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Peter Kurzeck
Ein Kirschkern im März
Roman
Von weither und fremd, überall fremd.
Aus Böhmen und ohne Haus.
1. Kapitel
© Stroemfeld Verlag 2004
Als Gast. Alle Abende mit meinem Leben unter dem Oberlichtfenster oder im leeren schweigenden Nebenzimmer. Am Anfang des Abends. Immer der gleiche Moment. Noch eben hell. März, eine Amsel singt. Du bist müde und spürst, wie die Zeit an dir zieht. Wer bin ich? Und warum hier? Bevor du dich jedesmal wieder auf den Weg machst, deinem Kind gute Nacht sagen. Carina ist viereinhalb. Ende November die Trennung. Vorher fristgerecht meine Arbeit verloren, eine unersetzliche Halbtagsstelle in einem Antiquariat. Kein Geld, keine Wohnung, kein Einkommen. Schriftsteller. Letzten Sommer mit meinem dritten Buch angefangen. Ende November die Trennung und von da an dann ganz zuletzt jede Nacht aus den überzähligen Matratzen ein Bett, ein Ersatzbett mir in unserem großen Zimmer. Mit Selbstgesprächen. Und immer noch fassungslos. In der Stille nach Mitternacht. Die Zeit, die mir bleibt. Dann spät im Januar für sechs Wochen in eine Abstellkammer in einer fremden Wohnung zwei Straßen weiter und als Spuk, als Gespenst, als Schatten vorerst in dieser Abstellkammer. Eine Trennung und noch keine Wörter dafür. Und hätte nicht gedacht, daß das zu mir und zu meinem Leben gehört. Das Jahr 1984. Frankfurt am Main. Und als mir auch in der Abstellkammer nur noch drei letzte Tage blieben, sagte im Kinderladen ein anderer Vater zu mir: Du kannst bei uns wohnen. Auch länger. In der Eppsteiner Straße. Du warst ja schon bei uns. Aber haben im gleichen Haus unterm Dach noch zwei Zimmer als Arbeitszimmer, sagt er, für Birgit und mich. Heizung. Bad dabei. Alles was du brauchst, sagt er. Platz genug. Er heißt Peter wie ich. Ende Februar. Ein heller Morgen. Wir stehen vor dem Kinderladen am Tor. Das besetzte Haus in der Siesmayerstraße. Dann am ersten März bei ihnen eingezogen. Und seither als Gast.
Im Westend ein vornehmes Mietshaus. Die Wohnung im zweiten Stock und im Dachgeschoß nochmal zwei Zimmer. Birgit und Peter heißen meine Gastgeber. Und Domi ihr Sohn. Mit Carina im Kinderladen. Birgit ist Lehrerin. Sie will malen. Als Lehrerin eine halbe Stelle. Schon ihr Leben lang will sie malen. Und Peter (der andere Peter, sagen Domi und Carina, mein Peter und dein Peter) am Institut für Friedens- und Konfliktforschung. Bart und Doktortitel. Ein freundliches Gesicht. Birgits Arbeitszimmer mit hellen Möbeln, die nach Bienenwachs riechen. Ihr Schreibtisch schon für mich leergeräumt. Über dem Schreibtisch ein Oberlichtfenster. Viel Himmel und den ganzen Tag hell das Licht auf den Schreibtisch. Ein großer Strauß frische Tulpen und ein voller Obstkorb für mich. Wie für ein Bild der Obstkorb und Kunstbücher in den Regalen. Teppich und Holzfußboden. Und ein Sofa, aus dem man mit drei Handgriffen ein Bett machen kann. Hier also. Und daneben das zweite, sein Arbeitszimmer. Groß. In der Mitte ein Schreibtisch und noch zwei Tische daneben. Überall Papier, Akten, Mappen und Ordner. Regale, ein Schrank. Auf dem Fußboden Domis Spielzeug. Playmobil. Eine Ritterburg, Elefanten, Bauernhoftiere, ein Indianerlager und Schiffe. Ein Meer von Schiffen. Drei Fenster nach Westen und unter den Fenstern eine stille Nachmittagsseitenstraße. Du kannst mein Arbeitszimmer auch mitbenutzen, sagt er zu mir. Tagsüber sowieso, tagsüber ist er in seinem Büro. Mitbenutzen nicht, sagte ich mir, aber manchmal zur Tür herein und durch das Licht und die Stille von Fenster zu Fenster. Hier also! Und dann noch das Bad. Ein kleines perfektes Bad. Für heißes Wasser ein Boiler mit bunten Lämpchen. Und im Vorraum zum Bad Waschmaschine, Kühlschrank und Kochplatte. Also gerettet? In Sicherheit? Vorerst gerettet, aber wie lang? Und zusammen mit Freunden noch ein Haus auf dem Land, sagen meine Gastgeber am ersten Tag mittags beim Essen zu mir. In der Schwalm. Klein und alt und für die Wochenenden beinah schon ein bißchen zu weit. Ein Fachwerkhaus mit spitzem Giebel und kleinen Fenstern. Und ein Gärtchen dabei und im Gärtchen die Jahreszeiten. Vielleicht bald einmal zusammen hinfahren, sagen sie. Mit den Kindern. Wenn es jetzt wärmer wird. Görzhain heißt das Dorf. In der Schwalm sind die Winter länger. Schön, daß Carina und Domi sich so gut verstehen. Als Gast, wie lang bleibt man als Gast? Mittag, der erste Tag. Mit meinen Gastgebern essen und nach dem Essen noch jeder einen Kaffee.
Mit vierzig. Im einundvierzigsten Lebensjahr. Als Gast, legal als Gast. Immer noch einen Tag. Schon der neunzehnte! Erst schon der neunzehnte, dann schon der zwanzigste! Die ganze Zeit März. Am ersten März eingezogen und jetzt auf einmal beeilt sich die Zeit, fängt zu rennen an. Und ich auch. Einen Regenschirm mit und schnell-schnell alle Tage! Nutzt auch nix - weg die Zeit und vergangen. Wie hat das geschehen können? Du hast sie aufgebraucht und das reut dich jetzt. Das hätte nicht sein müssen. Vergangen die Zeit. Und bleibt vergangen. Schnell mit dem Schirm, große Schritte. Früher nie einen Regenschirm mit und jetzt nie mehr ohne. Durch die Trennung ein anderer Mensch: ein Mensch mit Regenschirm, mit Bedenken und Vorbehalten (die in seinem Kopf nach Dringlichkeitsstufen sortiert sind). Wie ging das denn zu? Im November einmal ein Regenabend und zum Ersticken mein Leben. Gleich nach der Trennung. Die Wohnung wie unter der Erde. Und da hast du den alten Schirm, Karos, Streifen, Pünktchen, unregelmäßig verblichen ein Muster aus drei Sorten Grau, hast einen der beiden alten Regenschirme im Flur mitgenommen und schnell aus dem Haus. Und seither mit diesem Schirm durch die Welt. Der Stoff eingerissen. Die Speichen verbogen. Der Griff wackelt. Am meisten im Regen wackelt der Griff. Am Griff eine Schraube, die vorsteht. Nur schnell! Immer schneller! Im Geniesel, im Regen, besser noch schnell vor dem Regen her. Geduckt, ein Gespenst, ein eiliger Schatten. Und so durch den Spätherbst und Winter. Erst ein Regen- und dann ein Schneewinter. Mit Schirm. Ein Mensch, der sich selbst nicht mehr traut. Immer den Schirm mit und mich daran festhalten. Auf jedem Weg. Als könnte ich andernfalls nicht auf der Welt bleiben. Früher nie einen Schirm. Früher mit Zuversicht und verträumt, laß dir Zeit, und die Welt mir entgegen. Vielleicht noch aus Staufenberg, vielleicht sogar noch von meiner Mutter der Schirm. Vielleicht hat Sibylle ihn vor Jahren einmal gefunden. So ein Schirm, den jeder gern überall liegenläßt und vergißt. Nur du wirst ihn jetzt nicht mehr los. Oft auf dem Heimweg allein vor dem Schaufenster der Autorenbuchhandlung. Sie ist gleich im Nachbarhaus. Ein Laden mit Vorplatz. Meistens am Abend. Die Stille, Lampenlicht, Nachtbäume. Stehen und mich ausruhen. Gerade das letzte Stück Weg wird einem oft am schwersten.
Geniesel, Märzregen, Regentage. Und am Abend die Amsel. Alle Abende. Im Regen, in einer Pause des Regens. Alles tropft. Hat eben aufgehört und wird dann gleich weiterregnen. Grün die Dämmerung und die Amsel singt. Wie in meiner Kindheit. Wie in der Kaiserzeit bei uns in Franzensbad, sagt meine Mutter jeden Abend in meinem Gedächtnis. Und dabei ihr Blick aus unserem Staufenberger Flüchtlingsfamiliendachgeschoßnachkriegswohnküchenfenster, als ob sie in der Ferne Franzensbad sieht (sieht oder sucht?). Die Amsel singt. Vor ein paar Tagen noch war es um diese Zeit schon längst dunkel. Kugelschreiber, Notizzettel, Regenschirm, Zigaretten und wer ich selbst bin! Du suchst dir ein paar Wörter im Kopf zusammen, den Anfang von einem Satz, und machst dich auf den Weg. Aus dem Haus. Die Straße noch naß. Alles tropft. Aus dem Haus in den Abend hinein. Durchs Westend nach Bockenheim. Zu Carina. In der Küche, im Bad, im Schlafzimmer, sagt Sibylle am Abend zu mir. Unter jedem Fenster. Warum fragst du? Vom Hof her die Amsel. Immer im März. Sogar sie als Kind schon, sagt sie. Hier in Frankfurt. In Sachsenhausen in der Siemensstraße. Da war ich als Kind oft allein und vor dem Fenster der Henninger Turm mit seinen Lichtern wie ein freundlicher Riese, der mich beschützt. Vielleicht nicht beschützt, aber tröstet. Und sieht mir bei meinem Alleinsein zu. Wenn man allein ist und froh oder traurig, sagt sie, hört man die Amsel am besten. Abend. Die Wohnung. Sibylle dünn und blaß. Wir wollen gleich noch mehr Bücherkartons in den Keller tragen. Sie hat mit dem Umräumen angefangen und dann nicht mehr weitergemacht. Die Regale abgebaut. Leere Wände. Jürgen sucht dich, sagt sie. Er ruft jeden Tag dreimal an. Hast du nichts von Pascale gehört? Hast du schon gegessen? Sibylle hat ein neues Parfüm. Und wenn dann wieder Sommer ist, sagt Carina, dann rufen uns wieder die Tauben. Dann scheint jeden Tag schon die Sonne, obwohlst es dann noch in der Nacht ist, so früh. Und diesmal wolln mier uns aba merken, was die Tauben zu uns immer rufen! Müssen jetzt morgens und abends immer zusehen, Carina und ich, wie es schon jeden Tag länger hell. Siehst du es auch? Man sieht es am Himmel, man sieht es sogar auf der Uhr, sagte ich. Sechs Uhr abends, halb sieben. Wie gestern und vorgestern um diese Zeit müd an der Warte vorbei. Überall Autos. Viele Lichter im Abend. Straßenbahnen. Der Wind kommt daher. Die Straßen noch naß und trocknen in großen Flecken. Müssen oft stehenbleiben, Carina und ich. Auf jedem Weg. Für euch ist alles ein Spiel, sagt Sibylle, und von mir will sie sich dann nicht ins Bett bringen lassen. Erzähl, Peta! sagt Carina. Erzähl, wie du dir von den Häschen das schönste aussuchen durftest! Erzähl mir das Dorf, erzähl alle Tiere im Dorf! Wie ich ein Kind war, in Franzensbad im Frühling der Wald, sagt meine tote Mutter, Franzensbad steht ja mitten im Wald. Und dann im Mai, wenn der Kuckuck ruft, sagt sie und wird wieder durchsichtig. Will die Uhr lernen, sagt Carina. Und wie geht das mit dem Katzensprung? Daß jetzt von hier bis zum Frühling nur noch ein Katzensprung? Das hat meine Mutter, sagte ich, die du nicht gekannt hast, immer im März zu uns Kindern gesagt. Sag du es jetzt auch zu mir, sagt Carina. Lange stille Märzabenddämmerungen. Erst grau, dann grün, dann wie blaues Glas. Dämmerungen wie Kirchenfenster. Immer im März wird die Welt uns zurückgeschenkt. Und wir auch der Welt.
Einmal abends zu früh dran. Noch hell. In allen Vorgärten Vögel. Den ganzen Weg an meinen Freund Jürgen denken und vielleicht kommt er mir dann gleich entgegen oder sitzt schon im Cafe Bastos? Sitzt im Albatros, im Pub, im Tannenbaum oder im Pelikan? Sollst du jetzt von Tür zu Tür? Und dabei ein Fragezeichen vor dir hertragen? Ich hätte gern mit ihm ausgemacht, daß er wartet, bis ich Carina ins Bett gebracht habe, damit in der Jordanstraße der Aufbruch mir dann nicht so schwer. Bei ihm an der Haustür klingeln? In allen Kneipen ihn suchen? Jetzt hier im Bastos einen Espresso und warten, bis er von allein kommt? Hinten in der Ecke ein kleiner Tisch mit Zeitungen und Zeitschriften und um mich mit vielen Stimmen der Abend oder im Stehen gleich beim Eingang und selbst als Fremder im Spiegel? Oder nur nachsehen, ob er drin und wenn nicht, gleich die Kneipe samt Spiegel im Kopf mit, viele Stimmen im Kopf und weiter? Keinen Espresso! Schnell weiter, damit du nicht wieder tagelang rechnen und rechnen mußt, um die unvorhergesehene (nicht genehmigte) Sonderausgabe nachträglich außerplanmäßig einzusparen. Zwei Mark als Tagesetat, Zigaretten nicht gerechnet. In der Gräfstraße auf dem Gehsteig. Unter Bäumen, ein breiter Gehsteig. Wie Tau ein paar wenige einzelne Regentropfen und danach dann sind Straße und Gehsteig gesprenkelt. Eilig der Wind. Nimmt die Wolken mit. Vor dem Bastos eine hohe Vortreppe. Die Tür offen. Innen Licht. März, noch hell. Wie ein Bild das Cafe mit der offenen Tür und du stehst auf dem Gehsteig zu Füßen des Abends. Als hätten gerade eben alle Glocken geläutet, so ist die Dämmerung. Carina zwei Straßen weiter daheim in der Jordanstraße und weiß, daß du dann gleich kommst. Vorher hier den Gehsteig entlang. Und dann auf die eigene Haustür zu. Wie früher. Oft so gegangen. Langsam jetzt, laß dir Zeit. Als sei nichts geschehen, so gehst du jetzt hier!
In der Jordanstraße die Wohnung. Carina schläft. Müdigkeit. Aller Tage Abend. Sibylle mit Pferdeschwanz. Eine dunkelblaue Wollstrumpfhose und ein dicker bunter Pullover. Hat sich Arbeit mit heimgebracht, sitzt am Lichttisch mit einem Umbruch für den Verlag. Die Heizung summt. Zittert das Haus? Sinkt die Wohnung mit uns in die Erde hinein? Endlich gehen! Du willst schon längst gehen! Du hast schon um halb neun gehen wollen! Um halb neun, um neun, um halb zehn! Siehst dich im Lampenlicht sitzen, ganz undeutlich schon. Wie im Halbschlaf. Als ginge es noch einmal in den Winter zurück, als ob der Winter gerade erst anfängt. Und brauchst eine Ewigkeit, um deine Schuhe anzuziehen. Sie wollen nicht, beide. Sibylle wie eine Tänzerin zwischen Lichttisch und Stehlampe hin und her. Schmal. Lange Beine. Schreibt im Stehen etwas auf. Unterstreicht. Muß es mehrmal dick unterstreichen. Steht und nickt zu sich selbst und zu dem Zettel und zu dem Bild in ihrem Gedächtnis. Endlich gehen, sagte ich mir und den Schuhen (schon mein Leben lang starren die Uhren mich an!). Die Heizung summt und mein Herz zuckt, müdes Herz. Die alten Sessel aus grauem Samt und wir sitzen hier mit der Vergangenheit. Aus dem Nebenzimmer Carinas Atemzüge. Du spürst sie wie in dir drin. Nacht ums Haus. Einmal von der Straße herauf Stimmen. Leute aus den Kneipen heim. Aus dem Tannenbaum, aus dem Pub, aus dem Pelikan. Stimmen, eine Autotür, Nacht. Und du sitzt und wirst immer schwerer. Dabei doch schon extra die Wildlederjacke an und nicht mehr den Emigrantenmantel. Jeden Tag schon die Wildlederjacke, weil mir damit in der Jordanstraße am Abend der Aufbruch leichter. Mit der Jacke mehr Übung im Aufstehen und Weggehen. Überall. Du nimmst deine Jacke und gehst. Noch besser, du hast sie gleich anbehalten. Selbst leicht und die Jacke auch leicht. Und auch, damit endlich der Frühling bald kommt, jetzt nicht mehr den Mantel. Aber nicht dich erkälten! Nur nicht krankwerden! Noch fünf Minuten, sagst du dir alle fünf Minuten, noch eine Zigarette. Nochmal noch einmal Carina im Schlaf ansehen und dann unverzüglich! Umso schneller jetzt! Warum denn bleiben? Es tut bloß weh! Und in Staufenberg, sagt Sibylle (vielleicht jetzt schon der nächste, immer noch einer, immer wieder ein anderer Abend), in Staufenberg auch. Unter dem Küchenfenster die Amsel und in allen Gärten. Das mußt du doch wissen, daß ich das noch weiß! Denn ich hatte davon nichts sagen wollen, um sie nicht unzulässigerweise an gute Zeiten gemeinsamer Vergangenheit - eine Art Schriftsatz, ein juristischer Schriftsatz in meinem Kopf und schreibt sich von allein weiter. Und gleich steh ich wieder in Staufenberg als Kind im Hof bei den Gemeindeamtsfliederbäumen und Flüchtlingsholzschuppen. Ich bin sieben. Es wird wieder Mai sein. Wie das Holz riecht. Wird warm und fängt schon zu trocknen an und riecht immer stärker. Bienen summen. Hell die frischgeschlagenen Holzscheite in der Sonne. Jedes Ding fängt zu lächeln an. Überall Vögel. Ein Schmetterling, ein Kohlweißling. Erst einer, dann zwei, dann drei und dann immer noch einer, viele. Der ungardeutsche Schuldiener mit Weste und Hut. Vor der Gemeindeamtshaustür, als ob er gleich fotografiert werden soll. Und im Hof, am Zaun, beim Hoftor und auf der Kreuzung und die ganze Vorstadt hinauf bis zum Turm, im ganzen Dorf blühen schon die Kastanien. Weiße und rote Kastanien, die bis an den Himmel reichen. Bald das Holz kunstvoll aufschichten! Wo willst du so spät noch hin? fragt Sibylle bei der Tür. Wohin? Und du bist auch nicht warm genug angezogen. Kommt drauf an, sagte ich, was man denkt und wie schnell man geht. Oder hatte es schon an einem anderen Abend zu ihr oder jemand anders gesagt. Den Regenschirm mit. Zigaretten. Die Jacke zu. Holzknöpfe. Meine alte Wildlederjacke. Neun Jahre lang mit Sibylle die Jacke geteilt. In einer langen Reihe die Abende und die Haustür fällt immerfort hinter mir zu. Leer die Straße. Schon spät. Alles naß und ein hauchfeiner Silbernebel um jedes Licht. Schnell gehen, den Schirm mit und noch einen Umweg als Heimweg.
Die Zeit. Als Gast meine Zeit in der Eppsteiner Straße. Trotz Erfahrung, trotz aller Sorgfalt und Mühe und Umsicht doch wieder vergangen die Zeit. Wie früher. Es ist nicht das erste Mal. Du hast es gewußt und trotzdem ist es dir wieder passiert. Die Ankunft, die ersten Tage - so deutlich noch. Gegenwart. Jeder Tag, jeder einzelne Augenblick. Ein Obstkorb. Äpfel, Orangen, Bananen, Birnen, zwei Avocados, Kiwis, Mangos, eine Ananas und ein Obstmesser. Zähl die Tulpen! Und jetzt in Gedanken immer wieder zu diesen ersten Tagen zurück, als alles noch neu - und geräumig, hell, leer, unbesudelt die Zeit. Noch nicht angebrochen. Erst nicht und dann kaum. Noch offen. Der helle Mittag. Die Fahrt durch die Stadt, meine Ankunft. Erst packen. Ich seh uns noch einladen. Und wie wir zwei Tage vorher im Kinderladen beim Tor stehen und er sagt zu mir: Du kannst bei uns einziehen! Noch die Stimmen der Kinder im Ohr und lose in meiner Tasche das Geld für Milch, Zigaretten und Brot. Und wie froh ich dann mit mir selbst durch den Morgen ging. Und jetzt auf jedem Weg daran denken, zurückdenken. Die Zeit ein verlorenes Land. Das sind wir doch selbst, die Zeit! Weitergehen und im Gehen zu Carina, die jetzt nicht da ist, nicht bei mir: Die Schneeglöckchen! Hätten im Februar, hätten im Januar schon, du und ich! Hätten mehr darauf achten müssen! Man darf sie nicht übersehen! Man muß immer wieder mit ihnen sprechen! Man muß sie sich alle merken! Schnell weiter, sagte ich zu mir selbst, schnell und passend dazu die Gedanken. Und mußt manchmal stehenbleiben, weil du nicht mehr weißt, wie das geht, daß man ruhig atmet. Mit dem alten Schirm durch meine eiligen Frankfurter Tage. Die meiste Zeit Abend. Ein kleines Geniesel. Erst Regen, dann Schnee. Nasser Schnee, der nicht bleibt. Du hast den Schirm mit, aber machst ihn nicht auf. Bokkenheim, Gallus, das Bahnhofsviertel. In die Nacht hinein. Noch Licht in der Stadt? Lang nach Mitternacht. Die Zeil eine funkelnde Einöde. Wo einmal Frankfurt war und jetzt wie hingezaubert nur noch diese sprachlosen Häuserblocks und die glatten Fassaden. Carina schläft, doch ich seh uns schon morgen früh auf dem Weg in den Kinderladen und auf den Sommer zu. Und immer wieder komm sagen, komm! Komm du auch! Hätten mehr darauf achten, sagte ich in Gedanken zu ihr (sie schläft in der Ferne!), hätten uns alle Schneeglöckchen merken sollen! Und jeden Tag nachsehen, ob sie noch da? In den Vorgärten, im Schnee, im Wintergras und auch im Gedächtnis. Sind doch wichtig. Die ersten Blumen. Und so weiß und so klein und stehen so andächtig in der Stille. Weiß und mit grünen Blättern. Bevor sie kommen, muß man immer schon auf sie warten, sonst kommen sie nicht. Gerade in so einem schweren Winter. Hätten jeden Tag wieder alle Leute fragen sollen: Habt ihr nicht schon Schneeglöckchen gesehen dieses Jahr? Schon im Dezember zu warten anfangen und jeden Tag fragen. Weg ist weg! Gehen, die Zeit ruckt! Auf jedem Weg mir mein Leben erklären. Emser Brücke, Güterbahnhof, Gallus- und Gutleutviertel. Lang nach Mitternacht. Müd immer weiter. Weit und breit der einzige Fußgänger. Der einzige Mensch. Das einzig sichtbare Lebewesen. Nacht und kein Stern zu sehen. Braun und dunstig ein schwerer Frankfurter Nachthimmel, ein Rhein-Main-Himmel. Und kannst noch lang nicht heim. Zu Carina (sie schläft, sie geht neben mir her): Die Schneeglöckchen! Denk du auch dran! Wollen auch im nächsten Winter dran denken! Jedes Jahr wieder! Erst die Schneeglöckchen und dann jeden Abend die Amsel! Wenn man sie hört, muß man still stehen und darauf horchen! Erst auf die Amsel und dann auf die Erinnerung. Am Abend. Im letzten Licht. Schon jeden Tag länger hell. Erst noch das letzte Licht, dann die Farben der Dämmerung. Die merk dir auch jeden Tag! (Bei Tag schon Vorfrühling, März, aber jede Nacht kommt der Winter noch einmal zurück!) Als Gast. Alle Tage als Gast zu Gast und daß es nur ja nicht zu lang wird. Für die Gastgeber nicht und auch nicht im eigenen Kopf. Aber sie wollen mir ja noch ihr Haus in der Schwalm zeigen. Görzhain. Also nächstens mit den Kindern ein Wochenende auf dem Land und bis dahin folglich wird es auf jeden Fall nicht zu lang. Erst in der Dämmerung immer schneller gegangen und jetzt stehst du und ruhst dich aus. Den Schirm mit und nicht vergessen den Schirm! Halt dich daran fest!
Peter Kurzeck bei Stroemfeld
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