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Constantin Göttfert
Steinreigen

Die surreale Erwartung

Constantin Göttfert | Steinreigen
Constantin Göttfert
Steinreigen
Kurzprosa
fza 2007
Wenn ein Autor einen Literaturwettbewerb gewinnt, stellt man an ihn Erwartungen. Constantin Göttfert ist der Gewinner des Wiener Werkstattpreises 2006 und versteht es, Erwartungen zu erfüllen und zugleich zu zerstören. Sein zweiter Kurzprosaband Steinreigen beginnt mit der gleichnamigen Geschichte und den Worten: »Nach acht Stunden haben sie mich gehen lassen.« Der monotone Arbeitsalltag einer Mutter in der Fabrik lässt sie so mechanisch werden wie die Maschinen, die sie bedient. Dies ist nur der Beginn der Geschichte, und dennoch: Die Monotonie scheint den Grundstein für den Steinreigen zu legen, für die Wanderung des Schicksals von einem Menschen zum anderen in der Form eines kleinen Steines; eines Gegenstandes, wie er schlichter, wie er unbedeutender kaum sein könnte.

Die Texte in diesem Buch erfüllen Erwartungen. Wer frühere Kurzgeschichten Göttferts kennt, der weiß um ihre oftmals surrealen Elemente und um ihre schonungslose Härte, die von der bildreichen, aber fast nie überladen wirkenden Sprache geschürt und gelegentlich bis an den Rand der Absurdität getrieben wird. Göttfert versteht es, die Grenzen einzuhalten, doch er tut es selten mehr als unbedingt nötig. Das durfte ich erwarten. Was ich nicht in diesem Maße erwartet hatte, waren die Zweifel an meinen eigenen fünf Sinnen, die mich an vielen Stellen des Buches beschlichen, vom Autor geschickt provoziert, indem die Grenzen zwischen den Sinneswahrnehmungen teilweise aufgehoben werden. Mit Synästhesie hat das nichts zu tun. Es ist das Ausnutzen aller zur Verfügung stehenden sprachlichen Möglichkeiten und darüber hinaus die Herstellung eigenwilliger neuer Verbindungen, worin Göttfert seinen unverkennbaren Sprachstil findet.

Es mag Zufall sein, dass ich für die Lektüre von Steinreigen Terézia Moras Seltsame Materie unterbrochen habe. So ein abrupter Wechsel kann riskant sein, aber ich war sehr neugierig auf Steinreigen. Ich wurde nicht enttäuscht. Im Gegenteil, es herrscht ein angenehmer sprachlicher Konsens zwischen diesen beiden Büchern. Göttert jongliert auf seine Weise ebenso gekonnt wie Mora mit der Sprache, mit zur Verfügung stehenden Bildern und Gefühlszuständen. Jedes Wort hat Gewicht, jeder Satz seine Daseinsberechtigung.

Im weiteren Verlauf des Buches werden die Texte zunehmend kürzer, weniger erzählend, reflektierender, verdichtet. Was zuvor auf zehn oder mehr Seiten geschah, findet nun auf viel kleinerem Raum statt. Ein immer enger werdendes Drehen um das Zentrum.

Bald habe ich meine Lieblingsgeschichte gefunden. Es ist eine der längeren: Abstieg. Später, als ich mich entschließe, den Autor zu kontaktieren, erfahre ich von ihm, dass es auch seine Lieblingsgeschichte ist. Möglicherweise kommt diese Einigkeit daher, dass jener Text die Essenz des Buches zu bilden vermag und das Gleichgewicht von Realität und Surrealität zur Perfektion bringt.

Ich vermeide es bewusst, im Rahmen dieser Rezension den Inhalt einiger der im Buch enthaltenen Texte zu umreißen, weil ich den Eindruck habe, ihnen damit nicht gerecht zu werden. Sie leben und wirken zu sehr durch ihre Sprache, als dass man sie sachlich zusammenfassen sollte. Am Ende des Buches waren mir schließlich Hören und Sehen vergangen, der Zweifel an meinen eigenen Sinnen war perfekt. Und so erreichte ich das Ende im Einvernehmen mit dem letzten Protagonisten: »Da hat er sich das Laub gesammelt. Da hat er sich die Hand in die Taschen gesteckt und es herausgenommen: das Streichholz. Da hat er sich die gebaute Brücke besehen. Da hat er im Geiste auch schweres Gefährt drüberlaufen sehen. Da hat er den Sturm und das Peitschen von Wellen gesehen und drückt sich das Auge aus dem Gesicht, weil doch niemand sie befahren oder begangen und wirft das Laub aufs Holz und das Feuer aufs Laub und geht und sieht nicht und geht und riecht nicht und geht und hört nicht mehr: Das Wort, das von drüben kommt.«

Ich habe den Stein entgegen genommen und ihn am Ende des Buches wieder abgegeben. Abgegeben an den Nächsten, der an seinen Sinnen zweifeln möchte, der sich mit seinen eigenen Erwartungen konfrontieren möchte und bereit ist, sie erfüllt und zugleich erschüttert zu sehen.

Constantin Göttfert im Poetenladen

Myriam Keil     18.06.2007

Myriam Keil
Lyrik