Das sechsjährige Mädchen liebt die Schule als einen Ort, »an dem sich die Welt entfaltet, wo alles neu ist, alles beginnt«. Von Anfang an saugt sie alles Neue begierig in sich auf, sie lernt mehr kennen als nur Das Leben der Wörter – Lesen und Schreiben, Gedichte –, mehr als nur Rechnen, Basteln, Kochen, Backen, Geschichte, Geographie, Biologie. Vor allem lernt sie, wie Menschen ticken, sie selbst, ihre Mitschüler, die Lehrer. Sie lernt, »dass man gleichzeitig lachen und unglücklich sein kann, dass man ICH schreiben kann, auch wenn man gar nicht von sich selbst spricht, dass die Gruppe eine Gefahr darstellt und auch eine Kraft (...) ein Tier, das sich bewegt und nie schläft«, dass Lügen nicht immer kurze Beine haben, dass man das sagen und sein muss, was von einem erwartet wird, dass die Lehrer auf ihren eigenen Methoden beharren und folgsame Schüler mehr schätzen als alles andere, dass es schwer ist, »immer guter Dinge zu sein«. Nadia funktioniert. Gefühlsausbrüche erfahren nur ihre Puppen, die sie, wenn sie zu faul sind, zur Strafe vor der ganzen Klasse auszieht und denen sie die Arme ausreißt, wenn sie es zu weit treiben. Diese Strenge, die sie sich auch als Turnerin auferlegt, bildet den Grundpfeiler in Nadias Leben, das schon sehr früh durcheinander geraten ist. Sie füllt mit dem stupiden Lernen die Leere, die ihre Mutter hinterlassen hat und reagiert damit anders als ihre ein Jahr ältere Schwester, die das Haus nicht verlassen will und zeitweise weit weg von zu Hause in einem düsteren, dunklen Haus mit dunklen Zimmern wohnt und wo die Krankheit ohne Namen mit kräftigen Medikamenten behandelt wird. Nadias ganze Hoffnung, etwas über ihre Heimat Algerien und die Mutter zu erfahren, richtet sich auf die geliebte Schwester. Der Vater verliert kein Wort über das frühere Leben und lässt sein Kind mit dem Familienalbum allein. Niemand stellt ihr Fragen, niemand erzählt ihr etwas über ihre eigene Geschichte, »ihr persönliches, trauriges Epos«. Die Größe des an Seiten schmalen Bandes von Brigitte Giraud offenbart sich erst auf den zweiten Blick. Fallen zunächst die vielen Gedichte – zum Beispiel von Baudelaire, Apollinaire, Prévert – ins Auge oder auch die allzu ausführliche Auflistung des in der Schule vermittelten Faktenwissens, kristallisiert sich bei genauerer Lektüre die Kritik am französischen Schulsystem heraus. Subtil schildert die Autorin die Zustände in der Schule, von der Grundschule bis zum Gymnasium: Drill zum Gehorsam, wenig Raum für Kritik und Diskussionen, das konsequente Aussparen der Algerienproblematik. Gemeint und beschrieben sind zwar die 70er Jahre, aber bekanntlich hat sich bis heute an den Grundzügen des französischen Bildungssystems wenig geändert. Vor allem die Beiläufigkeit, die scheinbar kaum gewichtige, zusammenhanglose Rede der jungen Nadia erweckt den Roman zum Leben. Die Autorin erzählt geradeaus, lakonisch, ohne in Platituden zu verfallen oder zu moralisieren. Brigitte Giraud, von der bereits zwei Romane in deutscher Übersetzung beim S. Fischer Verlag vorliegen, bemüht sich um die authentische Darstellung sowohl der heranwachsenden Heldin als auch der sie umgebenden Welt und schlägt dabei wohlklingend leise Töne an. Der Originaltitel J'apprends wird der Vielschichtigkeit des Lernprozesses der Heldin eher gerecht als die deutsche, vielleicht etwas werbewirksamere Version Das Leben der Wörter.
Daniela Rhinow 15.05.2007
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Daniela Rhinow
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