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Ulrike Anna Bleier
Andy Warhols Schuhe

Als ich die Redaktion betrat, um mich allen vorzustellen, saß Kata am großen Emp­fangs­schreib­tisch und tele­fonierte. Ich wartete. Sie zwinkerte mir zu, während sie lauschte, und ein paar Mal lachte sie auf eine Art und Weise, dass ich dachte, es müsse eine Freundin sein am anderen Ende. Ich setzte mich auf einen Stuhl und betrach­tete ihre Lack­schuhe: knall­rot, mit einer großen Schnalle obendrauf, die aussah wie ein Gras­hüpfer. Sie kratzte sich mit einem silbernen Kugel­schreiber am Knöchel und kurz darauf lachte sie noch einmal und sagte: »Tschüs, Herr Professor, bis Montag.«

Sie steckte den Kugelschreiber ein, strahlte mich an und sagte: »Da sind Sie ja, herzlich will­kommen. Ich bin Katja Brunnen.« Wir schüttelten uns die Hand, und dann ging sie mit mir von Büro zu Büro und stellte mich den anderen vor, als sei ich ein hoher Gast, der nur selten zu Besuch kommt.

Ich bekam die Ressorts Psychologie und Sport zugeteilt, nicht gerade ideal, aber für mich war es okay. Die Sportsache machte mir nach einiger Zeit richtig Spaß. Das sagte ich auch Kata, als sie mir nach ein paar Wochen die Hand auf die Schulter legte: »Du Ärmste, immer diese gräss­lichen Hand­ball­spiele! Komm doch mal mit zu den Les Frères, da gibt es eine Mode­schau mit Sektempfang und allem Drum und Dran.«

Kata war für Mode und Wirtschaft zuständig, beides für eine Volon­tärin unge­wöhnlich große Bereiche. Sie hatte die Ressorts von Susanne über­nommen, die für längere Zeit ausge­fallen war. Die Re­daktions­prakti­kanten rissen sich darum, für Kata zu arbeiten. Sie hatte eine schöne Altstimme, die nie laut wurde oder ärgerlich, und sie brachte ihnen Schoko­lade und andere kleine Geschenke mit, wenn sie Über­stunden geschoben hatten. Und dann schrieb sie diese wunder­baren Artikel über Menschen und Neuigkeiten, Artikel, die tatsäch­lich neu und nicht nur abgeschrieben waren. Alle mochten sie.

Nur die kleine Petra aus der grafischen Abteilung konnte Kata nicht ausstehen. »Die ist hintenrum«, sagte sie eines Tages, als wir in der Teeküche standen. »Bei uns kommen in letzter Zeit CDs weg, und wenn du mich fragst, ich tippe auf eure Kata.«

Die kleine Petra war eine, die gern tratschte – und sie fand auch immer etwas. Ich zuckte mit den Achseln, ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. In dieser Zeit begannen Kata und ich öfter zusammen in die Mittags­pause zu gehen, und eines Tages konnten wir uns nicht entscheiden, was wir essen sollten, und so bestellten wir zwei Essen und teilten schwesterlich. Sie aß die Hälfte von meinem und ich die Hälfte von ihrem Teller. Es war Katas Idee gewesen.

Ihre Leidenschaft waren Schuhe. Sie entdeckte die Ballett Heels vor allen anderen, ebenso Pumps mit Keilabsatz oder Bowling­schuhe, und sie trug als erste ein Paar dieser Dinger, die so spitz zulaufen wie ein neuer Bleistift.

Als ich Kata erzählte, dass ich einen Bildband über Andy Warhols Schuh­zeich­nungen besaß, bekniete sie mich, ihn ihr zu leihen. Ich brachte ihn am nächsten Tag mit, und sie stellte mir wochen­lang jeden Morgen eine Tasse frisch gebrühten Kaffee auf den Schreib­tisch. Wir gingen mitt­wochs und freitags zusammen essen und plauderten über das, was wir mochten und was wir nicht mochten, und viel über Kunst und Mode. »Es ist einfach toll, das Buch«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht, dass der Typ mal Schuhe designed hat. Aber das erklärt natürlich einiges.« Ich war froh, dass ich ihr das Buch geliehen hatte.

Dann kam Susanne zurück, die Ressortleiterin von Wirtschaft und Mode. Wirtschaft und Mode waren jetzt jedoch fest in Katas Hand, und Susanne machte Ärger, weil der Chefredakteur sich weigerte, die Ressort­vertei­lung rückgängig zu machen. Kata verbrachte Stunden in Susannes Büro und im Büro des Chef­redakteurs und am Schluss übernahm Susanne Psychologie und Wirtschaft, Kata bekam den Sportteil dazu, und ich wurde ge­kündigt. Kata hatte ihr Volontariat offiziell abgeschlossen und erhielt einen festen Vertrag. Sie hatte fast jeden Tag andere Schuhe an.

Ich bekam zum Abschied eine riesengroße Balkonpflanze und eine Flasche Champagner geschenkt und Kata überreichte mir einen Umschlag, in dem sich eine Ein­ladung für die Frühlings-Moden­schau bei Les Frères befand. Wir gingen zusammen hin, und ich lernte einen Haufen Leute kennen, die in den höchsten Tönen von Kata sprachen. Kata lachte den ganzen Abend, und als ich sie mit dem Taxi zu Hause absetzte, umarmte sie mich und wünschte mir alles Gute. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie in ihren blauen Ankle Boots auf einen Typen mit Vollbart zustöckelte. Dann fuhr das Taxi weiter und ich konnte nicht mehr erkennen, ob sie sich auf den Mund küssten oder auf die Wangen oder gar nicht.

Im Sommer las ich, dass ein Film über Andy Warhol in einem Open-Air-Kino lief, und mir fielen Kata und mein Bildband wieder ein. Ich sprach ihr auf den Anruf­beant­worter. Dass ich mich freuen würde, sie mal wieder zu sehen. Sie könne dann auch gleich das Buch mitbringen, sagte ich.

Sie meldete sich nicht, und ich ging allein ins Kino. Ich schrieb eine E-Mail, wie es ihr ginge, ob wir uns mal wieder treffen sollten, dass ich das Buch gerne wieder hätte.

Drei Wochen später rief sie an. Sie sei in Paris gewesen, es war toll, nur der Job ginge ihr auf die Nerven. »Dieser Sportkram ist grauen­haft«, sagte sie und lachte. »Ich freu mich schon auf die Skisaison. Die tragen wenigstens Jacken über ihren verschwitzten Achseln.« Es tat gut, ihre Stimme zu hören. Sie erzählte mir, dass sie eine Volontärin betreute: »Sie heißt Petra, ich glaube, du kennst sie. Sie hat mal Layout bei uns gemacht, als sie noch studiert hat.«
»Verstehst du dich mit ihr?« fragte ich.
»Ach, wir verstehen uns blendend«, sagte Kata. »Sie ist so süß, ich hab sie fast so gern wie dich. Am liebsten schreibt sie über die Les ­Frères. Wie ich damals, als ich angefangen habe, weißt du noch?«
Wir legten auf und mir fiel ein, dass wir gar nicht über das Buch gesprochen hatten.

In diesem Sommer begegnete ich dem Typen, der sie damals vom Taxi abgeholt hatte, er wartete im Super­markt in der Schlange neben mir. Er sah her­unter­gekommen aus; sein Auge war geschwollen von einem kreis­runden Blut­erguss, der in den Kom­plementär­farben leuchtete. Er bemerkte, dass ich ihn anstarrte, und warf mir einen unfreundlichen Blick zu.

Als ich Kata das nächste Mal traf, fielen die Blätter von den Bäumen und sie hatte den Bildband auf ihrem Schreib­tisch vergessen. »Ich schick ihn dir gleich morgen«, sagte sie. »Ich bin zur Zeit der­maßen einge­spannt. Susanne ist schon wieder krank, und ich mache ihre Seiten zusätzlich. Ach, wenn du doch noch da wärst«, sagte sie und nahm meine Hände. Ich erzählte ihr von meinem Sommer, von ein paar Jobs, die ich gemacht hatte, dass mein Geld langsam zu Ende ging, dass ich anfing, mich jämmer­lich zu fühlen. Sie hörte mir zu und sagte, dass alles gut werden würde, und als wir uns trennten, war ich sicher, dass mein Leben bald eine positive Wendung nehmen würde.

Doch Kata schickte das Buch weder am nächsten Tag noch am übernächsten, nicht zwei und auch nicht vier Wochen später.
»He, du Schussel, wo bleiben meine Schuhe?«, schrieb ich ihr schließlich. Statt einer Antwort teilte mir der Verlagsserver mit, dass ihre E-Mail-Adresse unbekannt sei.

Am nächsten Tag ging ich hin. An der Rezeption saß niemand, nur das Faxgerät summte. Ich öffnete die Tür zu Katas Büro. Die kleine Petra saß hinter dem Schreibtisch, der einmal Katas Schreibtisch gewesen war. Er war ganz aus Glas, der einzige in der ganzen Redaktion, der aus Glas war. Kata hatte ihn damals von Susanne übernommen. Als die kleine Petra mich sah, sagte sie: »Hallo, du bist's«, und strich mit ihren Fingernägeln zweimal über die blank polierte Platte.
»Sie ist weg«, sagte die kleine Petra und verzog das Gesicht.
»Was hat sie denn diesmal geklaut«, fragte ich, »den CD-Player?«
»Nein«, sagte die kleine Petra und wischte an ihrem Auge herum. »Sie hat zwei Exklusivstories an eine andere Redaktion verkauft.«
Dann fing sie richtig an zu weinen und ich konnte sie nicht trösten, weil sie mir irgendwie auf die Nerven ging.
»Sie war so ein netter Mensch«, sagte die kleine Petra. »Ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll. Ich habe doch vor kurzem erst die Kultur über­nommen.«
Sie schnäuzte sich. Dann stand sie auf und holte ein großes Buch aus dem Regal.
»Schau, was sie mir geschenkt hat, einen Tag, bevor sie abgehauen ist.«
Ich sagte nichts.
»Das war bestimmt schweineteuer«, schniefte sie.

Kurz vor Weihnachten sah ich Kata in der Talkshow eines französischen Senders; es ging um die olympischen Winter­spiele. Ich entdeckte sie eines Nach­mittags, als ich durch die Kanäle zappte. Sie hatte die Haare kurz geschnit­ten und hell­blond gefärbt. Ich ver­stand nicht, was sie sagte, denn mein Franzö­sisch war nicht be­son­ders. Während sie sprach, fuch­telte sie mit einem silbernen Stift durch die Luft. Im Publikum saß ein Typ, der aussah wie der Mann aus dem Superm­arkt. Sein Auge war nicht mehr ge­schwol­len, dafür war ein Arm banda­giert. Mein Blick fiel auf Katas rote Stiefel, die bis über die Knie gingen. Wenn sie ein Bein über das andere schlug, konnte man die Sohlen sehen; auf ihnen waren große grüne Blumen abge­bildet, so groß und grün, als gäbe es nichts auf der Welt, was sie zum Welken bringen würde.

Ulrike Anna Bleier 2012/2014   

 

 
Ulrike Anna Bleier
Prosa