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Der Mückenstich Der Mückenstich

Freundschaften mit Kretern sind fix geschlossen und rasch vorbei. Manche lösen sich schneller in Luft auf, als ich „Schlüpfer“ sagen kann. Die kurze Zeitspanne zwischen fix und rasch genieße ich wie den Sonnenstrahl, der meinen Bauch kitzelt, ehe ihn die nächste Wolke verschlingt. Selten ist ein Zerwürfnis der Auslöser für die Erkaltung einer hingebungsvoll gehüteten Beziehung. Die meisten Freundschaften zerbrechen schlicht unter dem Druck der Öffentlichkeit und immer spielt mein Talent, Missgeschicke anzuziehen, dabei eine wesentliche Rolle.

Blicke ich an meiner Lebensschnur entlang zurück in die Vergangenheit, sehe ich Peinlichkeiten aneinandergereiht wie Perlen unterschiedlicher Größe auf einem kilometerlangen Komboloi. Kleine Blamagen wie das Steckenbleiben im Drehkreuz eines überfüllten Supermarktes stecke ich schon nach wenigen Minuten weg. Das sind Kinkerlitzchen. Daran halte ich mich nicht auf. So etwas passiert mir dauernd. Die Filialleiter der von mir besuchten Supermärkte haben sich inzwischen an die seltsame Frau gewöhnt, die nach einer Gemüsetüte greift und dabei das Rhabarbersortiment aus Guatemala vom Regal fegt. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht nach Gegenständen schnappe, die mir aus den Händen zu gleiten drohen. Und ich halte stets viel in den Händen: Schlüsselbunde, Feuerzeuge, Mintbonbons, Visitenkarten und Slipeinlagen. Ich bin eine Festhalterin - derart verträumt, dass ich augenblicklich vergesse, wer mir was mit einem „Halt mal kurz!“ in die Hand gedrückt hat. Schon als Kind hielt ich die Zipfel meines Plumeaus fest umklammert und gab sie erst frei, nachdem meine Mutter mich Finger für Finger von ihnen gelöst hatte.

Der jeweilige Peinlichkeitsfaktor eines Fiaskos entscheidet darüber, ob ich mit Gegenständen in einen einseitigen Dialog trete oder nicht. Beispielsweise mit Checkkarten, die ich umständlich aus meiner Handtasche nestle und bereits in leichte Panik verfalle, weil die Leute in der Schlange hinter mir leise seufzen. In 98 von 100 Fällen geschieht das Unvermeidliche: Die Karte entgleitet mir, fällt vor den Geldautomaten und ich sage lässig „Hey hey!“. Phase I des Fiaskos verlangt nach einem „Hey hey!“, weil „Oups!“ zu dämlich und „Oh nein!“ eine Nummer zu emotional wäre. „Hey hey!“ klingt, als habe man noch alles unter Kontrolle und suggeriert eventuellen Zuschauern absolute Sicherheit bei der nachfolgenden Pannenbewältigung. „Hey hey!“ steht für die einzig passable Art, die Checkkarte vom Boden aufzuheben: Flugs, geschmeidig und ohne großes Aufsehen. Phase II beginnt, wenn die dämliche Checkkarte sich auch beim fünften Versuch meinem Griff entzieht und aus unerfindlichen Gründen am Boden haften bleibt. „Komm schon!“, sage ich dann salopp an den Magnetstreifen gewandt und spüre die mitleidigen Blicke der Leute auf mir ruhen. „Komm schon!“ entfaltet seine Nonchalance aber nur bei anschließendem Erfolg. Bleibt der aus, erröte ich, zupfe mir imaginäre Flusen vom Kleid und begebe mich in Phase III, die ich krabbelnd zwischen den Beinen wildfremder Menschen verbringe und über die ich mich an dieser Stelle nicht weiter auslassen will.

Traumatische Erlebnisse der Phase III hängen mir monatelang nach. Ich verarbeite sie im Kreise meiner Freunde, von denen ich während meines Vortrages gleichmütige Mienen und bedingungslose Solidarität erwarte. Haarklein berichte ich ihnen von dem Innenspiegel, den ich nur kurz nach rechts drehen wollte, um den Sitz meiner Frisur zu überprüfen. Unfassbarerweise brach er einfach so ab. Natürlich hielt ich ihn fest. Was blieb mir auch anderes übrig? Das Auto gehörte einem charmanten Bekannten, mit dem ich an jenem Tag zum ersten und letzten Mal verabredet war.
Kürzlich schlug mein Freund Ed vor, ich solle mir doch endlich einen Sticker mit entsprechender Warnbotschaft aufnähen. Daran könne jeder bereits von weitem erkennen, mit wem er es zu tun habe. Er meinte das tatsächlich ernst und ich konnte es ihm nach der entsetzlichen Kartoffelaffäre nicht mal verübeln. Kurz zuvor verschlug es mich nämlich in einen brusthohen Aldikarton. Nach einem beherzten Griff zum letzten Kartoffelsack sank die Seitenwand aus Pappe ein und zog mich im Zeitlupentempo mit sich. Es blieb mir gerade genug Zeit fürs „Hey hey!“, bevor ich lässig im Innern verschwand. Unten im Karton wurde mir klar, dass „Komm schon!“ ausnahmsweise entfallen und ich gleich zur Phase III. übergehen konnte, die ich wie immer krabbelnd in einem ruhmlosen Procedere hinter mich brachte.

Auf Kreta verberge ich meine Missgeschicke unter dem Mäntelchen der Lebensfreude. An jeder Ecke finden sich gebückte oder strauchelnde Gestalten in Fiaskophase II. Männer und Frauen aller Altersstufe scharren im Staub nach entglittenen Gegenständen, ohne „Élla! - komm schon!“ zu sagen. Manchmal verlieren sie den Halt. Einst beobachtete ich Alexandros, pensionierter Arzt und Hobbyastronom aus Viannos, bei dem Unternehmen, sein Komboloi aus einem blühenden Stechginsterbusch herauszuklauben. Die Kette hatte sich verheddert und versank durch allzu eifrige Befreiungsversuche nur noch tiefer im Geäst. Alexandros entsann sich seiner Berufung, ging in die Hocke, schob behutsam die Zweige auseinander und operierte an mehreren Stellen zugleich. Er bedachte Busch und Komboloi mit einem unverständlichen Wortschwall. Schließlich nahm er seinen Stock zur Hilfe, stocherte, zog und zupfte. Erste Schweißperlen rollten ihm über die Stirn. Ein Feuerzeug kam kurzweilig zum Einsatz. Ich dachte an hochkomplizierte Gehirnchirurgie, an präzise Zahnbeinaushöhlungen, ja, ich dachte sogar an Asklepios, griechischer Gott der Heilkunst, der durch Worte, Elemente und Messer heilte. Letzteres zog auch Alexandros hervor und wog es grimmig in der Hand. Offenbar gelüstete es ihn nach partiellen Verstümmelungen. Der Stechginster reagierte mit einem eigentümlichen Quietschen, blieb soweit intakt und schlang sich nach wie vor um das Komboloi. Alexandros wandte seinen letzten Kniff an: Er versetzte dem Gebüsch einen wütenden Tritt, schrie „Ich bin frei!“ und wandte sich zum Gehen. Wenige Meter später drehte er um, stürzte zurück und sank vor dem Strauch auf die Knie. Er drosch mit den Fäusten auf die Pflanze ein und rief etwas, von dem ich überzeugt bin, es trotz meines eigenwilligen Grammatikverständnisses klar und deutlich verstanden zu haben: „Tha se pníxo! - Ich werde dich erwürgen!“ Das hier ging weit über Fiaskophase III hinaus und fand mit der fulminanten Entwurzelung des Stechginsters ein imposantes Finale. Es war unglaublich, aber der Anblick des zersausten Mediziners im Ruhestand, der einen zerrupften Busch hinter sich herschliff, hatte absolut nichts Entwürdigendes. Spontan nahm ich mir vor, griechische Krankenhäuser zu meiden, erwog aber, mein Verhalten während peinlicher Situationen grundlegend zu ändern. Voller Vorfreude dachte ich an entwurzelte Drehkreuze, zertrümmerte Geldautomaten und brennende Aldikartons. Leider musste ich schnell feststellen, nicht aus meiner Haut zu können. In wirklich entscheidenden Situationen fehlt es mir stets an gerechtem Zorn.

Strauchelnden Menschen unterstellt der Kreter in erster Linie pure Lebenslust und das damit einhergehende dringende Bedürfnis, drauflos zu tanzen. Dem äußeren Anschein nach verliefen meine Aufenthalte auf Kreta also nahezu pannenfrei. Ich fiel nicht weiter auf. Man hielt mich für eine urbane, zuweilen etwas theatralisch anmutende, tanzfreudige Persönlichkeit. Das wäre auch so geblieben, hätte ich Stavros, einen befreundeten Witwer, im letzten Mai nicht anlässlich seines 75. Geburtstages zu einer Theateraufführung nach Ano Viannos begleitet. Zur Feier des Tages trug Stavros einen dunkelbauen Anzug und ich eine kunstvolle Hochsteckfrisur. Zusammen sahen wir aus wie Ben Cartwright in Begleitung seiner Enkelin.

Wie bei jedem traumatischen Erlebnis steht mir jede Einzelheit des katastrophalen Ereignisses mit glasklarer Präsenz vor Augen:

Die fette Mücke, die auf meinem linken Fuß Position bezog, um ihren blutrünstigen Rüssel in mein Fleisch zu versenken, die Versammlung der kretischen Kinder auf der Bühne der kleinen Schulaula von Ano Viannos, das Durcheinandergeschreie der aufgeregten Eltern, die sich um die besten Plätze stritten und schließlich Stavros‘ warmes Lächeln, sein mir zugewandtes Gesicht. Als das Licht im Saal erlosch und der Kameramann, der sein Equipment direkt neben uns aufgebaut hatte, sein Augenmerk auf die Lehrerin, Frau Raptakis richtete, die das Theaterstück „Alle Völker werden eins” mit ein paar einleitenden Worten eröffnete, stach die Mücke zu.

„...so verneigen wir nun in freudiger Erwartung unser Haupt...”
intonierte Frau Raptakis, und ich tat wie mir geheißen, indem ich mich weit herab beugte, um das Insekt mit einem gezielten Schlag auf den Kopf zu erledigen.

Meine Freunde versuchten mich später unter großen verbalen Anstrengungen davon zu überzeugen, dass eine Mücke nicht zu großen Gefühlen wie dem der Schadenfreude imstande sei. Bis heute aber meine ich, ein hämisches Aufblitzen in den Tiefen ihrer Facettenaugen erkannt zu haben. Denn mein Schlag verfehlte sie. Dafür verknotete sich mein Haar beim Aufrichten auf halber Höhe mit Stavros’ Reißverschluß. Oder anders ausgedrückt: Aus der Hochsteck- wurde eine Tiefsteckfrisur. Es lag an der Dunkelheit und dem geringen Gewicht der verfangenen Haarpracht, dass Stavros nicht sofort bemerkte, was sich unmittelbar unter seinem Hosenbund abspielte. „Hey hey!“, hauchte ich lässig in Richtung Reißverschluss. Der erste Versuch, mich zu befreien, ging im tosenden Applaus der Menge unter. In die darauffolgende Stille trat die kleine Maria auf die Bühne. Zwischen dem kleinen Spalt der vorderen Stuhllehnen hindurch beobachtete ich ihren Auftritt. Das Mädchen öffnete und schloss verzweifelt seinen Mund in dem Versuch, ein kretisches Gedicht vorzutragen. Es brachte keinen einzigen Ton hervor. Das Kind brach völlig verängstigt in Tränen aus und floh von der Bühne. Stravros räusperte sich lautstark und murmelte:
„Das arme Ding, wie schrecklich!”
„Glaub mir, Stavros, wenn du nur kurz nach unten schaust, wirst du erkennen, dass es Schrecklicheres gibt”, entgegnete ich ihm aus der Höhe seines Schoßes.
Stavros’ Augen blicken hinab und nahmen die Größe von Mühlrädern an. Er hatte das ganze Ausmaß der Katastrophe auf einen Blick erfasst.
„Komm schon!“, raunte ich und zog vorsichtig an einer üppigen Haarsträhne, die Stavros’ Hosenknopf umschlang.
„Was machst du denn da, Kindchen?”, flüsterte er erschrocken und schaute mit wildem Blick um sich.
„Ich bewundere nur deine Bundfalte aus der Nähe, Stavros. Befrei‘ mich um Himmels willen! Mein Haar hängt in deinem Reißverschluß fest. Oh je, ist das peinlich!”
Ich begann zu jammern und wünschte mir einen schnellen Tod.
Stavros’ Sitznachbar, ein Kreter mit enormen Augenbrauen, hatte längst das Interesse am Theaterstück verloren und grinste mich schmierig von oben herab an. Hektisch zerrte Stavros erst an meinem Haar, dann an seiner Hose. Es tat sich gar nichts. Ein beleibter, vollständig in grün gewandeter, Junge sang gerade ein Lied, in dem es um Deutsche, Bier und fette Würste ging. Anschließend - ich traute meinen Augen kaum - versuchte er sich an einem Schuhplattler. Für kurze Zeit vergaß ich mein Dilemma und stöhnte innerlich auf. Schuhplattler und Bierkonsum? Pah! Der kleine Tänzer erntete frenetischen Applaus. Ich nutzte den Lärm und sprach im Befehlston jene Worte aus, die Stavros vermutlich das letzte Mal in seinem Leben aus dem Mund einer jungen Frau hören würde:
„Öffne deine Hose! Augenblicklich! Sonst werde ich verrückt!”

Auf der Bühne sangen die zwei pummeligen Fragonikolaki-Geschwisterchen das Lied der Völkerverständigung:

„...kommt zusammen jung und alt...!

Viele der Eltern brachen in ungehemmtes Schluchzen aus.

Stavros wechselte die Gesichtsfarbe. Seine Augen staken wie glühende Kohlen in einem weißgekalkten Ofen.
„Oh, nein!” stöhnte er ”Das werde ich ganz bestimmt nicht tun, Kindchen. Meine liebe Frau wird sich im Grabe herumdrehen.”
”Wir werden deiner lieben Frau bald Gesellschaft leisten. Sie werden nämlich gleich das Licht anmachen und uns so vorfinden. Möchtest du das? Also hör auf zu reden und mach’ endlich die verfluchte Hose auf, bevor die Pause beginnt”, zischte ich zornig zurück.
Stavros seufzte, bekreuzigte sich rasch und öffnete ruckartig den Reißverschluss. Damit zwang er meinen Kopf noch ein Stück weiter in seinen Schoß. Ich sah mich unmittelbar vor Fiaskophase III. Unser Sitznachbar grinste breit und wackelte mit den mächtigen Augenbrauen. Dann entrang sich ein lautes „Panagía mou! - Heilige Mutter Gottes!” seiner Kehle. Er zog die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf uns. Geistesgegenwärtig machte der Kameramann einen schnellen Schwenk und filmte uns aus der Totalen. Ich verstand ihn. Rein intuitiv folgte er dem elementaren Bedürfnis aller Kameramänner: Außergewöhnliches für die Nachwelt zu bewahren. Das Lied der Völkerannäherung verstummte jäh und in der Aula entstand eine ungesunde Unruhe. Irgendwann konnte ich mich aus Stavros’ Schoß befreien und richtete mich erschöpft aber erleichtert auf.

Nicht alle Mütter zeigten mit dem spitzen Finger auf mich. Manche verließen einfach erzürnt den Saal. Andere wiederum spuckten Olivenkerne auf mein Kleid. Wir genossen uneingeschränkte Aufmerksamkeit und verschwanden erst nach zwei Wochen aus der Gesellschaftsspalte der Regionalpresse. Stavros leistete in allen Kapellen der Umgebung Abbitte und spendete dem Verein der schönen Künste Unsummen für die Förderung talentierter Nachwuchsschauspieler. Unsere Freundschaft erkaltete zwangsläufig. Dafür erwärmte Stavros sich zunehmend für luftige, handbestickte Herren-Kaftane ohne Reißverschlüsse aus Saudi-Arabien. Von der gesellschaftlichen Hetzjagd auf meine Person erholte ich mich im Kreise meiner Freunde relativ schnell und trage mein Haar heute unverfänglich kurz.



Majissa
Prosa