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Marius Hulpe
Heute vor fünfzig Jahren
Bertolt Brecht 1Brecht-GrabsteinBert Brecht 2

Heute vor fünfzig Jahren
oder: Eine kleine Reminiszenz an eine verlorene Hoffnung


Heute vor fünfzig Jahren, es war Ferienzeit, verstarb Eugen Bertolt Brecht, von seinen Freunden liebevoll Bert genannt, 58-jährig in Ost-Berlin. Unweit der Gräber Hegels und Fichtes hatte er selbst den Platz erwählt, an dem er seine letzte Ruhe finden wollte.
Fünfzig Jahre nun, die eine oft gehegte Vermutung scheinbar zur Gewissheit haben werden lassen: die spätkapitalistischen Produktionsverhältnisse waren nicht das, wofür man, wofür er sie überaus gern gehalten hätte; waren nicht der Motor einer Dialektik, die aus der dritten Wurzel des Marxismus, dem historischen Materialismus gezogen wurde, einer Dialektik, die, wenn man dem Denken des größten und folgenreichsten Dramatikers des 20. Jahrhunderts folgen will, die Gesellschaft nicht an den Haaren, sondern bei der Wurzel packen sollte, um sie ans Licht zu führen, was, je älter Brecht wurde, umso weniger Kommunismus für ihn hieß.
Früh stellte er die Denkträgheit einer gewissen Gesinnung fest, unter den umtriebigen Roten in der Weimarer Republik genauso wie später in den Kadern und Funktionärsschmieden des Landes, für das er sich hinsichtlich seines Wohnortes entschieden hatte, da er hier nach 1946 mehr Möglichkeiten sah, die weltliche Entwicklung kritisch zu bedenken und an einer dafür vorteilhaften Dramaturgie zu feilen als in der restaurativen und an der Hand der kommunistenfressenden Amerikaner gehenden Westrepublik.
Es hat nicht erst seit gestern, so muss ehrlicherweise betont werden, den Anschein, als sei es nichts geworden mit der Entfaltung der Produktivkräfte, nichts scheint mehr übrig vom Selbstregulativ der Geschichte.
Folgender Ausspruch Brechts wirkt demzufolge aus unserer heutigen Perspektive überaus absurd:

Vierzig Jahre, und mein Werk ist der Abgesang des Jahrtausends.

Abgesang – wer würde nach 1956 noch davon sprechen wollen. Die Massenbewegung der 68er hätte er, wenn überhaupt, für einen hilfreichen, doch gewiss nicht notwendigen Schritt aus der Falle der Geschichte gehalten.
Überdies sträubte er sich schon gegen die Revolte der Söhne gegen die Väter, die vom Expressionismus ausging. Die Folgen des Auseinanderdriftens von Produktionsverhältnissen und Produktionsbedingungen haben nicht, wie er es mit Marx annahm, zur Aufruhr unter den gesellschaftlichen Verlierern geführt, haben nicht auf die Bedingungen zurückgewirkt.
Eher entsprechen die heutigen Verhältnisse und die Weise, wie wir uns als Menschen zu ihnen verhalten dem, was einige Postmarxisten zu verkünden wussten: dass die introvertierten Gedankenarchitekten hinter dem Mond wohnen, den die extrovertierten Techniker beschlagnahmt haben. Die Adorniten haben im Gegensatz zu vielen Brechtjüngern schneller dazugelernt.
Warum aber ist dann seine Wirkung noch immer so unendlich, wenn auch nur in den Köpfen, in der Literatur, also im Überbau, also wieder in den Herzen - also auch in der Realität? Welche Wirkung kommt diesem Werk, dass vordergründig vor allem auf Wirkung zielte, wirklich zu? Es scheint zunächst ein verwegener Gedanke, allein diese Frage zu stellen – doch was wäre anders gewesen, hätte es den guten Bidi aus den schwarzen Wäldern nie gegeben? – Erlaubt sein muss hier ein noch verwegenerer, bei näherer Betrachtung aber naheliegender Gedanke: jener daran, was Brecht wohl geantwortet hätte: dass es ihn wohl in der vorliegenden Form nie gegeben hätte, wäre die Welt nicht, wie sie nun einmal ist. Ein wenig Dialektik, bitte!

Was wiegt ein großer Regen?
Ein paar Gedanken mehr oder weniger
Wenige Gefühle oder gar keine
Wo alles nicht genügt
Ist nichts genügend.
Ich bin immer gleich gewesen.

. . .

Unfassbar schwierig ist es hingegen abzusehen, was die Geschichte vielleicht noch bringen wird, und wer wollte sich anmaßen, darüber ernsthaft zu spekulieren. Doch gerade aus dieser Lage der Ungewissheit, aus der Feststellung heraus, dass sich die Ökonomie als vorläufig entscheidender Faktor erwiesen hat, ließe sich, dialektisch gewendet, Hoffnung schöpfen, eine Hoffnung, wie sie auch Brecht aus scheinbar dunklen und ausweglosen Situationen – und es will scheinen: gerade aus ihnen – zog.

EINST

Einst schien dies in Kälte leben wunderbar mir
Und belebend rührte mich die Frische
Und das Bittre schmeckte, und es war mir
Als verbliebe ich der Wählerische
Lud die Finsternis mich selbst zu Tische.

Frohsinn schöpfte ich aus kalter Quelle
Und das Nichts gab diesen weiten Raum.
Köstlich sonderte sich seltne Helle
Aus natürlich Dunklem. Lange? Kaum.
Aber ich, Gevatter, war der Schnelle.


Wer dieses späte Gedicht liest, entdeckt so garnichts mehr vom jungen wilden Bidi, der von einer Angst getrieben war, welche die Spannung zwischen subjektivem Streben nach Dauer und objektiver, unablässiger Veränderung mit sich brachte. Der geistige Zustand, in dem sich alles zu einem großen, einheitlichen Ganzen fügen musste, und das sowohl den Kopf als auch die materielle Wirklichkeit betreffend, war überwunden.
Und nun, hier und an dieser Stelle vielleicht die Frage, ob wir, heute, in unserer Verzagtheit, was Hoffen auf Veränderungen politischer Art betrifft, nicht von dieser wunderbaren Leichtigkeit, der Offenheit in der Betrachtungsweise, profitieren könnten?
Es gibt schlechterdings keine Antworten und auch ich möchte mich an dieser Stelle hüten, immer weitere Spekulation über auch mögliche dialektische Wendungen zu referieren. Solcherlei kann ich, soweit es mir möglich scheint, andeuten, komme aber trotz allem aufgebrachten Willen zur vielseitigen Denkbewegung immer wieder zurück zu den paar Versen eines Gedichts, das sich wie kaum ein Zweites an jene wendet, die wie wir, oder unsere Enkel, oder in noch fernerer Zukunft lebende Menschen, lernen müssen, ohne weltliche Hoffnung auszukommen. Das Gedicht An die Nachgeborenen ist bekanntlich nicht nur eines der populärsten Brechtgedichte, es zählt auch zu jenen Texten, die dem Gesamtwerk einen Grund, eine Basis verschafft haben. Die entscheidenden Verse scheinen mir immer wieder folgende zu sein:

Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!


Was isoliert von den anderen Strophen zunächst wie die Apostrophe zu einem postzynischen Zeitalter klingen mag, ist selbst so weise, dass man es kaum mehr glauben mag - nein, auch heute kann ich nicht weise sein, wie sollte ich auch, was ist schon Weisheit in einer Zeit, die solcherlei Werte zu Selbstzwecken degradiert hat, die sie nicht mehr mit Inhalten und Sinn zu füllen weiß? Was heißt Weisheit in einer Zeit, in der der Weise sich vor sich selbst ekeln muss? Und woher die Weisheit nehmen, wer oder was stiftet sie – die Tradition, die Erfahrung, das Lesen?

Leg das Buch nicht nieder, der du da liesest, Mensch.

Brecht selbst war ein begeisterter Leser: nicht unbedingt von zeitgenössischen Texten, schon garnicht von zeitgenössischer Lyrik, wie sie ein Werfel, ein Rilke oder George verfasst hatten. Das Dichten solcher Hausgötter des „bourgeoisen Nachwuchses“ gründete nicht im Entferntesten auf irgendeinem Zweck der Dichtung, außer dem Selbstzweck, der Epigonik. Gefühle, überhaupt das geringste Übermaß an Subjektivismus töteten jedes Moment von Möglichkeitssinn im Keime ab. Von solcher „Druck-Kunst“ also hielt er nichts. „Das sind ja wieder diese stillen, feinen, verträumten Menschen, empfindsamer Teil einer verbrauchten Bourgeosie, mit der ich nichts zu tun haben will!“
Beim Lesen verlegte er sich auf alljene, die er für die Entwicklung seiner eigenen Poetik für hilfreich, oder gar entscheidend hielt. Überraschend wird daher manchem Brechts Aussage über den heute scheinbar völlig vergessenen Georg Kaiser anmuten: „Gefragt nämlich, ob ich die Dramatik Georg Kaisers für entscheidend wichtig, die Situation des europäischen Theaters für durch ihn verändert halte, habe ich mit Ja zu antworten...ohne die Kenntnis seiner Neuerungen ist die Kenntnis um ein Drama fruchtlos, sein Stil ist keineswegs nur 'Handschrift'...“. Kaiser war wichtig, da man sich von seiner idealistischen Dramatik distanzieren musste, er war ein entscheidender Gegenstand der Auseinandersetzung auf dem Weg zu einer wirkungsmächtigen dramatischen Innovation, genauso wie es Aristoteles war. Zeitgenossen wie Thomas Mann, Werfel, Kerr und all die anderen Epigonen konnten nicht nur in dieser Hinsicht getrost ignoriert werden.

Am 1. Oktober 1928 veröffentlichte die Zeitschrift „Die Dame“ eine Umfrage unter Schriftstellern, Künstlern und Größen des öffentlichen Lebens, die Überschrift lautete Der stärkste Einfluß. Brecht selbst steuerte einen einzigen, wohlredigierten Satz bei: „Sie werden lachen: die Bibel.“ Die Bibel – unmöglich, die feingliedrige Stoffanalyse nachzuvollziehen, die Brecht an diesem Text vollzog. Doch wie bei Aristoteles oder der Auseinandersetzung mit Kaiser ist auch dieser Einfluss nicht ungebrochen zu verstehen, sondern nur im Sinne einer Wendung von Tradition gegen die Tradition. Brechts berühmt gewordenes Zitat von der laxen Einstellung gegenüber geistigen Eigentümern ist der wohl bekannteste Beleg für dieses Prinzip. Zur Neuausgabe der von ihm zahlreich verbastelten Villon-Gedichte in der Ammerschen Übersetzung im Berliner Kiepenheuer Verlag steuerte Brecht ein höchst luftikales Gedicht bei, das dem Band als eine Art Vorwort vorangestellt wurde:

Sonett zur Neuausgabe des Francois Villon

Hier habt ihr aus verfallendem Papier
   noch einmal abgedruckt sein Testament,
   in dem er Dreck schenkt allen, die er kennt -
   wenn`s ans Verteilen geht: schreit, bitte "hier!"

Wo ist euer Speichel, den ihr auf ihn spiet?
   Wo ist er selbst, dem eure Buckel galten?
   Sein Lied hat noch am längsten ausgehalten,
   doch wie lang hält es wohl noch aus, sein Lied?

Hier, anstatt daß ihr zehn Zigarren raucht,
   könnt ihr zum gleichen Preis es nochmal lesen
   (und so erfahren, was ihr ihm gewesen . . .)

Wo habt ihr Saures für drei Mark bekommen?
   Nehm jeder sich heraus, was er grad braucht!
   Ich selber hab mir was herausgenommen .
. .

Ihn nochmal lesen, ein wünschbares Motto. Die Frage, was bleibt, erscheint schwammig. Doch statt danach zu fragen, bietet sich an, nach den Eigenschaften dieses Werkes zu suchen, die es für uns bedeutend machen. Da wäre seine Sprengkraft, die jedoch albern wird, sobald man sich agitativ ihrer bedient. Da wären seine wunderbaren Sentenzen zu Themen wie Freundschaft und Liebe, zur Erkenntnis, dass diese untrennbar mit den gesellschaftlichen Bedingungen verwickelt sind, eine Erkenntnis, die insbesondere in den kanonisch gewordenen Sonetten deutlich wird:

Das erste Sonett

Als wir zerfielen einst in DU und ICH
Und unsere Betten standen HIER und DORT
Ernannten wir ein unauffällig Wort
Das sollte heißen: ich berühre dich.

Es scheint: solches Redens Freude sei gering
Denn das Berühren selbst ist unersetzlich
Doch wenigstens wurd „sie“ so unverletzlich
Und aufgespart wie ein gepfändet Ding.
. . .

Das dritte Sonett
. . .

Mit solchen Wörtern rufe ich den Schrecken
Von einst zurück, als ich dich frisch begattet
Es läßt sich länger nurmehr nicht verstecken:
Das Allerletzte hast du da gestattet!
Wie konntest du dich nur in so was schicken:
Das Wort für das, was du da tatst, war


Die Freundschaft betreffend..

      Ich
Weiß nicht, wie es kam: gut sein zu andern
Und zu mir konnte ich nicht zugleich.
Andern und mir zu helfen, war mir zu schwer.


Und ein weiterer Aspekt klingt hier mit – jener der menschlichen Begegnung überhaupt. Wie gut zu einem Menschen sein, der doch etwas anderes wollen muss als ich es selbst will. Wie da die eigenen Interessen vertreten.

Also ein folgenloser, ausschließlich klassisch gewordener Brecht?
Wir leben in einer Zeit, die kaum eine Abweichung von der Abweichung zulässt. Pluralität ist ein Gebot, das zwar wenigstens ein Gebot ist, doch was schon darüber hinaus. Die Zeit, in der wir leben, ist überaus totalitär. Sie lässt kaum Hoffnung zu. Doch gesungen, gelesen, gespielt wird Brechts Werk noch immer, vielleicht mehr denn je. Die Zeiten sind fast finsterer denn je – also auf!

Empfohlen sei an dieser Stelle die Lektüre des Buches, aus dem ich zitiert habe: Hans Meyer. Brecht (Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1996). Sowie natürlich alle anderen Bücher von und über Bertolt Brecht.

Marius Hulpe  30.01.2008   

 

 
Marius Hulpe
Lyrik
Wiederbelebung der Lämmer
Essay