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Philip Maroldt
Zusammenbruch


die welt war auch am betonierten boden nicht anders, als sie sich durch die getönten fenster in knapp vierhundert metern höhe zeigte: graubraun. heiß. schwindelerregend.
ich erinnere mich nicht an vieles. schon damals versagten die wahrnehmungsfilter, und in der folge war mein gedächtnis der datenflut nicht mehr gewachsen; es schaltete sich einfach ab. wenn überhaupt, kann ich dumpfe stimmungen abrufen und keine bilder, keine räume.
bereits kurz nach dem verlassen des hotels der linksseitige kopfdruck, der tunnelblick, verstärkt von den schroffen, schmalen hoch­glanz­hochhaus­schluchten und einem unerbitt­lichen sommer. es könnte in einem stadt­rund­fahrtbus gewesen sein, wir sind mit einem gefahren, du hast die fahrkarte in das fotoalbum geklebt.
alle bilder sind lügen, die ich von den wenigen fotografien aus spinne, in jenem album, das die dunkel­heit verschweigt, die zu stark getönte glasglocke, die mich einschloß. in meinem kopf war nichts mehr außer einer handvoll sätze, die ich über diesen urlaub formulieren konnte, um mir selbst und den anderen zu beweisen, daß ich tatsächlich dort gewesen war, vor fünf, vor zehn, vor zwölf jahren inzwischen. weil ich es auf einer photographie gesehen habe, kann ich sagen, daß am times square für suntory-whisky geworben wurde. durch eine photographie ist gesichert, daß ich auf brooklyn bridge stand. die zwischenräume der bilder sind nicht leer. doch in ihnen herrscht noch immer dasselbe dunkel, von dem man schweigen muß. die grenzen meiner sprache sind die grenzen des wilden waldes, in den ich mich verirrt habe – was beginnt dahinter?
am ende lag ich im king-size-bett des holiday inn, weiße laken, weiße decken und ihr alle, meine lieben, redetet mir gut zu, während ich noch immer dachte: ich sterbe. es wäre aber gelogen, wenn ich behaup­ten würde, ich könne nach­empfinden, wie es mir damals ging. ich bin ratlos, wie ihr ratlos wart, und trotz­dem bleibt die klammer um meine brust, sie zieht sich zu, sobald die ahnung einer erinnerung aufsteigt.


Warum steht hier dieses Haus? Wenn es hier steht, weil das Grundstück direkt an der Kreuzung zweier Haupt­straßen damals vor, nun, vielleicht neunzig Jahren, auch das weiß ich nicht, ein besonders attrak­tiver Baugrund war, erklärt das noch nicht, wieso genau dieser Bauherr (dessen Namen, Geburtstag, Todes­tag; dessen Wohnort, Stimmlage, Lächeln, Ehefrau, Lieblings­essen; dessen Schlaf­gewohn­heiten ich nicht kenne, ebenso wenig wie die Anzahl seiner Kinder) genau hier den Zuschlag erhielt und genau dieses Haus baute, an das zu einer unbe­kann­ten Zeit von einem ganz bestimmten Handwerks­betrieb ganz bestimmter Stuck angebracht wurde, von dem jetzt nur – wie oft wohl? – über­strichene Reste übrig sind. Wieso eigentlich ist die Fassade in dieser Farbe gestrichen? Warum ist dort oberhalb eines Fensters im ersten Stock ein Riß im Putz? Warum genau dort? Warum nicht einen Meter weiter rechts? Warum sind Bahnstrecke und neuer Bahnhof nur drei­hundert Meter entfernt? Und was ist das überhaupt: ein Mietshaus? Wieso geben wir dem ganzen nicht einen völlig anderen Namen, eine andere Form? Warum ist das Dach mit schwarzen und nicht mit roten Ziegeln gedeckt? Niemand weiß, wieso ein Mann – also: genau dieser Mann – gerade jetzt aus der Tür tritt. Er selbst wird die Frage nicht beantworten können; er wird vielleicht sagen: „Mir fiel gerade ein, daß ich noch Zwiebeln kaufen muß“ – aber warum fiel es ihm ausgerechnet in jenem Augenblick ein? Es ist auch gänzlich unver­ständlich, aus welchem Grund gerade jemand das Fenster öffnet in Etage zwei. Ich verstehe es nicht. Ich könnte natürlich versuchen, logisch weiter zu fragen, eine Kausalkette zu bilden und zu verfolgen, mich nicht ablenken zu lassen, in Ruhe zu recher­chieren, systematisch vorzugehen. – Ja, theoretisch ließe sich ein Erklärungs­netz spinnen. Aber hier liegt das Problem: die Linie wird zum grenzenlosen Netz oder verdreht sich zum Knäul, und am Ende stehen immer Warums, auf die es keine Antwort mehr gibt oder die mich durch ihre schiere Anzahl erschlagen – denn selbst wenn es Antworten gibt, kann ich sie nur nach­einander zur Kenntnis nehmen, Schritt für Schritt erfassen, ein kleines, trübes Fenster auf die Welt finden, das im nächsten Moment wieder verschwindet, bis man zum nächsten kleinen, trüben Fenster gelangt, und immer so fort... ich kann nur Ausschnitte wahr­nehmen und verstehen, dabei ist alles nur gleichzeitig relevant und wahr – zerhackt in einzelne Ungleich­zeitig­keiten aber wertlos; so hinke ich also zwangsläufig hinterher, habe wohl die falsche Richtung gewählt. Aber die richtige ist ... Kurzschluss. Die Welt läuft mir davon, sie rinnt mir durch die Finger, sie rinnt durch meinen Verstand, ist für die Gedanken nicht mehr greifbar, nicht mehr in Begriffe zu fassen. Die Fragen werden sprunghaft, ich stelle sie nicht mehr, sie widerfahren mir, mechanische Wort­reihen – Wort­klumpen, denn schon zer­setzen sich die Kausalitäten, unbe­grenzte Möglich­keiten kesseln mich ein, jeden Moment produziert der Ausschnitt, den ich gerade sehe, höre, fühle, rieche – d.h. genau genommen: zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu riechen glaube – dieser mutmaß­liche Aus­schnitt eines herme­tischen Draußen in meinem Kopf aber­tausende neuer Sinnes­daten, eine sich selbst verstär­kende Unwelt, in der alles klar erkennbar und nicht mehr verständlich ist. Ich weiß nur, daß sich unab­lässig etwas verändert, einfach so, ohne daß es zu erfassen wäre. Mir ist bewusst, wie absurd das alles ist, aber das ändert nichts daran, daß diese Gedanken­gänge in mir ablaufen, selbst gehen, über mich hinweg gehen – genau wie die hängen­bleibenden Worte, die Satzenden, wenn jemand mit mir spricht, sie bleiben als Echo in meinem Kopf, als bohrender Klang ...
  –     Moment, Sie hören also ein Echo, wenn jemand mit Ihnen spricht ...
  –     Nein, rein metaphorisch meine ich, ich meine. ..
  –     Nichts ist hier mit metaphorisch, also hören Sie nun das Echo oder hören Sie es nicht?
  –    
Ich sage doch, nein, aber es ist eine Gedankenschleife, eine Wortschleife, sie entzieht jeden Sinn, sie überlagert alles, was ich bin ... und sie stoppt nicht.


Erkrankte assozieren beispiels­weise ein Wort wie „Haus“ mit „Hölle“ oder ent­wickeln eine pani­sche Angst vor Begriffen wie „Leichen­schmaus“ oder „Augen­weide“.

Vorhin der krankhaft gut gelaunte, kontakt­freudige Mann im Wartezimmer, die zwei vor lauter Dummheit mitleid­losen Sprech­stunden­hilfen – ansons­ten war die Praxis leer.
Er hatte zu einem Neuro­logen gehen wollen, um sich einmal grund­legend unter­suchen zu lassen, EEG, MRT und so weiter. Einen Tumor wollte er ausschließen, eine vielleicht schon auf dem Monitor erkennbare Zersetzung des Gehirns. Vater sagte:
   –   Er hat Angst, er könne die Creutzfeldt-Jakob-Krank­heit haben ...
Während er sprach, fragte er sich unwillkürlich, wie man „Creutzfeldt“ eigentlich buch­stabierte – ein Gedanke, den er in sekunden­schnelle weg­wischte.
Der Psychiater nickte.
Ich sitze also bei einem Psychiater, ich wollte zu einem Neuro­logen gehen, aber hier nickt eindeutig ein Psychiater.
Der Arzt hatte zuvor wissen wollen, ob es ihm wirklich recht sei, wenn sein Vater mit im Raum bleibe, da intime Fragen gestellt würden.
   –   Hatten Sie schon Ge­schlechts­verkehr?
Er bejahte mit einem kurzen, schüchternen Zögern, einem unauffälligen Zögern also. Dabei war es eine Lüge, das heißt keine wirkliche Lüge, aber zu erklären, daß er schon ziemliche viele Erfah­rungen gesammelt, nur noch keinen „Ge­schlechts­verkehr“ im Sinn von Penetration gehabt hatte, wäre albern gewesen.
   –    
Sie hören die Worte also nicht als Echo. Das ist gut. Nehmen Sie vorerst zweimal täglich diese Tabletten und geben Sie sich Mühe, auch weiterhin zwischen Ihren Phantasien und der Wirklich­keit zu unter­scheiden. Wir sehen uns dann in zwei Wochen für weitere Unter­suchungen.


Als er kaum eine halbe Stunde später mit seinem Vater durch den Supermarkt lief, stand nichts außer Frage und das Grauen lauerte hinter der dünnen Haut der Wirklichkeit, im Piepen der Kassen.

Zu Hause ein Blick in den Beipackzettel, die Augen wanderten über die Zeilen, er las konzentriert. Das gelang ihm nur noch selten, obwohl er seit seinem Schul­wechsel wieder deutlich bessere Noten schrieb.
Die Angst war kaum zu ertragen.
Dann warf er die frisch gekauften Tabletten in den Müll.


ich kann den zugang zur dachterrasse nicht sehen, ich kann mir irgendwie gar nicht vorstellen, daß es überhaupt einen zugang gab. ich sehe nur die quadratische fläche, ich kann mich an den wind erinnern, an das bewußt­sein von der menschen­gemachten, großen höhe und daß da nur ein einziger klarer bezugs­punkt auf augen­höhe war: der nordturm mit dem sendemast, der, von hier aus betrachtet, unnatür­lich weit in den gleißenden dunst zu reichen schien. der zwilling schwebte – im bild nur der gipfel, kein
grund – schräg von uns, so nah, daß schon seiltänzer zwischen den beiden gebäuden hin und her spaziert waren. die sonne brannte durch die fast sandfarbene luft, ein hauch von peking lag über der stadt (das kann ich erst heute sagen, seit den olym­pischen spielen – der permanente gelbstich im fernseh­bild). ich glaube, ihr wart nicht in meiner unmit­tel­baren nähe, hattet euch wohl verstreut über die steinfläche des dachs, dieser hermetisch zur außenwelt abgerie­gelten zone, denn alles „außen“ war an diesem ort ein boden­loser abgrund, nur der durch den gipfel­wind dringende, von menschen und ihren maschinen erzeugte grundton erinnerte daran, daß es auch hier keinen endlosen fall gab. der himmel über uns kam über­raschend nah. die ausge­lassen­heit der touristen drang in mich ein, ihre foto­apperate und tatsachen: daß alles einfach weiterging; auch ihr schient zu erwarten, daß es weiter­gehen müsse, hieltet es wohl für klug, meine mehrfach geäußerte, eindeutig hypo­chon­drische sorge diskret zu behandeln, während es in mir ANHALTEN schrie –
hätte mir jemand versichern können, so etwas sei möglich, selbst­verständ­lich viel­leicht sogar: das aussetzen der welt zur ret­tung eines völlig über­füllten bewußt­seins, ich wäre vermutlich in sekunden­schnelle ruhig geworden wie ein staunendes baby – so aber setzte mein herz aus.
 zumindest in meinem kopf setzte es aus, ich
schwankte, strauchelte und brach in panik aus auf diesem beobach­tungs­deck gegenüber der windows on the world, völlig ohne grund – mein gehirn wollte wohl die welt nicht länger ver­arbeiten, eine welt, die gestaucht war, verzerrt, gequetscht und zugleich wie immer – normal –, nicht von sicht­baren oder hörbaren monstern erfüllt, ganz wohl­geformt realis­tisch, gelblich, heiß – die mir in die eingeweide fuhr, die brust zusammen­presste, den blick stumpf, fast starr werden ließ und die sinne aufriss, ihren rahmen sprengte,
so daß sich ein klaf­fendes panorama von enormer dichte und anzie­hungs­kraft unmittel­bar hinter der drei­hundert­sechzig grad umspan­nenden, wie in gaze gehüllten, zivi­lisations­durch­setzten landschaft der so unerbitt­lich wirklichen wie rätsel­haften dinge auftat.
ich schrie nicht, dachte nur: die enge in mir wird niemals aufhören.
vermutlich nahm niemand von all dem notiz.

Philip Maroldt   26.05.2011   

 

 
Philip Maroldt
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