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Gerd ForsterFliehende FelderIm Kreisverkehr
Sabine Göttel
Am Anfang sei ein Blick auf das Ende erlaubt, sofern von einem solchen überhaupt die Rede sein kann. Gerd Forster hat seinem neuen Gedichtband die Schlussbemerkung angehängt, dass die Publikation seines letzten „schon viele Jahre“ zurückliege. Tatsächlich mussten sich Lyrik-Enthusiasten seit den Wirbel Säulen (1987) mit verstreut erschienenen Texten des Pfalzpreisträgers in Zeitschriften und Anthologien begnügen oder auf die Prosa ausweichen. Erzählungen, ein Roman, Kriminalgeschichten und ein Israelisches Tagebuch erschienen unter anderem, während neue Gedichte entstanden und ältere reiften. Nun scheint eine der Gattung angemessene Zeitspanne vergangen, und der Autor hat mit Fliehende Felder einen weiteren Band mit Gedichten vorgelegt im sicheren Bewusstsein, dass Lyrik keine Halbwertzeit kennt. Gedichte schreiben, Gedichte lesen – ein auf beiden Seiten gleichermaßen beglückender wie zeitloser Zeitvertreib. Und ein nicht enden wollender, unentrinnbarer Circulus vitiosus, dem Forsters augenzwinkerndes Bekenntnis gilt: „Ich habe mein ganzes Leben Gedichte geschrieben und kann es immer noch nicht lassen.“Die Zeit, genauer: die vergehende Zeit ist das beherrschende Thema der neuen Sammlung. Zeit, im Vergehen für einen kurzen Augenblick fixiert und zum Leuchten gebracht durch poetische Betrachtung. Fliehende Felder eben, auf der Flucht mit Sprache wie mit einer präzisen Kamera gestellt und als das Zurückliegende, das sich aktuell Ereignende und das unbekannt Zukünftige benannt. Drängendes und Bedrängendes, dem nur, wenn überhaupt, mit dem Blick des distanziert- Eine junge Dorfschullehrerin (die Mutter des Autors) sitzt abends, von Heimweh geplagt, in ihrem Pensionszimmer – eine Szene wie aus einem Schwarzweißfilm der dreißiger Jahre (Kratzgriffel). Auf einem Klassentreffen erkennt jemand, dem seine Mitschüler fremd geworden sind (der Autor), plötzlich eine Kinderliebe wieder – ein flüchtiges Lächeln überbrückt die Jahrzehnte (Sechzig Jahre später). Gerd Forster hat seine Annäherungen an das unaufhaltsam Vorüberziehende in sechs Kapiteln zusammengefasst und so das zeitlich Disparate eines Konvoluts von 69 Texten schlüssig zusammengehalten. Versiegelte Minuten ist das erste überschrieben. Vergangenes, haltbar gemacht durch einfühlende Erinnerung – subtiles Leitmotiv am Anfang und in seiner Subtilität leitmotivisch für das, was folgt. In Gewesenes eintauchen, die Zeit bannen – oder umgekehrt: sich dem Sog der Zeit überlassen und auf die Fliehkraft der Worte und Wünsche vertrauen. Dem Versuch, einen Moment lang rauschhaft in der Gegenwart zu verharren, ist gleich zu Beginn eines der schönsten Gedichte des Bandes gewidmet: Kreisverkehr, unvollendet. Wie sich darin das Alltagsproblem einer verpassten Ausfahrt im Kreisel und die Erinnerung an eine längst vergangene Karussellfahrt überblenden und verwischen, um schließlich in einer existentiellen Frage zum Stillstand zu kommen – Ist ein Leben verändernder Richtungswechsel im Älterwerden, im Alter noch möglich? Wäre er Lust oder Last? –, das ist poetisch virtuos gehandhabt und zugleich ein Beispiel für Gerd Forsters bevorzugtes lyrisches Verfahren in Fliehende Felder. Kreisverkehr, unvollendet Es sind vor allem diese kontemplativen Denk-Bilder, die vom neuen Band im Gedächtnis bleiben. Beziehungsreich verknüpfen sie Gegenstände aus Natur, Musik, Literatur und Kunst mit Alltagsphänomenen, die dadurch gleichsam in einen ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen eintreten. In ihnen begegnen sich Thema und lyrisches Sprechen auf Augenhöhe. Aber Gerd Forster ist kein eskapistischer Dichter; er widmet sich daneben Themen, die tagesaktuelle Inhalte transportieren: unserer Zeit also. Im Kapitel Unter dem berechenbaren Mond etwa werden polnische Gastarbeiter bei der Spargelernte, afrikanische Flüchtlinge an den Grenzen Spaniens oder Straßenmusiker aus Osteuropa Anlass der Reflexion. Die Entrüstung über deren soziale Situation erreicht uns Mitteleuropäer meist nur abgeflacht, medial heruntergedimmt bis zur Gleichgültigkeit (Der Sturm). Ebenso wie das Schicksal eines kindlichen Mordopfers (Das Mädchen). Gerd Forster nähert sich diesem Tabuthema ebenso furchtlos, wie er die Zumutungen des Alterns ohne Scheu in Poesie verwandelt. Der Abstand der Älteren zum in unserer Gesellschaft scheinbar einzig konsensfähigen Lebensalter „Jugend“ lässt ihn nicht resignieren, sondern verführt zur Kontaktaufnahme: Ein Zuwinken kann da schon versöhnlich wirken (Supermarkt- Zurückhaltend ist Gerd Forster auch, was die Form seiner Texte betrifft. Wie in seinen früheren Gedichten behält er den Duktus des fließenden Erzählens bei, verzichtet auf ein vordergründig erkennbares Versmaß, bleibt im Rhythmus zurückhaltend, aber musikalisch. Dabei wird er im Ton nie schnodderig, vermeidet jedes Anbiedern an die Generation der Sprachzertrümmerer. Von der Eleganz seines Stils wäre zu sprechen, von der Uneitelkeit des lyrischen Ichs, das das Beobachtete in den Vordergrund rückt. Dabei bleibt das Vertrauen des Autors in das lyrische Sprechen ungebrochen. Hier funktioniert er noch, triumphiert über Skepsis und Scheitern: der Trost in der Sprache, die Sinnstiftung durch Benennen. Was dazu beiträgt, dass der Forster- Lenau und die Violine
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Sabine Göttel
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