Ösch
Ich mag Besuch. Besuch ist prima, und es gibt nichts Schöneres, als nach einem gemütlichen Abend mit Freunden die Tür hinter ihnen abzusperren und zu wissen, dass sie wirklich fort sind. Wäre da nicht Ösch, der noch auf dem Sofa hockt. Das Haar verstrubbelt, den Blick vernebelt, die Hände im Schoß, kurz: nicht viel mehr als bloße Raumerfüllung, weiß er nicht, wann es Zeit ist, zu gehen. Ich habe nichts gegen Ösch. Jeder mag ihn. Keiner weiß, wie er in den Freundeskreis gekommen ist. Irgendwann war er einfach da und fiel nicht weiter auf. „Sein Hals ist etwas zu lang“, sagte kürzlich eine Freundin zu mir am Telefon. „Ja? Ist mir nie aufgefallen“, erwiderte ich. Dann wechselten wir abrupt das Thema, weil uns zu Ösch nichts weiter einfiel. Und tatsächlich gibt es an ihm keine Besonderheit bis auf den langen Hals, der ihn etwas melancholisch aussehen lässt. Weder schön noch hässlich verbringt er sein Leben auf den Sofas fremder Leute und wird dabei nicht gestört. Denn Ösch ist unscheinbar. Und das macht es so verdammt schwer, ihn einfach hinauszuwerfen.
Unscheinbarkeit lähmt mich. Ich kann nichts mit ihr anfangen. Sie weckt keinerlei Emotion und lässt mich so ungerührt wie ein grauer Schuh in einer Reihe grauer Schuhe oder das zerknüllte Bonbonpapier unter meinem Küchenschrank. Ganz anders verhält es sich mit der fetten Warze auf dem Kinn der Gemüsehändlerin, die ich unverhohlen anstarre, solange sie mir ungefragt ihr Warensortiment ins Ohr schmettert. Es erscheint mir mehr als angemessen, „Friss Scheiße!“ zu der verkniffenen Alten in der Bahn zu sagen, nachdem sie mir ihren Rollator zum x-ten Mal in die Waden gerammt hat, weil sie einem Mitfahrenden mal ganz dringend ein paar Fotos ihrer Enkelkinder zeigen muss, die sie als Kühlerfiguren auf ihrer Gehhilfe postiert hat. Und dem kleinen Klugscheißer mit Brille, der in einem Kinderzimmer mit abgerundeten Ecken lebt und mir die chemische Zusammensetzung der Sonne erklären will, geschieht es ganz recht, dass ihm die Eiswaffel in einem unbeobachteten Moment aus den Fingern flutscht. Hoppla! Wer sich mit heißen Sonnengasen beschäftigt, braucht kein Eis. Fix oder nix. Extreme verlangen nach Handlung.
An Ösch ist nichts extrem. Klar - er okkupiert Sofas und strapaziert Gastfreundschaft über Gebühr. Aber er geht dabei konsequent vor. Nicht wie Lisa, die stundenlang ihr Gehen ankündigt. „Ich geh dann jetzt“, sagt sie in regelmäßigen Abständen, gähnt und zündet sich die nächste Zigarette an. „Ich geh dann jetzt“ ist die halbherzige Willenserklärung jener, die bis auf unbestimmte Zeit zwischen „dann“ und „jetzt“ feststecken. Deshalb auch der Griff zur überbrückenden Zigarette. „Ich geh dann jetzt“ baut enorme Erwartungshaltung auf. Wie eine Melone, die auf die Tischkante zurollt und von der man erwartet, dass sie auf den Boden fällt und platzt, weil man viel zu weit entfernt ist, um rechtzeitig herbeizueilen. Lisa ist die Melone, die im letzten Moment abdreht. Wieder und wieder. Das macht mich wütend und immerhin soweit handlungsfähig, sie gar nicht erst hereinzulassen. Ösch sitzt weder im „dann“ noch im „jetzt“ fest. Er hat sich für mein Sofa entschieden und hockt „dort“ mit einem Hals, der nicht lang genug ist, um mich so richtig auf die Palme zu bringen. Wäre er es, könnte ich handeln und sagen: „Hey, Ösch, mach endlich die Flatter und zieh den Hals ein beim Rausgehen, hoho!“ So bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm eine Wolldecke überzuwerfen und so zu tun, als wäre er gar nicht da.