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Jáchym Topol
Zirkuszone

Egoistische Fantastereien

Jáchym Topol | Zirkuszone
Jáchym Topol
Zirkuszone
Roman
Suhrkamp 2007
Nach Ansicht von Jáchym Topol selbst ist Zirkuszone vor allem ein egoistisches Buch, in dem er die jüngere tschechoslowakische Geschichte ganz persönlich auslegt, ohne Rücksicht zu nehmen auf Leser, Kritiker oder Verkaufszahlen. Diese Einstellung passt zur Biographie des Autors, der kompromisslos seine Meinung und Ideale vertritt. 1962 in Prag geboren, unterzeichnet er als 15-Jähriger die Charta 77, eine Petition gegen die Menschenrechtsverletzungen des kommunistischen Regimes der Tschechoslowakei, und nimmt damit staatliche Repressionen in Kauf. Er geht eher in die Psychiatrie, als den Wehrdienst abzuleisten, arbeitet als Heizer, Kohlenträger, bis 1989 in einer Fabrik und engagiert sich in den 80er Jahren gleichzeitig als Herausgeber der Zeitschrift Revolver Revue sowie als Lyriker und Songschreiber im tschechischen Underground. Studieren darf er erst nach dem Niedergang des kommunistischen Regimes.

Die wortgetreue Übersetzung des Originaltitels lautet „Mit Teerseife gurgeln“, doch der deutsche Verleger favorisierte „Zirkuszone“, weil ihm ersteres offensichtlich zu fremd klang. Eigentlich müsste der Roman heißen: „Die fantastischen Abenteuer des Ilja Heimdaheimkindes, der auszog, die Tschechen das Fürchten zu lehren“, vielleicht mit dem Untertitel: „Ilja im Heimdaheim, Ilja als schleichende Ratte, Ilja als verlorener Panzerlenker.“ Dann wüsste der Leser, worauf er sich einließe, ohne den noch längeren Klappentext lesen zu müssen.

Topols Roman strotzt nur so vor Ereignissen und Szenarien, die sich zunächst überschaubar entfalten und dann plötzlich überschlagen. Mord und Totschlag, übliches Knabengebaren, militärische Manöver und immer wieder die Frage: „Was ist wirklich geschehen, damals in der jungen Tschechoslowakei?“

Ausgangspunkt der Reise ist das böhmische Städtchen Siřem, wo Ilja, der Held, zusammen mit seinem behinderten Bruder Bobo und anderen, vorwiegend fremdländischen Jungen in einem Kinderheim lebt. Sie werden von Schwestern „in schwarzen Gewändern und weißen Häubchen“ nach bestem Wissen und Gewissen unterrichtet, versorgt und getröstet, aber – natürlich – auch bestraft, zum Beispiel mit Teerseifegurgeln für Lügen. Verschwörerisch überlegen die Älteren, ob sie lieber zur Fremdenlegion gehen oder zu den Kommunisten übertreten sollen. Topol gelingt die Darstellung des verwaisten Knabenkollektivs so gut, dass er von ehemaligen Heimkindern dazu beglückwünscht und gefragt wurde, in welchem Heim er aufgewachsen sei.

Die Entscheidung, wohin der Weg der „Geächteten“ schließlich führen soll, wird den Jungen abgenommen, als eines unverhofften Tages Kommandant Vyžlata mit seinem Gefolge in das relative Chaos einbricht und die „Rabaukenkolonie“ für das Leben in der neuen Zeit rüsten will. Dabei entpuppt Ilja sich als Meister der Sabotage, schleicht sich gekonnt an feindliche Wachen an und kartographiert bei seinen Touren die nähere Umgebung. Doch ehe sich die Jungen versehen, herrscht tatsächlich Krieg auf eigenem Terrain. Die Gruppe wird zersprengt, Blitze, Feuer, Rauch – die Panzer der Russen nähern sich wie „Monster, eines dem anderen auf den Fersen“. Die neue Ära wird genauso abrupt eingeleitet wie die vorherige. Ohne zu zögern schwingt sich Ilja auf einen der Panzer, (s)ein Vater nimmt ihn in den Arm und bietet Schutz. Der Junge bewährt sich als ortskundiger Dolmetscher und passt sich an, um zu überleben.

Topol ermüdet den Leser – vielleicht noch mehr die Leserin – mit seinen kriegerischen Schilderungen. Es gelingt ihm nicht, einen Spannungsbogen aufzubauen und auch die Durchsetzung des Szenarios mit einer grotesken Zirkusgeschichte trägt wenig zur Unterhaltung bei: Der DDR-Zirkus Hygea solle mit Hilfe des Zwergengenossen Dago von tschechischen Banditen befreit werden. „Trümmerteile“ dieser verhinderten Künstler (Menschen, Tiere, Sensationen!) säumen den Weg der Kriegführenden: Giraffenköpfe, Kunstreiterinnen, Kamele. Wenn der Autor mindestens genauso viel Enthusiasmus auf die sprachliche Ausgestaltung verwendet hätte, wären die Längen und anstrengenden Kuriositäten sicherlich leichter zu verkraften gewesen. „Vor Freude konnte ich nicht einschlafen. Aber dann schlief ich ein und schlief durch bis zum nächsten Morgen.“

Jáchym Topol hat ein egoistisches Buch geschrieben, historische Ereignisse kühn mit seinen Phantasien zu einem eigenen Kunstwerk gestaltet. Reizvoll ist der Roman wohl in erster Linie für jene, die Wahrheit von Fiktion trennen wollen und können oder knabenhafte Abenteuergeschichten schätzen.
Jáchym Topol, 1962 in Prag geboren, gehört zu den bekanntesten tschechischen Autoren seiner Generation. 1988 erschien in Samizdat sein erster Gedichtband. Sein Durchbruch als Schriftsteller gelang ihm mit dem Roman Die Schwester (1994, dt. 1998). Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt.
Autor und Buch bei Suhrkamp  externer Link

Daniela Rhinow   07.07.2007

Daniela Rhinow