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Tina Gintrowski
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Wenn es warm ist, gehen wir barfuß. Wir nehmen uns in Acht, vor Scherben, Erbrochenem, Hundehaufen. Wir achten auf uns mit den Sohlen. Wir spüren dem Untergrund nach. Bevor wir uns vorwärts verlagern, tippen wir ihn an, wir testen ihn halbgewichtig aus, Schritt für Schritt, Fuß für Fuß, Zeh für Zeh. Wir greifen Oktaven auf dem besonnten Asphalt, wir spielen beidseitig. Das Feld um uns füllt sich mit einer erschlichenen Melodie.

Hin und wieder dehnen wir uns aus, spreizen und strecken uns, so weit wie möglich. Wir vermessen, wie viel Platz wir einnehmen. Hin und wieder krümmen wir uns zusammen, um zu sehen, wie wenig Platz ausreicht, im Notfall. Wir wärmen uns auf, wir üben. Wir haben keine Berechtigung dafür.

Unsere Hände gebrauchen wir für die Voraussicht. Wir strecken beide Arme weit vor und zur Seite und nach oben und nach unten, wir tasten. Wir wackeln mit den Fingern und begutachten den Widerstand der Luft. Manchmal sind unsere Hände ein Haus, manchmal Pistolen.

Irgendwann beginnen wir, die Arme kreisen zu lassen, abwechselnd. Wir werfen sie dicht an den Ohren vorbei und kraulen uns vorwärts. Mag sein, dass man uns mit Windmühlen verwechselt. Mag sein, dass wir Windmühlen sind, und Mehlstaub unsere Füße pudert. Dann hinterlassen wir Spuren und wissen nicht, ob es uns beglückt.

Der Rücken meldet das, was hinter uns ist. Ein Flammenmeer, ein Untergang vielleicht, oder ein Mann mit Hund. Falls Gefahr droht, beugt er uns, bis wir genug haben. Dann richtet er sich auf und wir werden mächtig, als Lattenzaun, als Mauer, Wand, oder als Hinkelstein vielleicht. Wenn die Gefahr vorüber ist, entspannt er, und wir setzen gerade unseren Weg fort. Außer er ist entzwei. Dann warten wir und geben Rätsel auf, um die Zeit zu vertreiben, denken Worte aus, oder wir erinnern uns, bis er heilt.

Gelegentlich bewegen wir uns auch rückwärts. Kann sein, wir stoßen dabei jemanden gegen den Kopf. Wir heben entschuldigend die Hand, wenn es unnötig, und schweigen, wenn es angebracht war.

Während wir gehen, halten wir die Augen geschlossen. Während wir stehen, linsen wir manchmal unter den Lidern hervor, wenn es sich nicht vermeiden lässt, weil eine Hand spontan ein Lid anhebt, oder wenn innen nichts zu sehen ist und wir uns langweilen, oder wenn es zu hell wird. Gut möglich, wir erblicken dann nichts und schließen sie gleich wieder.

Von Zeit zu Zeit erinnern wir uns daran, zu atmen. Wir öffnen den Mund, formen mit den Lippen ein großes O und saugen Luft in jeden Winkel unseres Körpers. Beim Ausatmen verkleinern wir das o, so dass ein hoher Ton lange aus uns pfeift. Vielleicht rülpsen wir zwischendurch und kichern und schämen uns nicht. Dann wieder halten wir die Luft an, bis unser Kopf beginnt, einer großen blauen Birne zu ähneln. Wir vermeiden es, zu platzen. Wenn wir aus dem Takt geraten, lauschen wir auf die Melodie und passen unseren Atem ihrem Rhythmus an. Wir kommen voran.

Die Zunge dient uns dazu, kurzen Kontakt zur Nasenspitze herzustellen. Manchmal hängen wir sie auch gerade heraus, zum Trocknen, oder um unsere Meinung zu sagen. Manchmal lassen wir sie im Mund, bewegen sie hin und her und drücken sie gegen den Gaumen. Dann kann es passieren, dass wir Worte vertonen, die wir nicht ausgedacht haben. Möglicherweise reihen wir Wiewörter aneinander, versteifen uns auf Konjunktionen oder stoßen Satzzeichen aus, solange bis unser Weg ganz und gar punktiert ist.

Wenn wir uns berühren, bekommen wir Ausschlag, am linken Oberarm, und manchmal am Bauch, dort, wo der Nabel sitzt. Wenn andere uns berühren, fallen wir. Wir verlieren die Beherrschung, die Spannung, das Rückgrat. Wir sinken in uns zusammen und machen unser Gesicht bekannt mit dem Asphalt. Wenn wir andere berühren, fallen sie. Wir lachen dann, weinen, oder sind ungerührt und gehen weiter.

Mag sein, dass wir Rokko begegnen. Vielleicht fällt uns wieder ein, seinen Namen zu tätowieren. Vielleicht wagen wir uns vor, beißen ein Stück von seiner Maultasche ab, und schwimmen gleich weiter, so weit, bis wir ihn vergessen haben. Vielleicht wagt er sich vor und wir sagen Nicht, sagen es einmal. Wenn er sich verhört, entstehen Pistolen, und der Mehlstaub verfärbt sich rosa.

Mit der Zeit werden wir übermütig. Wir beginnen zu rennen und stolpern, mit dem rechten Fuß über den linken, oder über einen Ausruf, der aus unserem Mund kommt, oder über eine Hürde in unserer Erinnerung. Möglich, dass wir der Länge nach hinschlagen. Dann hoffen wir, dass ein Begrenzungspfeiler hilft, uns wieder aufzurichten. Möglich auch, dass uns im Lauf etwas verloren geht. Wir machen Halt, schleichen zurück und suchen. Wenn wir es finden, beginnen wir von Neuem. Zeh für Zeh, Fuß für Fuß, Schritt für Schritt.

Es soll Gewitter geben, morgen. Wir werden achtsam sein. Wir werden barfuß gehen. Wir werden mit uns fertig werden. Wir werden vorwärts kommen.

 

Tina Gintrowski       06.06.2007       

 

 
Tina Ilse Maria Gintrowski
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Lyrik