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Peter Kurzeck

Gespräch mit Walter Fabian Schmid für den poetenladen
»Die meiste Zeit lebe ich in der Vorstellung«
  Gespräch



Peter Kurzeck, geboren 1942 in Tachau (Böhmen), wird auch Chronist von Ober­hessen genannt. Er schreibt auto­bio­grafisch geprägte Ro­mane und fand großen Beifall in der Rolle des freien Erzäh­lers (Hörbuch).


Walter Fabian Schmid: Lieber Peter Kurzeck, wie wichtig ist Ihnen der Ort, an dem Sie leben?

Peter Kurzeck: Die Orte beeinflussen mich sehr, sie sind mir auch sehr wichtig. Ich habe vor allem den Zwang, zu diesen Orten immer wieder zurückzukommen. Ich fahre auch jetzt noch oft nach Staufenberg, dem Ort meiner Kindheit, obwohl der Ort nicht mehr der gleiche ist. Als wir damals weggingen, meine Freundin und ich, dachten wir, wir gehen nur für ein paar Wochen oder höchstens einige Monate nach Frankfurt. Wir sagten uns, wir gehen nur solange nach Frankfurt, bis ich die Rein­schrift meines ersten Buches beendet habe, und bis wir wissen, in welchem Verlag es erscheint. Dann sind wir hier her, haben erst einmal in Wohn­gemein­schaften gelebt, und mussten in den ersten sechs Monaten zwölf Mal umziehen. Für mich ist ein Umzug etwas, das eigent­lich im Kopf stattfindet, und bis in die Träume hinein wirkt. Wir mussten dann die Erfahrung machen, dass man nicht so ohne weiteres zurückgehen kann, auch wenn man will, weil der Ort nicht der gleiche bleibt. Wer da jetzt geht, der weiß nicht mehr, dass es vorher anders war. Die Orte verändern sich, und man bleibt auch nicht derselbe Mensch.

W.F. Schmid: Gibt es für Sie so etwas wie Heimat?

P. Kurzeck: Die muss man sich natürlich immer wieder neu machen. Auch wenn ich momentan nicht an den Orten bin, an denen ich bisher gelebt habe, so leben sie ständig in meinem Gedächtnis.

W.F. Schmid: Also ist die Erinnerungsarbeit auch eine Ortssuche …

P. Kurzeck: Ja, natürlich. Das Gedächtnis funktioniert ja nicht, wie bei einem Eidetiker, sondern das Gedächtnis ist etwas, an dem man ständig herumarbeitet; nicht mal vorsätzlich, sondern weil man gar nicht anders kann. Und in dieser Form eignet es sich auch am besten für das Schreiben.

W.F. Schmid: Geschieht Ihr Schreibantrieb eher aus Angst des Verlusts einer Erinnerung oder aus Erinnerungszwang?

Peter Kurzeck: Das ist fast das gleiche. Ich hatte zuerst den Erinnerungszwang; ich hatte wirklich als Fünfjähriger den Zwang, dass ich dachte, ich darf nichts vergessen. Ich dachte, ich muss mir jeden Abend merken, jeden Sonnenuntergang. Wenn man als Kind so denkt, dann kommt man irgendwann darauf: Entweder muss man mit dem, was man sich zwanghaft merkt, etwas anfangen, oder man wird verrückt. Wenn Sie sich immer alles merken, und es überhaupt keine Bedeutung für Sie gewinnt, außer dass man weiß, so war es, dann hält man das nicht aus. Dann wird man zum Lagerverwalter, den irgendwann die Arbeit überfordert, weil er alles einräumt, aber zeitgleich schon wieder Platz schaffen muss für das Nächste, was kommt. Irgendwann würde man das nicht mehr aushalten. Aber man will ja nicht verrückt werden. Und als Kind schon gar nicht. Der Ausweg, auf den man dann kommt, ist in meinem Fall das Schreiben.

W.F. Schmid: Warum haben Sie diesen Erinnerungszwang?

P. Kurzeck: Erst einmal nimmt man es als normal hin. Dann merkt man, andere haben es nicht. Im Gegenteil, die schlafen viel besser als ich, obwohl sie sich überhaupt nicht planmäßig an etwas erinnern. Dann fragt man sich: Wie kommt es dazu, dass du diesen Erinnerungszwang hast? Eine meiner möglichen Erklärungen war dann, dass man mit drei Jahren die Erfahrung gemacht hat, von einem Ort weg zu müssen, der einem als sehr geschlossene Welt vorkommt. Wenn man mit drei diese Welt verliert, und sie nicht wie bei einem Umzug eintauschen kann in eine andere runde Welt, sondern gegen eine jahrelange Unbehaustheit, gegen Flüchtlingslager und Viehwaggons, dann kann einen das schon dazu bringen, dass man denkt: Alles, was du dir nicht merkst, kann jederzeit für immer verloren sein. Wenn ich mich an gestern nicht erinnere, dann ist das so, dass der gestrige Tag eigentlich nicht gewesen ist.

W.F. Schmid: Ausgehend von Ihrem biographischen Schreiben: Wie viel ist eigentlich noch fiktiv?

P. Kurzeck: Bei meinen letzten Büchern gar nichts. Seit Übers Eis sind meine Bücher ganz wörtlich autobiographisch. Auch die Orte, Namen und Hausnummern stimmen alle.

W.F. Schmid: Sie gehen also von biographischen Erlebnispartikeln aus, die im Schreiben zur Autofiktion werden. Wirkt das auch zurück, insofern dass das Schreiben das Leben erschreibt, und dass einem das wirklich Erlebte wie aus einem Roman vorkommt?

P. Kurzeck: Ja, natürlich. Ich habe ohnehin immer den Eindruck, dass ich mir mein Leben selbst ausdenke. Zwischendurch denkt man dann, das hätte dir nicht passieren dürfen. Zum Beispiel als ich sehr krank war, dachte ich, das kann nur eine Verwechslung sein, im Grunde müsste man das umschreiben, so dass nicht ich der bin, der in die Klinik muss. Insofern ist man dann doch irgendwelchen Fakten unterworfen. Aber die meiste Zeit lebe ich in der Vorstellung.

W.F. Schmid: Sie sind selbst jemand, der stets auf neue Entdeckungen in einer Stadt aus ist und gerne Streifzüge durch die Stadt unternimmt, so wie das auch in Ihren Romanen verarbeitet ist. Ist es so, dass sich die Bücher auch etwas beiläufig schreiben?

P. Kurzeck: Sie schreiben sich zwar durch meine Erlebnisse und ihre Erinnerungen fast von selbst, aber sie sind auch eine sehr schwere Arbeit. Ich schreibe schon viel unterwegs auf kleine Zettelchen, Bierdeckel oder sehr gerne auch auf die Papierverpackungen von Teebeutel. Den Schluss von Vorabend schreibe ich jetzt zum Beispiel fast ausschließlich unterm Gehen. Ich schreibe die Sätze unterwegs auf und übertrage sie dann abends. Mir reichen manchmal zwei Wörter, um einen ganzen Absatz zu rekonstruieren.

W.F. Schmid: Würden Sie – vor allem in Hinsicht auf ihre Verarbeitung von Staufenberg in Ein Sommer, der bleibt – sagen, dass Sie ein Heimatschriftsteller sind?

P. Kurzeck: Das kann man nicht genau sagen. Dann müssten Sie Joyce beispielsweise auch als Heimat­schrift­steller bezeichnen. Er hat ja nie über irgendetwas anderes als über ein altes, kleines Dublin geschrieben. Ich würde sagen, dass mir Ort und Zeit beim Schreiben sehr wichtig sind. Wenn ich Bücher lese, bei denen man nicht darauf kommt, in welcher Zeit sie spielen, oder wo sie spielen, dann will ich die eigentlich nicht lesen. Ebenso Bücher, in denen das Wetter nicht vorkommt; die interessieren mich eigentlich nicht. Wetter und Ort und Zeit gehören sichtlich für den Leser in Bücher rein.

W.F. Schmid: In Ein Kirschkern im März schreiben Sie: „Auf jedem Weg mir mein Leben erklären.“ Identität ist also ein Flanieren, ein langer Spaziergang. Wenn man sich das Leben ergehen muss, gibt es deswegen – weil Identität nichts Stringentes ist – bei Ihnen auch so viele Umwege, Abkürzungen und Irrwege im Werk?

P. Kurzeck: Ja, weil es ein Irrtum wäre, zu denken, dass die Identität von vornherein feststeht. Wahrscheinlich kann kein menschliches Leben, und schon gleich gar keins, das so anfängt wie meins, als geschlossener Lebenslauf erzählt werden. Beispiels­weise stehe ich auch viel früher auf als notwendig, unter anderem, um Umwege zu gehen und zu trödeln, weil ich für mich die Erfahrung gemacht habe, dass ich an allem keine Lust mehr habe, wenn man mich am Trödeln hindert. Und wenn man als Schriftsteller nicht trödeln kann, dann hört man irgendwann auf, ein Schriftsteller zu sein.

W.F. Schmid: Was ist für Sie der Unterschied zwischen einer mündlichen Erzählung, so wie Sie diese frei und ohne jegliches Manuskript aufnehmen, und einem Buch, das Sie schreiben?

P. Kurzeck: Das ist ein bisschen wie Aquarell- und Ölmalerei. Die mündliche Erzählung kann man eben nicht korrigieren. Man kann nicht Sachen hinzufügen, man kann sie nur wegnehmen. Die schrift­liche Erzählung korrigiert man natürlich, man überschreibt den alten Text. Das Schreiben dauert auch viel länger. Wenn ich Da fährt mein Zug aufgeschrieben hätte, das wäre vielleicht ein Text von 140 Seiten geworden, aber ich hätte ein paar Jahre daran gearbeitet. Erzählt habe ich es in fünf Stunden. Nur kann man dann eben nichts korrigieren.

W.F. Schmid: Ist es ihr Ziel, sich selbst einmal das gesamte eigene Leben erzählt zu haben?

P. Kurzeck: An sich schon, aber da müsste man noch ein paar Jahre länger leben. Das Ziel ist nicht unbedingt, sich das eigene Leben von vorne bis hinten zu erzählen, sondern was eigent­lich mein Vorsatz war, und das habe ich spätestens Mitte 20 formuliert, das war, dass ich mein Zeitalter aufschreibe. Sich das eigene Leben zu erzählen, nimmt man nur zum Anlass dafür. Ich glaube, dass man sich als Schriftsteller nicht aussucht, was man schreibt, sondern dass der Stoff auf einen wartet. Ich würde ja überhaupt nichts schreiben, wenn ich nicht müsste. Aber mich drängen auch Sachen zu schreiben, die ich so nie schreiben werde, außer in meinem Kopf. Ich schaffe das gar nicht, alles zu schreiben. Das erzähle ich mir dann unterwegs.

W.F. Schmid: Danke für das Gespräch.

Walter Fabian Schmid    27.10.2010   

 

 
Peter Kurzeck
Prosa