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Ina Hartwig
Gespräch mit Sibylla Vričić Hausmann für den poetenladen
»Lesen fügt der Realität etwas hinzu «
Literatur und Lesen |
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Ina Hartwig (Gespräch) in poet nr. 18
Thema der Gespräche in poet 18: Lesen
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Ina Hartwig 1963 in Hamburg geboren, studierte Romanistik und Germanistik in Avignon und Berlin. Sie war Literaturchefin der Frankfurter Rundschau sowie Mitherausgeberin des Kursbuchs und schreibt seit 2010 als freie Autorin und Literaturkritikerin u.a. für die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit. Sie wurde mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik und dem Caroline-Schlegel-Preis der Stadt Jena ausgezeichnet.
Sibylla Vričić Hausmann: Liebe Ina Hartwig, als Kritikerin, Literaturwissenschaftlerin und Leserin widmen Sie sich der Literatur seit vielen Jahren mit großer Leidenschaft – gleichzeitig sinkt die Zahl der Menschen, die regelmäßig lesen, angeblich ständig. Fühlen Sie sich manchmal als Angehörige einer »aussterbenden Art«?
Ina Hartwig: Mir war immer klar, einer Minderheit anzugehören, da ich jedoch quasi in dieser Minderheit zu Hause bin, habe ich oft das schöne, trügerische Gefühl, in der Mehrheit zu sein. Jedem seine Illusionen!
S. Vričić Hausmann: Gibt es bei Ihnen eigentlich eine strikte Trennung zwischen beruflichem und privatem Lesen?
I. Hartwig: Es gibt diese Trennung durchaus; das hat vor allem mit meiner Einstellung beim Lesen zu tun. Ich liebe es, mich zurückzulehnen und zu schmökern, Platz nach vorn zu haben. Dann entspanne ich mich, lasse mich innerlich gehen, während ich das Gelesene gierig aufsauge. Wichtig: Es darf keinem momentanen Zweck unterliegen. Das professionelle Lesen hingegen ist zielgerichtet; am Ende soll oder muss die Kritik stehen, der Essay oder der mündliche Kommentar, jedenfalls »mein« Text – also lese ich anders, unter Spannung, formuliere lesend schon irgendwie mit, jage nach »Stellen«, die sich eignen könnten, um meinen Leseeindruck und nicht zuletzt mein Urteil zu vermitteln. Das schöne Schweifen des »privaten« Lesens wird allerdings in der Regel auch irgendwann eingebaut in mein professionelles Referenzsystem – nur glücklicherweise steht zum Zeitpunkt der Lektüre noch nicht fest, wann und wo das geschehen wird.
S. Vričić Hausmann: Welche Lektüre hat Sie besonders beeinflusst, bzw. haben Sie Lieblingsbücher? Und warum bewundern Sie diese?
I. Hartwig: Die Frage klingt einfach, ist aber die schwerste. Selbstverständlich habe ich Lieblingsbücher, wenngleich das Wort eher ins Laienregister gehört. Es geht doch wohl darum, dass etwas Gelesenes Spuren hinterlässt, Theorie tut das natürlich auch. Schwierig, geradezu unbeantwortbar ist die Frage nach dem Warum: warum Werke mich berühren, abstoßen, aufwühlen, kalt lassen etc. Es ist die Frage überhaupt. Und es bleibt ein Rätsel, wie es zu diesen Affekten kommt: Warum hält man als Fünfzehnjährige die Schiller-Pflichtlektüre (Wilhelm Tell) in der Schule vor Langeweile kaum aus und kriegt mit 38 plötzlich den Schiller- Kick? Warum lese ich mit 19 die Wahlverwandtschaften und ein Jahr darauf noch einmal; warum habe ich nie Balzac gelesen (nicht wirklich), während Proust mich seit Jahrzehnten tief beeinflusst; warum komme ich auf Ingeborg Bachmann zurück und finde sie, als Person, interessanter denn je? Warum werde ich nie mit Arno Schmidt warm, obwohl ich weiß, dass er saugut ist? Warum gehen mir das Herz und das Hirn auf, wenn ich nur den Namen Jean Genet lese? Meine Kollegen haben mich dafür verspottet. Warum lese ich lieber Rousseau als Voltaire (weil Jean-Jacques verrückter war?), warum lieber Handke als Botho Strauß, warum lieber Tolstoi als Dostojewski? Warum finde ich Hannah Arendt unwiderstehlich? Warum ist Marguerite Yourcenar meine Lieblingskonservative? Warum weiß ich nicht und weiß es doch, dass Wie Alpen ein genialer Titel für einen Gedichtband ist? Warum lese ich gern Carl Schmitt? Wieso kann ich, das gilt genauso für Céline, bei Bedarf Stil und Denken trennen? Warum lesen so wenige Hubert Fichte, obwohl er so ungemein wichtig ist? Warum ist Dreckskerl von Wojciech Kuczok – für mich – eines der besten Bücher der Gegenwart? Besser als Teju Coles Open City, obwohl Open City hipper ist. Warum vertritt Imre Kertész' Sprache, in meinen Ohren und Augen, das klassische Maß? Und so könnte es noch lange weiter gehen. Fragen sagen oft mehr als Antworten .
S. Vričić Hausmann: Und machen Lust aufs Nachlesen! Mich interessiert noch ein etwas ins Vergessen geratener Aspekt des Lesens: der des »Eskapismus'« durch Lektüre, der sogenannten »Lesesucht«. So nannte man exzessives Lesen im 18. Jahrhundert, nachdem sich der Roman als damals neues Massenmedium etabliert hatte. (Beispiele »Lesesüchtiger« findet man in der Literatur durch die Jahrhunderte, vom Werther über Benjamins Berliner Kindheit um 1900 bis zu Georg Kleins Roman unserer Kindheit.) Wie eng sehen Sie Lesen und Eskapismus miteinander verbunden – und gefährdet zuviel Lesen manchmal die Gesundheit?
I. Hartwig: Wer weiß schon, was gesund ist! Aber Sie haben Recht: Lesen kann, auch, Realitätsflucht sein. Meistens scheint das Lesen aber der Realität etwas hinzuzufügen, sie überhaupt erst vollständig werden zu lassen. Es ist schon erstaunlich zu sehen, wie die Gefährlichkeitsphantasien wandern: Früher mussten die Kinder unter der Bettdecke »heimlich« lesen; heute sehnt sich die gute Gesellschaft nach lesenden Kindern, macht ein Riesenbrimborium ums Lesen, und fürchtet sich vor der Internetsucht der Kids. Man muss, scheint mir, grundsätzlich individuell schauen, welche Funktion das Verschlingen von Büchern oder die Flucht an den Bildschirm beim einzelnen Kind erfüllt. Letztlich ist es doch die Frage, wer eigentlich süchtiger ist, die Eltern oder die Kinder, wenn die lieben Kleinen ständig per Handy an der Leine hängen, ständig »erreichbar« sind (nämlich für Mama und Papa). Das sind psychologische Symbiosen, die womöglich gar nicht gut sind. Um’s mal vorsichtig zu sagen. Lesen ist jedenfalls etwas Herrliches, ein Weg hinaus aus der Höhle. Möge das immer so bleiben.
S. Vričić Hausmann: Das Wort »Gefährlichkeitsphantasien« trifft es gut, finde ich. Es geht ja letztlich um etwas Irrationales: Warum machen neue Medien Angst, warum fürchtet man, sie hätten einen negativen Einfluss auf die Gesellschaft, bzw. »die Jugend«? Ihre tatsächliche Wirkung, zum Beispiel die von Computerspielen, ist schwer nachvollziehbar.
I. Hartwig: Aggressive Computerspiele sind natürlich beängstigend; aber ich verstehe nichts von ihrer Wirkung. Gut wird sie nicht sein. Generell warne ich vor einer Pädagogik, die alles Böse und Hässliche von Kindern und vor allem von Jugendlichen fernhalten möchte. So mussten doch auch wir, die noch ohne digitale Geräte aufgewachsen sind, Pornographie und Gewaltbilder zur Kenntnis nehmen. Die Welt ist nicht ideal, und besonders gerecht scheint sie mir auch nicht zu sein. Wie man aufgeschlossen und zuversichtlich wird und bleibt, ist das Geheimnis. Es hat vermutlich ziemlich wenig mit Computerspielen zu tun und sehr viel mit dem Elternhaus, mit Freunden und anderen Vertrauenspersonen.
S. Vričić Hausmann: Zur Wirkung von Leseerfahrungen liefert Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray einen interessanten Beitrag. Dorian wird als eine Figur vorgestellt, die unter anderem durch die Lektüre eines Buches (À rebours von Huysmans) »vom rechten Pfad abkommt«. Inwiefern kann eine bestimmte Lektüre den Charakter Ihrer Meinung nach tatsächlich beeinflussen?
I. Hartwig: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Allerdings habe ich keine Ahnung, ob Lektüren sich auf den Charakter auswirken können (habe da meine Zweifel). Fest steht jedoch, dass Leseerfahrungen uns total prägen, und zwar die Wahrnehmung, und nicht nur die Wahrnehmung von Sprache, sondern auch von Welt. Das kann so weit gehen, dass man »Kafka« denkt, wenn man im Nebel am Hamburger Hafen steht (von dort bricht Karl Rossmann auf nach Amerika); dass man »Proust« denkt, wenn man hinter dem Fenster eines Bürgerhauses den Zipfel eines Samtvorhangs erhascht; dass man »Benn« denkt, wenn man eine Hure unter der Gaslaterne sieht; oder »Brigitte Reimann«, wenn man einer Plattenbausiedlung den untergegangenen Euphemismus des Sozialismus ansieht. Lesen lehrt sehen. Und fühlen, und mitfühlen. Und denken sowieso. Trotzdem waren das jetzt eher plumpe, illustrative Beispiele. Wahrnehmung meint natürlich mehr. Auch Kunstwerke wirken übrigens so. Man sieht die Wolken durchs Flugzeugfenster und denkt: Georgia O’Keeffe! Man fährt U-Bahn in New York und meint plötzlich die Gesichter in den Fotografien von Walker Evans zu erblicken … Jeder passionierte Leser wird diese Erfahrung kennen.
S. Vričić Hausmann: Was kann Literatur, was andere Unterhaltungsmedien nicht können?
I. Hartwig: Abgesehen von den Möglichkeiten der Sprache – Roland Barthes nannte die Literatur »die Utopie der Sprache«, weil die Sprache in der Literatur eigentlich erst zu sich selbst komme –, kann Literatur etwas, das die anderen Medien (Film, Fernsehserien) nicht können: nach innen schauen.
S. Vričić Hausmann: Wie wichtig ist für Sie persönlich das Medium des gedruckten Buches? Bedeutet der Umzug der journalistischen Publikationsmedien (Tageszeitungen etc.) ins Internet einen Qualitätsverlust?
I. Hartwig: Persönlich halte ich am gedruckten Buch fest; das Buch ist ein Objekt, in dem ich gedanklich spazieren gehe, es ist etwas Räumliches. So bin ich aufgewachsen, es fällt mir schwer, davon loszukommen. Am Bildschirm liest man natürlich auch, aber das deprimiert mich nach einer Weile. Kann daran nichts ändern. Aber es wäre albern, gegen den Medienwandel zu opponieren; wir stecken da drin, ich versuche es gelassen zu sehen, und wenn am Ende die Taschenbücher zugunsten von E-Books verschwinden (wie einige Kenner der Materie voraussagen), wäre das keine Katastrophe. Beim Journalismus ist das etwas anderes: Die Zeitungen haben eine ganze Generation verdorben und getäuscht, indem sie ihre Inhalte umsonst ins Netz gestellt haben. Die jungen Leute glauben, und man kann es ihnen nicht verdenken, dass »Informationen« irgendwie im Netz zu holen seien und man keine (gedruckte) Zeitung mehr brauche. Das Medium macht mir dabei weniger Kopfschmerzen – warum soll man Zeitung nicht auf dem iPad lesen? Aber wie sich der Journalismus halten lässt, das muss eine Demokratie und einen Rechtsstaat im Tiefsten beschäftigen. Es muss prüfende Instanzen geben, eben die vierte Gewalt; womit nicht gesagt sei, dass diese Instanzen nur gute Arbeit leisten. Im Unterschied zu vielen Netz-Aficionados glaube ich allerdings an diese Instanzen, vor allem glaube ich an die Institution Zeitung. Die täglich gemacht wird von Leuten, die an Themen dran sind, die als Aufklärungs- und Prüfinstanz verlässlich sind, oder zumindest sein sollten. Für mich würde eine Welt untergehen, wenn es die großen Tageszeitungen wie die Süddeutsche, die FAZ, Le Monde oder die New York Times nicht mehr gäbe.
S. Vričić Hausmann: Welche ja zu den wichtigsten Sprachrohren der Literaturkritik gehören. Zu Ihrem Selbstverständnis als Kritikerin: Sie legen die Lektüre mancher Bücher nahe, empfehlen andere nicht und schlagen Lesarten vor. Lastet die Verantwortung der »Mittelsfrau« manchmal schwer auf Ihren Schultern? Oder glauben Sie, dass man vielleicht sogar eine Art »Lese-Erziehung« betreiben sollte?
I. Hartwig: Meine Devise lautet: keine Tipps! Kritik (im strengen Sinne jedenfalls) ist das Gegenteil einer Leseempfehlung – sie bietet eine Lesart an. Eine Haltung. Und möglichst so, dass der Leser darin noch einen Platz für sich selbst findet. Lese-Erziehung, nein, das klingt mir zu heroisch. Eher Verführung dazu, ein Buch auf eine bestimmte Art zu lesen.
S. Vričić Hausmann: Sollte man eigentlich beim Schreiben eine Vorstellung der eigenen Leserschaft haben? Und wie stehen Sie zu Genres mit sehr kleinen Auflagen wie Lyrik? Haben diese ihre davon unabhängige Berechtigung und Bedeutung?
I. Hartwig: Literatur existiert auch unabhängig von der Leserschaft. Lyrik ist das eine – die Lyrikszene empfinde ich heutzutage als sehr lebhaft. Da gibt es viele, die zuhören, und die junge Generation ist gut organisiert. (Selbstorganisation von Schreibenden und Autoren/innen als Leserschaft wäre ein Thema, dem man mal gründlicher nachgehen sollte.) Das andere, was mich sehr interessiert, sind Autoren, die fast ohne Publikum schreiben oder geschrieben haben, wie zum Beispiel Kafka. Kafka hatte, außer im privaten Kreis, so gut wie keine Leser. Natürlich ist es angenehm, ein großes Publikum zu haben. Aber man sollte, finde ich, nicht zu sehr auf mögliche Leser schielen, ob nun als Lyriker oder als Prosaautor.
S. Vričić Hausmann: Zeichnet es vielleicht »große Literatur« gerade aus, dass sie nicht für ein Publikum geschrieben ist und man ihr nicht anmerkt, dass sie gelesen und honoriert werden will?
I. Hartwig: Ja und nein. Denn es gibt auch die Fortsetzungsgenies wie Balzac, die sich ganz klar an ein Publikum gewendet haben. Jonathan Franzen spricht sogar vom »Pakt mit dem Publikum«. Er glaubt, er könne eine Art psychologische Strategie in seinen Werken planen, die er beim Publikum dann einsetzt. Es kann sein, dass das unter seinen Produktionsbedingungen auch hinhaut, aber ich würde so etwas nie generalisieren wollen. Auf der anderen Seite gibt es tatsächlich Beispiele bedeutender Autoren, die ohne eine Leserschaft vor Augen geschrieben haben – und die ich ganz besonders bewundere, wie Imre Kertész oder Warlam Schalamow, der schon lange tot ist und erst jetzt dank der deutschen Übersetzung bei Matthes & Seitz in den deutschsprachigen Ländern entdeckt wird. Schalamow hat mit seinen grauenvollen Geschichten aus Kolyma, wo er unter dem Stalinismus jahrzehntelang im Dauerfrost interniert war, großartige Literatur geschrieben. Tja, und das ist Literatur, die hatte kein Publikum! Ich habe viel Lagerliteratur gelesen. Das hat bei mir den Gedanken geschärft, dass große, existentielle Literatur auch ohne Publikum entsteht.
S. Vričić Hausmann: Auch ohne Publikationsmöglichkeiten kann man sich aber beim Schreiben an ein imaginäres Publikum wenden ...
I. Hartwig: Den Umgang mit der unbekannten, imaginären Leserschaft sehe ich als eine der größten Herausforderungen beim Verfassen von Texten, kenne das selber aber nicht von der literarisch-künstlerischen Warte, sondern aus der Perspektive der Essayistin und Kritikerin. Für mich ist es eine wichtige Voraussetzung, dass man im Moment des Schreibens davon ausgeht, zu Menschen zu sprechen, mit denen mich etwas verbindet. Wenn man über Bücher schreibt, macht man die Erfahrung, dass man seine Empfindungen, ob negative oder positive, mit anderen teilt. Man weiß als Profi, wie man zum Ausdruck bringt, was man denkt. Und damit auch das, was die anderen denken und empfinden, aber so nicht sagen können, wollen oder dürfen. Man ist also jemand, der die Sprache findet, in der andere eine adäquate Antwort sehen können auf ihre eigenen Fragen und Gedanken. Das hat etwas mit Ernsthaftigkeit zu tun. Man macht sich zum Behältnis von etwas Übergeordnetem, wird selbst Medium. Das muss man nicht explizit machen, sondern der Funke springt über, wenn man seine Leser (genauso wie sich selbst) ernst nimmt. Deswegen ist das auch mit der Lese-Erziehung so eine Sache. Ich halte gar nichts davon, von einem »zu erziehenden« Publikum auszugehen. Das Publikum ist schon erzogen. Es will nicht unterfordert werden. Ich bin überhaupt nicht für unverständliches Schreiben, aber ich bin dafür, zu einem Publikum zu sprechen, das, pathetisch gesagt, ein intelligentes Herz hat.
S. Vričić Hausmann: Eine kleines »Publikum« oder »Gegenüber« sind für Sie als Gastdozentin ja in diesem Wintersemester die Studierenden des DLL. Wie stehen Sie eigentlich zu der Debatte, dass die »Junge Literatur« heute vom »Schreibschulenstil« dominiert wird und sich gesellschaftlich zu wenig einmischt?
I. Hartwig: Mir sind diese Debatten, die wohl eher Polemiken sind, zu pauschal. Sie ärgern mich sogar. Konkret sieht es dann immer ein bisschen anders aus, wie ich ja gerade selbst, eben am Deutschen Literaturinstitut, zu meiner großen Freude erleben darf. Die Studierenden sind derartig eigensinnig und unterschiedlich, dass man sie nicht auf einen Nenner (»Arztsohn«) bringen kann.
S. Vričić Hausmann: Welche Rolle spielt Literatur für die Gesellschaft allgemein? Geht es um Kritik, Analyse, Dokumentation, Archivierung – oder doch in erster Linie um ästhetischen Genuss?
I. Hartwig: An den Höfen des 17. Jahrhunderts, vor der Aufklärung, galt der Esprit als höchste Kunst. Die Aristokratie wollte sich auf hohem Niveau amüsieren und beschäftigte die besten Dramenschreiber; heute ist die Aristokratie weitgehend ungebildet und oft schrecklich vulgär. Im 19. Jahrhundert lasen sich die Frauen die Augen wund und feierten ihre unerfüllten Sehnsüchte ab. Im kommunistischen Osteuropa war die Literatur ein Schmuggler brisanter Botschaften. Und heute? Die Gegenwart ist immer am schwersten einzuschätzen.
S. Vričić Hausmann: Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft: Was denken Sie, wie sich der Stellenwert des Lesens in den nächsten Jahren entwickeln wird?
I. Hartwig: Das weiß ich nicht. Aber soviel kann ich sagen: Zur Zeit erleben wir in der Literatur, gerade in Deutschland, aber auch in Polen, Ungarn oder Frankreich eine interessante, reiche Phase. Es werden wahnsinnig gute Sachen geschrieben; nur wer liest sie außer den paar Kritikern? Wenn es eine Krise gibt, dann nicht eine der Literatur, sondern eine des Lesens. Wer weiß, ob sie nicht wieder überwunden wird. Es geschehen die erstaunlichsten Dinge.
S. Vričić Hausmann: Vielen Dank für das Gespräch!
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Sibylla Vričić Hausmann
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