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März 2013
Vor wenigen Wochen ist die definitiv letzte Ausgabe der Frankfurter Kommune erschienen, mit 260 großformatigen Seiten das bei weitem umfangreichste Heft in 30 Jahren; auch eines der gelungensten, muss man mit einer gewissen Trauer, die sich freilich in Grenzen hält, anmerken, denn ständig sterben ja Zeitschriften, weil ihnen die Leser oder das Geld oder beides ausgehen und weil sie sich einfach überlebt haben.
Ein letztes Mal wird also die ganze Themenvielfalt sichtbar, beginnend mit der Krise der EU, den inneren Problemen der USA, der Lage in Deutschland. Dann wendet man sich dem Osten zu, Serbien und Kroatien, Albanien, Türkei, Afghanistan, um sich schließlich mit China, Korea, Japan und der Entwicklung in Lateinamerika zu beschäftigen – ein wahrlich welt-umfassendes politisches Programm, das so ähnlich von Anfang an bestand und nun noch einmal abgeschritten und vergegenwärtigt wird.
Lesenswert sind zum Beispiel Jochen Noths Eindrücke von einem Kurzbesuch in Nordkoreas Hauptstadt Pyongyang aus Anlass des 100. Geburtstags von Kim- Il-Sung. Fotografieren war zwar nicht opportun, doch konnte Noth einen Vormittag lang nicht überwacht durch die Stadt spazieren. Er sah kaum Autos, auch erstaunlich wenige Fahrräder, jedoch einen endlosen Strom von Fußgängern. Aber er bekam „so gut wie keinen Blickkontakt mit den Passanten.“ Es war ihm, als ob er unsichtbar wäre, ganz anders als in China, wo er ununterbrochen angestarrt wurde. Dafür erinnerte die drei Stunden währende Militärparade durchaus an ähnliche Massenveranstaltungen in Peking.
Im Kulturteil der letzten Kommune findet sich eine umfangreiche Faust-Deutung von Michael Jäger, in welcher Goethes Held als „Prototyp des Kapitalisten im 19. Jahrhundert“ auftaucht, was mir nicht besonders originell vorkommt. Erinnert wird an den weithin unbekannten Dichter und „Oberbaum“-Verleger Siegfried Heinrichs, der in der DDR wegen einiger regimekritischer Gedichte vom eigenen Bruder denunziert wurde und drei Jahre im Knast saß, bevor er 1974 nach Westberlin ausreisen konnte; er starb 2012. Auch den 1921 geborenen tschechischen Poeten Frantisek Listopad, einen Halbjuden, der 1948 über Paris nach Portugal emigrierte, wo er heute noch lebt, kennt man hierzulande kaum.
Mit der Einstellung der 1983 gegründeten Kommune geht das wahrscheinlich letzte Zeitschriften-Projekt zu Ende, das sich noch auf „68 und die Folgen“ berufen konnte. Genauer gesagt, ist die Kommune hervorgegangen aus den Trümmern der maoistischen Minipartei „Kommunistischer Bund Westdeutschlands“ (KBW), dessen Kader Stalin, Mao und Pol Pot huldigten und als „Bündnispartner des Proletariats“ dem „Volke zu dienen“ versprachen. Ihre aberwitzige Herkunft machte die Zeitschrift nur selten zum Thema, man mied eine Debatte über die eigene totalitäre Vergangenheit. Immerhin wird sie im Schlussheft am Rand angesprochen.
Im zentralen Beitrag stellt Gerd Koenen aus Anlass des Abschieds von der Kommune Betrachtungen zur Weltgeschichte der vergangenen 30 Jahre an. Er berichtet nicht ohne Ironie von revolutionären Veränderungen ganz anderer Art als diejenigen, die den Klassenkämpfern vom KBW vor Augen standen. Koenen spricht von der Schwierigkeit, mit dem Tempo der welthistorischen Prozesse halbwegs Schritt zu halten. Das gilt etwa für den sowjetisch beherrschten Osten Europas nach Gründung der polnischen „Solidarnosc“ 1980 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion keine zehn Jahre später. Das gilt auch für die Veränderungen in der Volksrepublik China, die Deng Xiaoping um das Jahr 1980 eingeleitet hat, ein sozial-ökonomischer Aufbruch, der zu einem kontinuierlichen Zuwachs der Wirtschaftsleistungen von rund zehn Prozent jährlich führte. Zeitsprünge überall, so etwa die rasante Entwicklung der Informationstechniken, die unaufhaltsam voranschreitet und vor der eine kulturpolitische Zeitschrift rührend unzeitgemäß erscheint.
Auch eine Intellektuellen-Zeitschrift „für europäisches Denken“ wie der seit 1946 erscheinende Merkur hatte in ihren ersten Jahrzehnten beträchtliche wirtschaftliche Schwierigkeiten. Das anfangs von einem Baden-Badener Kleinverlag, später von der Deutschen Verlagsanstalt verlegte Blatt litt unter chronischer Unterfinanzierung. Über das ständige Ringen um existentielle Sicherheit und redaktionelle Unabhängigkeit berichten im jüngsten Merkur dessen neuer Herausgeber Christian Demand und der verantwortliche Redakteur Ekkehard Knörer. Bei der Rekonstruktion der Frühgeschichte ihrer Zeitschrift können sie sich auf den Briefverkehr zwischen den ersten Herausgebern Joachim Moras und Hans Paeschke stützen. Da beide gut sechs Jahre lang räumlich getrennt in kleineren Orten lebten, „ging täglich mindestens ein Brief in jede Richtung.“ 1952 bezogen Moras und Paeschke dann gemeinsame Redaktionsräume in München, was ihre Zusammenarbeit aber nicht verbesserte.
Man liest von ständigen Klagen über das angeblich sinkende Niveau der Hefte. Man schimpfte intern über einzelne Autoren und deren Texte, sprach gar vom „Versagen“ der Zeitschrift. Dabei wurde der anspruchsvolle Merkur allseits gelobt und hatte eine enorme Startauflage von 40.000 Heften. Demand und Knörer sprechen von der „nie wirklich zu schließenden Kluft zwischen dem ambitionierten publizistischen Selbstanspruch und dem von Kompromissen geprägten Redaktionsalltag.“ Hinzu kamen mitunter schwere Konflikte zwischen den beiden sehr verschiedenen Gründern, die sich bis zu Moras' frühem Tod 1961 steigerten. Dabei ging es um den Kurs des Merkur, auch um einzelne, von einem der beiden angeforderte Manuskripte, deren Qualität vom anderen nicht anerkannt wurde.
Der Essayist und Schriftsteller David Wagner, von dem gerade ein vielgelobtes Prosabuch namens Leben erschienen ist, das von einer lebensrettenden Lebertransplantation handelt, betreut wieder einmal die „Literaturkolumne“ des Merkur. Wagner erzählt geistreich von seinen Erlebnissen mit Büchern; er fragt sich, wie die Bücher eigentlich zu ihm gelangen, wie er sich entscheidet, wann er was liest. Ihn scheint besonders das autobiographische Material zu interessieren, „real stuff, desillusionierendes Echtleben. Und das ist großartig.“ Man sollte, meint er, beim Schreiben möglichst wenig erfinden und keine Rücksicht auf sich und andere nehmen, denn „die beste Prosa ist rücksichtslos.“ Es falle ihm manchmal sogar schwer, einer Figur einen anderen Namen zu geben als denjenigen, den sie schon immer hatte.
Es entsteht in der Welt etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ So lautet ein Paradesatz des in Ludwigshafen geborenen Philosophen Ernst Bloch. Dass Kindheit und Heimat vielfach miteinander verbunden sind, spürt jeder, der etwas tiefer in sich hinein hört. Die rheinland-pfälzische Kulturzeitschrift Chaussee widmet ihr jüngstes (Doppel-)Heft dem Thema Kindheit. Auf 200 Seiten versammelt sie autobiographische Erzählungen über Kinder in Bauerndörfern und kleineren Orten der Pfalz. Die meisten Autoren sind in den 50er und 60er Jahren geboren, als die Landwirtschaft schon im Rückgang war und mit ihr ein Stück weit auch die krude Gewalterziehung der Kriegs- und Nachkriegsjahre, also Kinderarbeit auf dem Feld und Prügel zu Hause, Rohheit gegenüber Tieren wie Menschen, vor allem Fremden. Nur ab und zu schimmert der etwas grobschlächtige Pfälzer Dialekt noch durch die Texte.
Dem Begründer des Berliner „Grips“-Theaters, Volker Ludwig, widmet Winfried Tobias ein Porträt zum 75. Geburtstag. Der als Eckart Hachfeld geborene Theaterautor lässt in seinem Künstlernamen offenbar seine Geburtsstadt Ludwigshafen anklingen. 1966 hat er mit dem Stück Maximilian Pfeiferling das emanzipatorische „Grips“-Theater eröffnet, ein für Deutschland „völlig neues, nämlich in der Gegenwart spielendes, realistisches Theater für Kinder.“ Statt der bis dahin üblichen Weihnachtsmärchen kamen nun Alltagsprobleme, ganz normale Erfahrungen von Kindern und eine stilisierte Umgangssprache, von frechen Liedern durchsetzt, auf die Bühne, was anfangs Erstaunen und Abwehr, schon bald aber Begeisterung in ganz Deutschland auslöste. Vorbildhaft könnten für Volker Ludwig die Kinderromane Erich Kästners gewirkt haben.
An seine Dresdner Kindheit erinnert der Dichter Durs Grünbein im jüngsten Heft der Akzente (auf nicht weniger als 28 Seiten). Folgt man dem Text, so ist er „in der famosen Gartenstadt Hellerau“ aufgewachsen, 100 Meter über der Stadt im Talgrund gelegen. Sein Elternhaus stand auf dem Gelände der Deutschen Werkstätten, jener Möbelfabrik, die der Ursprung der bekannten Künstlersiedlung Hellerau war. Sogar Franz Kafka kam 1914 besuchsweise, auch der berühmte Architekt Le Corbusier sah sich in Hellerau um.
Grünbein referiert die wechselhafte Geschichte der Reformkolonie, ihre große Zeit und die folgende Tristesse, bedingt durch die Gegenwart der SS und später der Roten Armee. Und er schildert seine Erlebnisse in der Grundschule, mit den russischen Rekruten, ein relativ privilegiertes Indianerleben in der DDR.
Seltsam nur und schwer begreiflich, dass Grünbein parallel in Sinn und Form eine vollkommen andere Dresdner Kindheit im Detail beschreibt (oder erfindet). „Aufgewachsen bin ich in einem alten Mietshaus im Stadtteil Cotta“, heißt es dort; ein heruntergekommener Kasten an einer viel befahrenen Straße, in dessen Erdgeschoss sich ein stinkender Fischladen befand. Er wohnte hier mit Eltern und Großeltern zur Miete. Auf der einen Seite also ein bevorzugt bürgerliches, auf der anderen ein eher ärmlich proletarisches Milieu – sollten am Ende beide Kindheiten ausgedacht sein?
Kommune: Heft 6, 2012
(Postfach 90 06 09, 60446 Frankfurt am Main), 10 €.
Merkur: Heft 3, März 2013
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12 €.
Chaussee: Heft 29/30, 2012
(Postfach 2860, 67616 Kaiserslautern), 10 €.
Akzente: Heft 1, Februar 2013
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7, 90 €.
Sinn und Form: Heft 1, 2013
Heft 1, 2013 (Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9 €.
Michael Buselmeier 21.03.2013
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Michael Buselmeier
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