Wie wirst du reagieren, wenn du erfährst, daß ich dein Kind unter meinem Herzen trage?"

Das Problem war, daß Taylor nie mit der Sprache herausrückte. Bis heute warte ich darauf, wie Ridge reagieren wird. Taylor war verdammt nah dran, es ihm zu beichten. Doch immer kam Brooke dazwischen. Ich lernte den Satz auswendig. Bald konnte ich ihn flöten wie die Hayse und trug den gleichen sehnsuchtsvollen Ausdruck in den Augen.
"Oh, Ridge! Wie wirst du reagieren, wenn du erfährst, daß ich dein Kind unter meinem Herzen trage?" sagte ich beim Frühstück zu meiner Mutter. Als ich meinen Vater mit der Stimme von Thorn Forrester fragte, wo er noch gleich die Mappe für die Winterkollektion habe, zertrümmerte er den Fernseher und trug ihn in den Keller zu den Bildern und der "Zeugung Mose".

Aus mir ist etwas geworden.

Ich studierte Medizin und habe heute mein Auskommen als glückliche Besitzerin einer kleinen Praxis im Süden der Stadt. Die Kunstwerke aus dem Keller meines Vaters schmücken nun die Wände meines Behandlungszimmers. "Sie ist völlig aus der Art geschlagen", behauptet einer meiner Kollegen, der mich zufällig dabei beobachtete, wie ich zuerst in einen Knöterich biss und mich dann in einer rasanten Spagatabfolge durch eine prächtige Allee nach Hause schob.



Majissa
Prosa