poetenladen    poet    verlag

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Peter Handke
Versuch über den Pilznarren

Peter Handkes letzter Versuch
  Kritik
  Peter Handke
Versuch über den Pilznarren
Suhrkamp Verlag 2013
217 S. | EUR 18,95


Der österreichische Schriftsteller Peter Handke schreibt seine Werke nicht in der Hoff­nung, möglichst häufig bespro­chen zu werden. Seine Texte finden ihre Leser nach fast 50-jähriger Karriere, ohne sie zu suchen, trotzdem taucht jede seiner neuen Ver­öffent­lichun­gen in den Feuil­letons auf, finden sich immer neue Rezi­pienten für seine oft als Selbst­refle­xionen ange­legten Texte. Zu Recht, wie ich finde, denn Peter Handke ist längst mehr als ein Schrift­steller, seine Werke Lyrik und Prosa zugleich.

Nach seinen ersten großen Erfolgen in den späten 1960er Jahren mit Publikums­beschimp­fung und Die Angst des Tormanns beim Elfmeter verlängerte sich die Liste der ihm zugedachten Nomi­nierungen und Aus­zeichnungen stetig. Er ist der wohl bekann­teste österreichische Gegenwartsautor und vielen nicht zuletzt bekannt als der Mann, der durch seinen Reise­bericht Eine winter­liche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtig­keit für Serbien im Jahr 1996 die Kriegs­verbrechen der Serben – im Urteil der Kritik – ver­harmloste. Vor Kurzem erst, als die Ver­leihung des Ibsen-Preises an den Autor anstand, zeigte sich erneut, dass weniger seine schrift­stell­erische Arbeit als seine politi­sche Haltung im Vorder­grund steht. Als »Faschist« beschimpft, entschied er sich, nicht zum ersten Mal in seiner Karriere, das Preisgeld zu spenden.

Peter Handke polarisiert in seinen politischen An­sichten, doch seine Literatur zeigt, losgelöst von politi­schen Meinungen, dass er all die Aus­zeichnungen zurecht bekommen hat. Auch sein aktuelles Werk Versuch über den Pilznarren, erschie­nen bei Suhrkamp, zeugt von lite­rarischer Meisterschaft.
  Handke geht in dem fünften Band seiner Reihe der Versuche „quer­wald­ein“ und fächert vor dem Leser eine märchen­hafte Welt auf. In seinem zwi­schen Essay und Prosa oszillie­renden Versuch über den Pilznarren haben wir es dabei weniger mit Pilzen zu tun als mit einem Selbst­versuch. Auch wenn der Pilz zwischen sämt­lichen Wörtern hervorlugt, immer wieder umkreist, als „andersbraun“ und „anders­gelb“ beschrie­ben wird, obwohl er gepflückt, verspeist, verflucht und ge­liebt wird, ist er dennoch nur die Peri­pherie der Geschich­te. Pilze stehen Handke für die Wild­heit, denn, so er­örtert er in seinem Text, Pilze könne man nicht zähmen, sie leben un­sich­tbar im Wald­boden, ein weit­ver­zweigtes Netz entfaltend. Als poeto­logi­sches Exempel für Wide­rstand sind Pilze in et­lichen von Handkes Texten präsent – somit erscheint es als logi­sche Folge, dass der Dichter mit ihm seine Reihe beschließt.

Im Jahr 1989 publizierte Handke seinen ersten Versuch – damals „über die Müdig­keit“. Der Auftakt einer Reihe lyri­scher Essays, die er 2012 mit dem vierten Versuch über den stillen Ort (womit tat­säch­lich das Stille Örtchen gemeint ist) nach 21 Jahren wieder aufnimmt, um sie nur ein Jahr später end­gültig zu beenden. Im Versuch über den Pilz­narren steht jedoch nicht ein schwei­fendes Autoren-Ich im Vorder­grund wie in den voran­gegan­genen Werken, sondern ein „Jugend­freund“ des Autors. Dieser Jugend­freund bleibt namenlos, weist jedoch unverkennbare Ähnlichkeiten mit dem Schrei­benden auf, der seinen Freund offen­bar so gut kennt, dass er beinahe durch die Augen dessen sehen kann. Der streift als Pilz­narr durch die Wälder von Chaville bei Paris, wo auch Handke bis heute lebt. Chaville ist dem Handke-Leser bereits aus seinem erstmals auto­bio­grafische Themen auf­grei­fenden Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) bekannt, als dessen Autor der all­wissend anmutende Erzähler sich auch zu erkennen gibt.

Im Versuch über den Pilznarren ist es also kein Ich-Erzähler, der den Leser durch den Text führt, vielmehr spricht der Schrift­steller rück­blickend vom Zeit­punkt, da er sich ent­schieden hat, die Ge­schichte aufzu­schrei­ben, von seinem ver­schwun­denen Jugend­freund, von dem er auf­fällig viel weiß. Der ist von Kindes­beinen an in den heimi­schen Wäldern in der Nähe eines Kärntener Dorfes – wo auch Handke geboren wurde – an das Sammeln von Pfiffer­lingen gewöhnt, wobei ihm das Gehen wichti­ger er­scheint als das Finden. Der Junge verkauft seine Pilze an die Slowenen, die nach dem Krieg den Pilz­handel betreiben, um sich Bücher er­stehen zu können, ist aber noch weit davon entfernt, ein Pilznarr zu sein. Er geht seiner Ausbildung nach und wird – auch hier der Bezug zu Handke – Jurist. Als erfolg­reicher Anwalt an inter­nationa­len Ge­richtshöfen zieht er mit Frau und Kind nach Chaville. Pilze sam­melt er zu diesem Zeit­punkt schon lange keine mehr, bis er in den „lichten Weiten“ der Laub­wälder, zufällig, in der Nähe der Straße auf einen frischen, jungfräulich anmu­tenden Königspilz trifft – den Stein­pilz. In diesem Moment, als der Jungend­freund des Pilzes „ansichtig wird“, findet die Trans­forma­tion zum Pilz­narren statt. Dem Erzähler fallen sämtliche Namen des Steinpilzes ein, die in diesem viel­sprachi­gen Grenz­gebiet kursieren, den Jugend­freund führt er durch seine bloße Gestalt zu seiner jugend­lichen Leiden­schaft zurück. Das Initia­tions­erleb­nis, „der erste Augen­blick des Ansichtig­werdens“ ist ihm wich­tiger als das Pflücken und Suchen, ein Leit­motiv, welches den Pilz­narren eben auch schon in den Nadel­wäldern seiner Kind­heit begleitete. Doch dort hatte es nie Stein­pilze gege­ben – der Königs­pilz löst im Pilz­narren etwas aus, das ihn der Welt völlig entrücken lässt. Er fängt an, Fami­lie und Beruf zu ver­nach­lässigen, streift unab­lässig durch die Wälder bei Paris und bietet Handke eine wunder­bare Projektions­fläche für Selbst­ironie und auto­bio­gra­fische Spiege­lungen.

Mal ist der Jugendfreund näher an der Person Handkes, wenn er ebenso das „Rauschen und Brausen der Bäume“ hört, ihn mythisch über­höhte Metaphern zur Selbstfindung verwenden lässt und ihn Sätze wie sie von Handke stammen könnten sprechen lässt: „Was habe ich doch für Glück gehabt, mein Leben lang! Und wie habe ich mich immer wieder getäuscht, einmal bitter, dann schön.“ Dann gibt es auch Phasen, in denen der Jugend­freund auto­bio­grafisch weiter vom Autor entfernt ist. In seiner Lust zum Formu­lieren aber, in der Ver­wen­dung seiner Sprache, ist er dicht beim Dichter Handke.

In der Steinpilz­passage wirft der Schreibende dem Jugend­freund gar vor, nun doch vom Steinpilz zu viel zu fabu­lieren, worauf der sogleich entgegnet, dass Handke bei einem „höchst­wahr­schein­lich einfach so daher­gewehten Feigen­blatt“ vom „Ereig­nis des ersten Feigen­baums psalmo­diert“ habe. Mit dem wunder­baren Wörtchen „psal­modiert“ ironisiert Handke in Gestalt des Jugend­freunds seine eigene Sprache und Verlieb­theit zum Beschrei­ben mit einer erfri­schenden humor­vollen Leichtig­keit. Es erscheint, als sei das Beschreiben und Formu­lieren für Handke die Haupt­aufgabe des Textes, wenn er sich als bele­sener Wald­gänger dar­stellt und in beson­deren Satz­kons­truk­tionen roman­tische und klas­sische Stil­mittel der Land­schafts­beschrei­bung heran­zieht und überhöht, die gleich­zeitig wie eine Meta­phorik der Ver­lassen­heit erscheinen:

Die Wälder der Kindheitsgegend waren vor allem Nadelwälder, und überdies fast aus­schließ­lich, bis auf die lichteren Lärchen­inseln oben in den Berglagen, die Fichten, mit ihrem besonders dichten Nadel­kleid, und diese Bäume wuchsen jeweils nah bei­einander, die Äste und Zweige ineinander verzahnt und ver­flochten, und finster und finste­rer wurde es beim Hinein­tauchen zwischen all dem Fichten­gewirr, so daß mit der Zeit weder Einzel­bäume noch ein ganzer Wald sinn­fällig wurden, und am fins­ters­ten und ort­loses­ten war es dann im Waldinneren, das oft schon bald oder sogar gleich, nach ein paar Schritten weg von den Rändern, einen umfangen hielt: kein Durchblick mehr zwischen den Stämmen mit den in der Regel toten unteren Ästen hinaus in das eben noch ihn umge­bende Freie, in das eben noch das weite Land bestrah­lende Tages­licht, als Licht nur ein gleich­blei­bendes tiefes Dämmern, welches nirgends als Licht wirk­sam wurde, nicht bloß, kaum einen Hauch' in den (unsicht­baren) Wipfeln, sondern gar keiner, vom Vogel­gesang vor ein paar Schritten zu schweigen.

­ Handke macht sich wiederum in der Gestalt des Schreibenden über die Obses­sionen des Jugendfreunds lustig, die doch seine eigenen sind, und lässt ihn schließlich aus uner­findlichen Gründen verschwinden. Keiner weiß, was geschehen ist, der Erzähler macht sich an das Auf­schrei­ben der Geschichte, die der Leser in dem Moment in den Händen hält, als der Pilznarr plötz­lich, nach Jahren des Ver­schollen­seins, wieder auftaucht. Schein­bar vom Narr-Sein geheilt, in gepfleg­tem Anzug, doch noch immer mit jener Verlassen­heit in den Augen­winkeln, die einem Wal­dgänger eigen ist. Seine schein­bar souveräne Rück­kehr nach dem völligen Abdriften erscheint dem Leser wie ein Ange­kommen­sein nach langen Wander­jahren, etwas, das Peter Handke heute zu sein scheint. Der Dichter als Wanderer, nicht nur in der Literatur ist angekommen und hat mit Versuch über den Pilznarren eine wunderbare, lyrische, humor­volle Selbst­refl­exion geschrie­ben, die den Leser durch Handkes verführe­rische Erzähl­weise mit­nimmt.

Die beiden Freunde wandern am Ende des Buches zusammen durch die Wälder von Chaville. Es ist der Geburts­tag des Pilznarren, sie wollen ihn mit einem Pilzmahl gebührend feiern. In Anlehnung an das Märchenhafte führt sie ihr Weg zum Hei­ligen Graal, in die Auberge du Saint Graal und es kommt, wie es im Märchen kommen muss: „Aber ist das am Ende nicht zu viel des Märchens? Mag sein: Im Märchen wurde er geheilt. In der Wirklichkeit aber... – Dazu sagt freilich die Eingebung oder was oder wer sonst: Das Märchenhafte, im Fall des Falles, ist das Aller­wirklichste, das Notwendige.“
Sophie Sumburane     08.10.2014    

 

 
Sophie Sumburane
Prosa