September 2010
Wieder einmal geht es um Homer, den sagenhaften Urvater der europäischen Literatur. Phasen verstärkter Übersetzungsaktivität stünden, so der Germanist Hermann Korte, „in engem Zusammenhang mit kulturellen Umbrüchen.“ Es sei daher auch kein Zufall, dass schon in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts konkurrierende Übersetzungen die Homer-Rezeption anregten. Korte spielt hier auf die viel diskutierten Übertragungen der Odyssee durch Kurt Steinmann (2007) und der Ilias durch Raoul Schrott (2008) an. Als Herausgeber ist er verantwortlich für einen über 300 Seiten starken Sonderband der Zeitschrift Text+Kritik über „Homer und die deutsche Literatur“. Der geistig anregende Band umfasst rund 20 zum Teil hoch wissenschaftliche Beiträge.
So erfährt man etwas über die Rezeption der homerischen Epen von Hans Sachs über Grimmelshausen und die Aufklärung bis zu Franz Fühmanns Neuerzählung Das hölzerne Pferd (1968) und Derek Walcotts Poem Omeros (1990). Man findet Aufsätze über Klopstocks, Goethes, Wilhelm von Humboldts und Nietzsches Homerbild. An halb vergessene Übersetzer der Odyssee wie Rudolf Alexander Schröder, Thassilo von Scheffer und Roland Hampe wird erinnert. Übersetzungsproben und detaillierte Vergleiche vermitteln auch dem interessierten Laien Einblicke in diese faszinierende Materie. Im Hintergrund ist ständig der Altmeister Johann Heinrich Voß anwesend. Auch wenn seine klassischen Übertragungen gelegentlich als fehlerhaft und sprachlich veraltet kritisiert werden, muss sich doch jeder neue Übersetzer an ihnen messen lassen. Voß hat mit seiner Leistung von 1781 einen Maßstab gesetzt; durch ihn wurde die altgriechische zu einem Teil der deutschen Literatur und der Hexameter zu einem deutschen Versmaß. Aber auch Wolfgang Schadewaldts präzise Prosafassungen aus den 50er Jahren gelten als „Meilensteine“.
Zwei ausführliche Gespräche, die der Herausgeber mit den gefeierten Übersetzern der letzten Jahre, mit Kurt Steinmann und Raoul Schrott geführt hat, fassen den Text+Kritik-Band in einen Rahmen. Steinmann, Lehrer für Alte Sprachen, hat bereits vor der Odyssee antike Literatur übersetzt, darunter Dramen von Aischylos und Sophokles, und arbeitet derzeit an einer Neufassung der Ilias. In Homer sieht er einen „genialen Redaktor“, der im 8., vorchristlichen Jahrhundert die mündlich überlieferten Textmassen kohärent verknüpfte. Dass derselbe Dichter-Redaktor beide Epen geschrieben haben könnte, schließt Steinmann aus. Ein verschiedener Geist und ein anderes Temperament deute auf zwei Autoren hin. Sich selbst sieht er als „Fährmann“, der die zu transportierende Fracht möglichst unbeschadet ans andere Sprachufer bringen will. Deshalb habe er sich auch für die Beibehaltung des Hexameters entschieden, der das epische Gleichmaß abbilde. Von Raoul Schrott grenzt er sich deutlich ab: Der habe die Ilias nicht übertragen, sondern nach-, ja neu gedichtet.
Schrotts Ilias hat besonders das Feuilleton begeistert, die Philologen jedoch eher verstimmt. Um seinem „innersten Ton“ treu zu bleiben, müsse er, sagt Schrott, vom Wörtlichen abweichen und die Informationen „zwischen den Zeilen“ aufsuchen – „in den Realien, im Kulturhorizont, der sich gegenüber dem Zeitalter Homers“ nun mal verändert habe. Die Sprache sei mehr als ein „Transportmittel“. Je älter ein Text, umso größer sei das Bedürfnis, über die Wörtlichkeit hinaus „moderne Äquivalente“, auch eine eigene Verskonstruktion zu finden, also ein „heutiges klares Deutsch.“
Das neue Schreibheft macht es dem Leser erst einmal schwer. Es umfasst drei größere Komplexe, die sich um weithin Unbekanntes gruppieren. Ein einführendes Editorial wäre hilfreich, fehlt indes wie immer. Man muss sich viel Zeit nehmen, etwa mit dem eigenwilligen ungarischen Erzähler und Essayisten Béla Hamvas, der 1897 geboren wurde und 1968 in Budapest starb. In seinem Nachlass befanden sich etwa 80.000 Manuskriptseiten, darunter der 1500seitige Roman Karneval. Hamvas, der bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zahlreiche essayistische und literarische Texte publizieren konnte, wurde 1948 nach der Veröffentlichung eines Buches über moderne Kunst auf Betreiben von Georg Lukács mit einem Publikationsverbot belegt. Er lebte fortan als Lagerarbeiter in der Provinz.
Nach den nun im Schreibheft abgedruckten Auszügen aus Karneval zu urteilen, war Hamvas ein Exzentriker und Privatphilosoph, ein Anhänger Jacob Böhmes, Nietzsches und Kierkegaards, der europäischen Moderne zugewandt; ein Monomane, der es genoss, außerhalb der Gesellschaft zu stehen. Er arbeitete assoziativ, mit Einschüben, Cut-ups, verschiedenen Textarten, fremdsprachigen Partikeln und hunderten von Figuren, in denen er sich selbst wiederfand, aber auch mit exakten Beschreibungen. Passagenweise fühlt man sich an Joyce und den Ulysses erinnert: „Schock. Im Juli? Krank. Im August? Lungenspitzenkatarrh. Arzt, Höhenluft. Ameline schreibt an das Stille Heim. Ameline, Sie sind gut. Wir haben Platz, das ganze Jahr offen, bestens geeignet, Rekonvaleszenz, Hochgebirgsflora…“
Erst 1985 konnte der Roman, der zuvor als Samisdat verbreitet worden war, in Ungarn veröffentlicht werden. Auf Deutsch wurde Karneval bislang nicht publiziert. Doch seit einigen Jahren bemühen sich Gabor Altorjay und Carsten Dane um eine dem Original angemessene deutsche Fassung. Inzwischen sind sie etwa in der Mitte des widerborstigen Textes angelangt. Einen Verlag haben sie nicht gefunden, ihre Übertragung erscheint daher nach und nach im Internet.
Eine Überraschung stellen im Schreibheft die Nervösen Tagebücher von Jonas Mekas dar, zwischen 1944 und 1949 in Deutschland aufgezeichnet. Der 1922 in einem litauischen Dorf geborene Mekas ist passionierten Cineasten weltweit als Schlüsselfigur des US-amerikanischen Avantgardefilms ein Begriff, als Dokumentarfilmer und enger Vertrauter von Andy Warhol, Salvador Dali, John Lennon und Allen Ginsberg.
Während sich Mekas' Filmwerk internationaler Anerkennung erfreut, sind seine literarischen Arbeiten – Lyrik wie Prosa – bei uns nicht bekannt, was auch damit zusammenhängen mag, dass sie ausschließlich in litauischer Sprache verfasst wurden. Für das Schreibheft hat Claudia Sinnig nun ausgewählte Tagebuchnotizen übersetzt und dazwischen ein paar prosanahe Gedichte eingefügt, die Mekas selbst „Idyllen“ nennt, Natur- und Landschaftspoeme, die unverstellt von der Sehnsucht nach dem Herkunftsdorf zeugen, den Roggenfeldern und Wiesen im Wechsel der Jahreszeiten: „Alt ist das Rauschen des Regens in den Zweigen der Sträucher, / das Kollern des Birkhuhns im roten Morgen des Sommers, / alt ist dieses, ist unser Sprechen…“
Das Tagebuch setzt ein im Juli 1944 mit der Flucht des damals 22jährigen, zusammen mit seinem Bruder Adolfas, aus Litauen. Die beiden haben, mitten im Chaos, die Idee, in Wien ein Philosophie-Studium zu beginnen, geraten jedoch in deutsche Gefangenschaft und müssen Zwangsarbeit leisten, zunächst in Elmshorn, wo sie Zeugen des Untergangs von Hamburg werden. Auch nach Kriegsende leben sie weiter als „displaced persons“ in den Barackensiedlungen von Würzburg, Wiesbaden, Kassel, Schwäbisch-Gmünd, Ludwigsburg, begleitet von einem Koffer, voll mit deutschen Büchern, bis sie im September 1949 ein Visum für die USA ergattern und per Schiff das Alte Europa hinter sich lassen. Über die Deutschen erfährt man leider in diesen Tagebüchern nicht viel.
Das Literaturmagazin poet, in Leipzig herausgegeben von Andreas Heidtmann, präsentiert zweimal im Jahr Texte etablierter wie auch ganz junger Autoren. Es belebt mit Gedichten, Prosastücken und Gesprächen die Diskussion und wirft auch einen Blick auf benachbarte Literaturen, gibt Einblicke in die neueste amerikanische, argentinische, russische, niederländische Lyrik. Zu Recht wurde ihm dafür der Calwer Hermann-Hesse- Preis 2010 verliehen.
Nun ist der poet zum neunten Mal in bewährter Qualität erschienen. Naturgemäß richtet sich der Blick des Rezensenten besonders auf die Autorengespräche. In den letzten Ausgaben behandelten sie das Verhältnis von Lyrik und Prosa, von Sprache und Heimat; diesmal geht es um Literatur und Politik – in einer Zeit, in der der Typ des „engagierten“ Schriftstellers (Beispiel: Erich Fried) ausgestorben zu sein scheint. Noch in den 70er Jahren gewann das Thema eine fast existentielle Dimension: Man musste selbst sein „operatives“ Schreiben ständig vor der alles beherrschenden Politik rechtfertigen. Heute indes fehlt den Autoren jede Begeisterung für das Thema, zumal es an radikalen Alternativen mangelt. So schleppen sich auch die Gespräche im poet dahin.
Die Stellungnahmen könnten nicht unentschiedener ausfallen. Reinhard Jirgl, immerhin Georg Büchner-Preisträger 2010, verliert sich in weitschweifigen Exegesen und bürokratischen Definitionen des „Politischen“. Auch Michael Wildenhain, Berliner Hausbesetzer im Ruhestand, gerät ins Schwimmen, wenn er das Politische in der Literatur erklären soll. Pures Agitprop sei nicht gemeint, man müsse vielmehr das Geschehen mit literarischen Mitteln erfassen. Auch ein „Resonanzraum“, der heute fehlt, gehöre dazu. Die von den Feuilletons gehätschelte Kathrin Röggla vermag Politik literarisch nur in einem medialen Kontext aufzugreifen, und zwar nicht am anschaulichen Beispiel, sondern – was die Sache erst richtig kompliziert macht – im „systemischen Zusammenhang“, also ziemlich soziologisch und experimentell, als „Medienrealität“. So sucht sie etwa nach einem Weg, „das Zustandekommen eines EU-Gesetzes literarisch umzusetzen“, um zu demonstrieren, „wie das System funktioniert.“ Es klingt ein wenig marxistisch. Nur, welchen Bücherfreund interessiert das eigentlich?
Text+Kritik: Sonderband, August 2010
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen, 36,- €
Schreibheft: Nr. 75, September 2010
Nieberdingstraße 18, 45147 Essen, 12,- €
poet: Nr. 9, Herbst 2010
poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, 9,80 €
Michael Buselmeier 22.09.2010
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese September 2010
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Michael Buselmeier
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