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Ulrike Anna Bleier
Hinein führt nicht hinaus

Den Strauß Blumen bekommen wir nachträglich in die Hand gedrückt. Wir drei, die wie auf der Ersatzbank auf unseren Einsatz warten. Der nicht kommt. Denn die Preise sind vergeben, und wir sind leer ausgegangen. Wenn die Blumen das einzige sind, was man bekommt, schaut man sich diese Blumen noch einmal genauer an. Bei meinem Strauß hat ein grüner Draht die strahlend­gelbe Sonnen­blumen­blüte durch­bohrt. Bei den anderen beiden auch. Wir überlegen, ob die Blumen­sträuße der Gewinner sich in einem ähn­lich des­paraten Zustand befinden. Aber das können wir sie jetzt unmöglich fragen, denn sie sind umringt. Von Kameras, Mikro­phonen, dem Moderator, der den ersten Preis schmatzend auf die Wange küsst, von Lite­ratur­agen­ten, Verlegern, Lektoren, Fans, die ein Auto­gramm wollen, Lesern, die eine Frage haben, Journalisten, die ein Inter­view wollen. Es ist hier, wie überall auf der Welt: Da, wo alle sind, da wollen auch alle hin. Da wo keiner ist, will keiner hin. Noch nicht einmal wir selbst. Außer wir drei wären eine Süd­see­insel. Aber wird sind keine Südseeinsel.

Schon beim Vorlesen habe ich geahnt, dass es nichts werden wird. Einer der Juroren seufzt schon, als ich erst auf Seite drei bin. Während ich auf Seite vier umblättere, habe ich schon keine Lust mehr weiter zu lesen. Wie soll man etwas sagen, wenn keiner etwas damit anfangen kann? Ein komisches Gefühl. Ich erwäge, mitten im Satz aufhören und ebenfalls tief zu seufzen, ohne Botschaft, einfach um meinem komischen Gefühl nach­zugeben. Es ist, als ob der Text in dem Moment vor meinen Augen verschwände, in dem ich ihn lese. Wenn ich jetzt aufhöre, kann ich vielleicht noch drei Seiten retten. Aber ich weiß nicht, wie aufhören geht.

Das Ende der Veranstaltung kommt auf mich zu, wie ein 32 Tonnen schwerer Last­wagen, dem man nicht mehr ausweichen kann. Als Namen genannt werden, wird mein Name nicht genannt. Als Beifall geklatscht wird, wird mir nicht ap­plau­diert. Weil ich nicht gewonnen habe, habe ich verloren. „Herzlichen Glück­wunsch“, sagt der Mode­rator zu uns auf der Ersatz­bank. Er übergibt uns die Blumen. Er schüttelt uns die Hand und sieht dabei traurig aus, fast noch trauriger, als wir alle drei zusammen.

Sofort denke ich, dass ich jetzt ganz viel mitnehmen muss aus diesem Verlust. Aber ich weiß nicht, was ich aus so einem Verlust mitnehmen soll. Warum soll man aus Verlusten immer etwas mit­nehmen, ich will nichts mitnehmen. Ich hätte lieber gewonnen und ganz einfach das mit­genom­men: den Sieg. Anderer­seits: Schei­tern ist ja auch schon wieder was. Nicht jeder kann es. Es gibt ein paar großer Scheiterer und Versager vor dem Schrift­steller-Herrn. Richard Yates hat bei­spiels­weise darüber geschrie­ben: über die Kunst des Schei­terns. In Sätzen wie dass es nur lang­sam voran­ging, ver­größer­te das Versprechen seiner schließ­lichen Groß­artig­keit spricht bereits euphe­mistisch alle Vergeblichkeit des Tuns. Auch Ingeborg Bachmann hat's getan, Raymond Carver, Thomas Bernhard, Irmgard Keun, Judith Herrmann, gibt es über­haupt Schrift­stel­ler, die nicht vom Schei­tern schreiben? Ohne Scheitern kein Schreiben, würde ich gerne denken, aber das ist mir jetzt auch zu blöd. Man kann ja darüber schreiben, aber muss man dafür wirklich auch im richtigen Leben scheitern? Kann man nicht einen Preis gewinnen mit einem Text über das Scheitern, wie es eine der Preis­träge­rinnen getan hat, deren Wangen noch feucht sind von des Moderators Kuss?

„Ich bedauere mich ja nicht“, denke ich am nächsten Morgen, der sich seit dem letzten Abend hinzieht, nur kurz und schmerzlos von Schlaf und Traum unter­brochen. Mein Körper fühlt sich an, wie nach einer schweren Sauferei, die ich mir jedoch gespart habe. „Noch nicht einmal die Größe hast du, deine Niederlage im Alkohol zu ertränken“, denke ich bitter, aber ohne Selbstmitleid, wie ich im Laufe der nächsten Tage mir gegenüber immer wieder betonen werde. Aber bitte, woher soll man denn wissen, wie sehr man von so etwas verletzt wird? Hätte ich es wissen müssen und hätte ich mich schützen müssen?

Aber dann müsste ich mich ja vor dem Schreiben überhaupt schützen, denn natürlich hätte ich es wissen müssen. Und ich habe es ja auch gewusst und ich habe auch gewusst, dass ich dann eben über das Schei­tern schreiben werde, dass ich mich mit dem Schreiben über das Schei­tern über das Scheitern hinweg trösten werde; und natür­lich habe ich auch gewusst, dass es nicht funktio­nie­ren wird, weil schreiben mich noch nie getrös­tet hat über was auch immer hinweg. Schreiben ist ja die Folge davon, dass es keinen Trost vom Nicht­ver­standen­werden gibt, wie sollte dann also das Schrei­ben ein Trost sein? Es ist nämlich das Schreiben selbst, dass einen immer weiter hinein in das Ver­standen­werden­wollen und das Nicht­ver­standen­werden hinein­führt, und schließ­lich in das Noch­mehr­verstande­nwerden­wollen und Noch­weniger­ver­standen­werden: Auf Biegen und Brechen ist es das Schreiben, das in die Ver­geb­lich­keits­spirale hinein­führt. „Man kommt nicht schrei­bend aus etwas heraus, in das man sich schrei­bend hinein­manö­vriert hat“, denke ich und stehe endlich auf, weil es nur bis halb elf Frühstück gibt und es schon halb zehn ist.

Das Viersternezimmer des Hotels erscheint mir jetzt wie ein einziger Hohn, denn das Bett und das Bad sind Siegerbett und Siegerbad, in einer bil­ligen Absteige würde ich mich vermut­lich besser fühlen; ich denke an den An­sichten haben­den Clown von Heinrich Böll, auch das noch. Wird jetzt alles, was ich künftig schreiben werde, billig sein, denke ich unter der Dusche, weil es unter dem Eindruck von Du bist keinen Preis wert steht? Muss ich aufhören, an solchen Veran­stal­tungen teil­zu­nehmen, wenn ich keine Antworten auf diese Preis­fragen ertrage? Muss ich aufhören, überhaupt gelesen werden zu wollen? Nein, bitte, ich werde mir jetzt ganz bestimmt nicht die Frage stellen, für wen schreibst du – was ist das über­haupt für eine Präposition an dieser Stelle?

Ich schmiere mir das Zeug aus dem Dispenser in die Haare und denke, ich schreibe mich doch nicht in etwas hinein mit der Begründung, ich wolle nur das Beste für den Leser. Ich will ganz und gar nicht das Beste für den Leser. Wenn überhaupt, will ich das Beste für mich, was geht mich der Leser an? So gesehen hätte die Jury mich gar nicht zu lesen brauchen. Die Leser, das sind immer die anderen. Doch wenn das im Umkehr­schluss bedeutet, dass ich dann besser gar nichts geschrie­ben hätte, dann ernenne ich die beste Tugend des Schrift­stel­lers zu der, nicht nur seine Figuren selbst zu erfinden, sondern auch die Leser gleich mit dazu.

Über die er dann mit schöner Regelmäßig­keit die Kontrolle verliert. Das ist so was von banal, aber leider wahr, dass wer schreibt, die Kon­trolle verliert, dass er am Schluss scheitert, und das in vollen Bewusstsein.
„Meinen eigenen kleinen Bedarf schreibe ich mir selbst,“ sagte Tucholsky, während ich mir das Shampoo aus den Haaren spüle. Das hört sich zwar lustig an, ist aber ebenfalls wahr. Es ist uns ja noch nie ein Geheimnis gewesen, dass wir schreiben, weil wir lesen, weil wir das Buch ver­suchen zu schreiben, das wir endlich lesen wollen, und wer könnte das am besten als wir selbst, denken wir, zu Unrecht natürlich, denn am Ende sind wir doch immer wieder enttäuscht vom Ergebnis. Wir selbst dürfen natürlich ent­täuscht sein, nicht aber die Leser, mit denen wir uns solange vergnügen wollen, bis wir das Buch endlich geschrie­ben haben, das auch uns, die wir unser eigener Leser sind, zufrie­den stellt. Und bis wir mit uns selbst endlich eins geworden sind, wollen wir Preise gewin­nen, wollen wir gefei­erte Autoren werden – und vergessen, dass das auch nur ein Kurz­urlaub ist: der Kurz­urlaub vom täg­lichen Scheitern. Der Ausflug in die Illu­sion, dass es uns gelingen könnte, die Kontrolle zu behalten – indem wir mit dem Leser symbiotisch werden. „Helfen Sie mit, die Umwelt zu schonen“, lese ich neben dem Bade­zimmer­spiegel, „und verwenden Sie Ihr Handtuch mehr als einmal.“ Ich aber werfe nun das Handtuch auf den Boden, jedoch nicht aus Trotz, sondern weil der Kurzurlaub vorbei ist, noch bevor er ange­fangen hat.

Wer nicht mitfahren darf in den schönen Kurzurlaub, dem bleiben wenigstens die Blumen. Falsch: Selbst die habe ich nicht mehr. Ich habe sie noch in der Nacht den Punkern geschenkt, die mich am Bahnhof um ein paar Euro ange#-schnorrt haben, sie nennen sogar einen Grund, wofür sie die Euro brauchen, aber ich ver­stehe den Grund nicht, weil ich ihres Dia­lektes nicht mäch­tig bin. Je weniger ich verstehe, desto heftiger reden die Punks auf mich ein. Sie möchten Geld, ich drücke einem von ihnen die Blumen in die Hand, er ver­steht nicht, was er mit den Blumen soll, ich sage, „Sei gut zu ihnen,“ er sagt, na gut, aber ob ich nicht ein paar Euro hätte. Ich habe keine paar Euro, ich habe gerade sehr viel Geld nicht gewonnen. Synonym von nicht gewonnen: verloren. Ich werde mir eine Gitarre kaufen und mich vor den Haupt­bahnhof setzen. Im Gegen­satz zu Hans Schnier werde ich nicht auf meine Ex-Verlobte warten. Auf einer Gitarre klimpern und auf eine Ex-Ver­lobte warten, kann jeder, denke ich. Ich werde auf mich selbst warten, aber ich werde nie ankommen, denke ich. Dann bin ich aber doch nicht pleite genug, um zu dieser letzten, exis­tentia­lis­ti­schen Maß­nahme zu greifen. Außer­dem regnet es mittler­weile in Strömen. Wozu hat man uns in einem Viersterne-Hotel einquartiert? Zwei Taxi­fahrer blenden auf, als ich auf den Taxi­stand zugehe. Ich ent­scheide mich für den, der ent­schlos­sener aussieht. „Die Stadt stirbt“, sagt er, „die Menschen wenden sich ab, was ist das für ein Wirt­schafts­system, wo die Menschen sich abwenden, von denen, die keinen Erfolg haben. Schau'n Sie sich das an“, sagt er, „keiner auf der Straße, die ganze Stadt ist men­schen­leer.“ Ich sage, dass die Menschen an einem Montag um zwei Uhr morgens wahr­schein­lich schlafen, doch der Taxifahrer lässt das nicht gelten, er sagt, früher habe er mehr ver­dient, das Leben wird teurer, die Arbeit wird beschis­sener, der Lohn wird niedriger. Er hätte es nie von sich gedacht, aber nun sei er so weit: In zwei Jahren kann der Taxi­fahrer in Rente gehen – und was wird er tun? Er wird in Rente gehen.

Es kostet insgesamt 19 Euro, bis der Taxifahrer seine Wut losge­worden ist und ich endlich sage, bitte halten Sie da vorne. „Aber wir sind noch gar nicht da“, sagt der Taxi­fahrer. „Es ist so eine schöne Nacht“, sage ich, „und außerdem sind eh zu wenig Menschen auf der Straße unterwegs.“ Ich denke wieder, hätte ich den Preis gewonnen, würde ich ihm drei Euro Trinkgeld geben. Aber so. So steige ich aus und laufe durch den Regen. Ich begegne niemandem. Nur einmal spiegele ich mich kurz in der Glas­fassade des Hotels, bevor ich die Dreh­türe betrete. Der Regen hämmert auf das Dach, als ich mit dem Aufzug in den siebten Stock fahre.

Fahrstuhl zum Schafott, heißt ein Film, ich weiß nicht mehr, wovon der Film handelt, oder besser gesagt; ich weiß gar nicht, ob ich jemals wusste, wovon der Film handelt. Ich denke nur, dass ich weiß, wovon der Film handelt, weil ich jedes Mal, wenn ich Aufzug fahre, an den Filmtitel denke und wann immer ich an den Film­titel denke, denke ich, ich dächte an den Film selbst. Es ist übrigens egal, ob ich mit dem Aufzug nach oben oder mit dem Aufzug nach unten fahre, Fahrstuhl zum Schafott fällt mir ein, sobald sich die Türen schließen. Nun ist es nicht so, dass ich etwa in Panik gerate bei der Assoziation oder sich ein sonstwie mulmiges Gefühl einstellt. Ich gerate eigentlich in gar nichts. Ich stehe im Aufzug und denke
„Fahrstuhl zum Schafott“, mehr nicht. Ich beuge mich nach vorne und wringe mir Regenwasser aus dem Haar, es tropft auf den schicken Aufzug­boden. Im Aufzug ist mir weder warm noch kalt, das heißt, ich kann mich nicht mehr erinnern. Lediglich an die Pfütze aus dem Regen­wasser meiner Haare erinnere ich mich. Und an einen Gedanken, den ich hatte, als sich die Türen geschmeidig schlossen und der Lift sich mit einem diskreten Rauschen in Bewegung setzte: Dass das Lesen meines eigenen Textes wie der neutrale Gedanke an den Titel Fahrstuhl ins Schafott sei, ohne dass ich mich an den Film selbst erinnern könnte.

Wir lesen etwas, das wir selbst geschrieben haben, doch bleibt es bei der bloßen Wieder#-gabe dessen, was wir geschrie­ben haben, die Worte lösen nichts aus in uns. Wir denken die Worte, die wir lesen, doch wir verbinden uns nicht mit unserem Text, wie wir uns mit fremden Texten ver­binden. Fremde Texte rühren oder ärgern uns, sie setzen Gefühle und Gedanken in uns frei, unsere eigenen Texte setzen nichts frei. Manch­mal, wenn wir unse­re eigenen Texte lesen, spüren wir, da stimmt etwas nicht. „Da war ein komi­sches Echo im Raum“, sagen wir. Oder das Mikro war nicht richtig ein­gestellt. „Die Leute waren des­interes­siert“, denken wir oder: „Die Jury hat vorher schon alles klar gemacht.“ In Wahrheit aber haben wir selbst schon alles klar gemacht. Wir sind mit unserem eigenen Text so eng ver­bunden, dass wir uns ihm nicht mehr nähern können. Wir sind ihm schon nahe. Es ist, als seien wir mit dem Text ver­heiratet und wünsch­ten uns, mit ihm eine Affäre beginnen zu können. In einem anderen Film habe ich einmal gehört, wie ein Mann über seine Freundin sagte: „Sie ist perfekt für mich. Sie stillt meinen Hunger und sie weckt zugleich meine Sehnsucht.“ Die Frau hatte nämlich einen Liebhaber, über den dieser Freund im Bilde war. Er litt an dieser Tatsache schmerz­liche Qualen, doch gleich­zeitig bewahrte sie ihn davor, seiner Freundin so nahe zu sein, dass er sie nicht mehr neu ent­decken konnte.
„Wie soll ich nur meinen Text dazu bringen, mit anderen zu schlafen?“, denke ich, während ich auf die Licht­leiste starre, die mir anzeigt, in welchem Stockwerk ich mich befinde.

In den Fahrstuhl zum Schaffott steigt nun Pierre Bayard ein, ein Literatur­pro­fessor aus Paris. Er grüßt freundlich, als sei es ein ganz normaler Nachmittag, an dem die Sonne scheint, und keine düstere Montag­nacht. „Ein hübscher Mann,“ denke ich, „und so klug dazu.“ In seinem Essay über Bücher, die wir nie gelesen haben hat er nach­gewie­sen, dass das Lesen ein schöpferischer Akt ist, bei dem der Text selbst gar keine große Rolle spielt. „Der Text dient dem Leser nur als Anlass, sich seiner eigenen Gedanken bewusst zu werden“, sagt er plötz­lich zu mir. Er muss meinen Blick als einen fra­genden inter­pretiert haben. „Je besser man einen Text kennt, desto weniger Zugang hat man zu ihm. Wissen Sie“, er blickt mir kühn in die Augen, „eigentlich stört der Text beim Lesen nur.“ Ich hole tief Luft, will etwas erwidern, aber da steigt er schon aus und entfernt sich mit schwingender Hüfte.

Siebter Stock, ich bin da. Die Hotellobby menschen­leer, die Flure menschen­leer, die Straße, da unten: menschenleer. „Es ist schön, an so einem geräumigen Ort zu sein“, denke ich. Gegen Morgen habe ich einen Traum. Nein, dieser Text endet nicht auf einer Südsee­insel. Sondern damit, dass Helmut Schmidt und Helmut Kohl gleich­zeitig sterben, beide noch in dieser Nacht. Ich habe keine Ahnung, was dieser Traum bedeu­tet, bin aber irgend­wie froh, dass ich ihn geträumt habe. Ich schaffe es noch recht­zeitig zum Früh­stück, bevor das Buffet schließt. Ich schaue auf die ster­bende Stadt, es regnet noch immer, es wird so bald auch nicht mehr aufhören. „Das Präsens wird überschätzt“, denke ich. Der nächste Text, den ich lese, soll ein unbe­schrie­benes Blatt sein.

Ulrike Anna Bleier 2014   

 

 
Ulrike Anna Bleier
Prosa