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Januar 2017
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Zeitschriftenlese  –  Januar 2016
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


„Min Kamp“ („Mein Kampf“) lautet in Norwegen, dem Heimatland des 1968 geborenen Schriftstellers Karl Ove Knausgård, der Titel seines autobiographischen Romanzyklus, der auch in den USA und in Deutschland Aufsehen erregt hat und noch immer heftig diskutiert wird. Die sechs Bände, insgesamt 3.600 Seiten, heißen „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“, „Träumen“ und „Kämpfen“. Darin berichtet Knausgård rückhaltlos „authentisch“ über sich, seine Eltern, seine Frau und seine Kinder, in einer schmucklosen, aber starken Prosa.
  Auch in seinen essayistischen Schriften geht Knausgård radikal, ja spektakulär zu Werk. So publiziert die Zeitschrift Volltext Nr. 3/2016 auf acht Seiten sein Psychogramm des Massenmörders Anders Behring Breivik, der am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der nahe gelegenen Insel Utóya 77 Menschen, darunter zahlreiche junge Teilnehmer eines Sommerkamps, niedergemäht hat. Die Tat war politisch motiviert; der Täter erklärte, er befände sich im Krieg mit der Gesellschaft und bekämpfe „die Auflösung traditioneller Werte und des Nationalstaats.“ Als Feinde erschienen ihm besonders die eingewanderten Muslime und der „Multikulturalismus“.
  Was trieb Breivik, der überzeugt war, einer guten Sache zu dienen, zu dieser „unerhörten Tat“? Knausgård geht von einer schwierigen vaterlosen Kindheit des Attentäters aus, von sexueller Verunsicherung und einem Traum künftiger Größe. Er vergleicht Breivik mit dem vom Vater halbtot geprügelten Hitler, aber auch mit sich selbst in seiner eigenen Schwäche und ständigen Gekränktheit. Und er hält Breivik, den das Fließende bedroht habe, für „ohne jeden Zweifel homosexuell“, was dieser jedoch stets abgestritten hat. „Irgendetwas“, so Knausgård, müsse „sein Leben unerträglich gemacht haben“, andernfalls hätte Breivik diesen Massenmord nicht so kalt und effizient ausführen können.
  Ein weiterer extremer Erfahrungsbericht von Karl Ove Knausgård findet sich im jüngsten Band der traditionsreichen Neuen Rundschau des S. Fischer Verlags, die im 127. Jahrgang erscheint. Im Sommer 2015 bot sich ihm die besondere Gelegenheit, zwei Operationen am offenen Gehirn wacher Patienten mitzuerleben, wobei er die „schreckliche Schönheit“ im Innern des Menschen entdeckte. Die Operationen wurden von dem britischen Neurochirurgen Henry Marsh und seinem Team in Tirana, der Hauptstadt Albaniens, durchgeführt: „Damit der Chirurg weiß, was Teil der Geschwulst ist und was gesunde Hirnzellen sind, wird der Patient während der Operation wach gehalten und das Gehirn mit Hilfe eines elektrischen Stimulators angeregt, damit der Arzt sehen kann, ob und wie der Patient reagiert.“ Zu den Rätseln, die das menschliche Gehirn aufgibt, erst recht wenn man es ganz aus der Nähe, durch ein Mikroskop betrachtet, treten im vorliegenden Fall noch die Geheimnisse eines so fremden Landes wie Albanien hinzu.
  Es ist auch für Laien und selbst für Leser dieses Berichts faszinierend zu beobachten, wie zuerst die Schädeldecke mit Säge und Bohrer entfernt, wie dann die Kopfhaut zur Seite geklappt, wie das Blut abgesaugt wird und den Blick auf eine nie gesehene pulsierende Landschaft freigibt. Unterm Mikroskop wird der Tumor langsam entfernt, wobei der Patient stets wach und aufmerksam bleibt. „Wie konnten in diesem Fleisch die Gedanken entstehen?“, fragt sich der staunende Zeuge, während die Arbeit für die Operateure vor allem Handwerk und Erfahrung bedeutet.
  Zu einer „vertikalen Reise“ (ebenfalls in der Neuen Rundschau) macht sich der 1926 geborene britische Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker John Berger, der erst vor wenigen Tagen, am 2. Januar, gestorben ist, ins Innere der Erde und der frühen Kulturgeschichte des Menschen auf. Ausgehend von einer stillgelegten Station der Londoner Untergrundbahn entwirft Berger in Text-Fragmenten Bilder einer imaginären Zeitreise zu den Mumien-Porträts von Fayum, den Menhir-Statuen auf Korsika und den Höhlenmalereien, die in der Grotte Chauvet in einer Schlucht der Ardèche entdeckt wurden – auch dies ein faszinierendes Unternehmen, das den Leser zu den wohl ältesten Gemälden der Menschheit führt.
  Im Dezember 1994 krochen drei Freizeit-Höhlenforscher im Süden Frankreichs durch einen engen Tunnel in eine riesige finstere Grotte hinab, deren Felswände mit Darstellungen von Tieren (Mammuts, Bären, Löwen, Wollnashörner) bedeckt waren, etwa 30 000 Jahre alt und doch ganz frisch erhalten, wie neu, geschaffen von Jägersammlern im Fackelschein: „Hier, unter diesem Berg, haben sie vielleicht gesungen, geredet, in einer Sprache, die uns unbekannt ist“, vermutet John Berger. Offenbar ein früher Kult-Ort.
  Der bedeutende experimentelle Lyriker, Hörspielautor und Essayist Franz Mon wurde wie Berger 1926 geboren und lebt und schreibt noch immer in Frankfurt am Main. In der Neuen Rundschau referiert er über die Entstehung von „Transit“ – so heißt Walter Höllerers legendäres „Lyrikbuch der Jahrhundertmitte“, an dem der junge Franz Mon mitgewirkt hat.
  Im Jahr 1954 war es dem an der Frankfurter Universität als Assistent bei den Germanisten beschäftigten Höllerer gelungen, mit den Akzenten eine neuartige Literaturzeitschrift zu begründen, die vor allem der jungen deutschen Poesie dienen sollte. Bereits 1952 hatte dieser vielseitig begabte Anreger und Inspirator des Literaturbetriebs seinen ersten Gedichtband „Der andere Gast“ veröffentlicht. Und 1956, während er gerade dabei war, sich zu habilitieren, brachte er bei Suhrkamp „Transit“ heraus, gedacht als „Bestandsaufnahme und Dokumentation des modernen deutschen Gedichts nach dem Expressionismus, dem Dadaismus und dem Surrealismus.“
  Den Schwerpunkt der Anthologie bildet die Generation um den Jahrgang 1920, also Dichter wie Karl Krolow, Paul Celan, Helmut Heißenbüttel. Franz Mon steuerte neben acht eigenen Gedichten ein paar „surreal gepolte“ Außenseiter bei und vermittelte experimentelle Texte. Der jüngste Aufgenommene ist der 1937 geborene Peter Hamm. Insgesamt sind 118 Autoren beteiligt, deren Gedichte thematisch zu sechs Kapiteln angeordnet und mit verbindenden poetologischen Randnotizen versehen wurden. Die Namen der Verfasser stehen nicht über den Gedichten, man muss sie – auch dies eine Eigenart – jeweils über den Anhang ermitteln.
  Im jüngsten Heft der Zeitschrift manuskripte berichtet der seit langem in Wien lebende deutsche Dichter Ludwig Fels über eine Fahrt von Krakau nach Auschwitz und einen „Spaziergang“ durch das KZ. Das ist auch heute, nach 70 Jahren, noch eine höchst ambivalente Erfahrung; einerseits ein touristischer Vorgang: Jährlich kommen mehr als 1,2 Millionen Besucher in die Gedenkstätte. Es gibt einen Souvenir-Shop, Sicherheitskontrollen. Man wird einer geführten Gruppe zugeteilt und durcheilt „im Schnellschritt“ das Grauen, den Todesblock 11, die Stehbunker, die Pfähle, an denen die Häftlinge hochgezogen wurden, die Ballen von Menschenhaaren hinter Glas, die Reihe der Abortlöcher in einer der Frauenbaracken.
  Fels fühlt sich unbehaglich auf den Lagerstraßen, als Voyeur. Die Routine der Besichtigungstour stößt ihn ab; er wäre wohl lieber allein unterwegs: „Überall Menschen, Menschen wie ich, gut genährt, gut gekleidet, Fremdkörper in dieser Welt unerinnerter Geister und Schicksale. Ein Gefühl, als würden zwei Filme gleichzeitig abgespielt.“ Doch der Dichter ist zugleich und dauerhaft entsetzt von dem, was vor Ort noch immer anwesend ist, er ist empört über die Grausamkeit „der menschlichen Rasse“, er ist sprachlos. Er sieht sie gehen, „die Frauen und Kinder, ihre Schatten“, obwohl der Leichengeruch längst verschwunden ist und der Schmutz „weggewaschen“, „das blutige bekotete Stroh“ weggeschafft. Er habe, schreibt Fels, „zu viele Bilder gesehen, zu viele Berichte gelesen, um mich von der Reglosigkeit dieses Ortes täuschen zu lassen“, er bleibe „unbeeindruckt von seiner trügerischen, fast schon musealen Ruhe.“
  Gegenüber dem Gewicht dieses Gegenstands und seiner dichten sprachlichen Umsetzung können sich die anderen essayistischen Heft-Beiträge nur schwer behaupten, die etwas harmlosen, das Überlieferte bewahrenden „Notizen und Fundstücke“ von Walter Kappacher ebenso wenig wie Christian Wolters Bericht von einer Kneipentour auf Gottfried Benns Spuren durch Berlin-Schöneberg; von den experimentellen Sprachgespinsten der 1991 geborenen Franziska Füchsl gar nicht zu reden.
  Briefwechseln zwischen aufstrebenden jungen Autoren ist häufig etwas Inszeniertes eigen, ein verspielter, kumpelhafter Ton; ein wenig Selbstbeweihräucherung ist immer dabei, aber auch Ironie und Selbstironie. Die freie Jugendzeit wird gefeiert, ein Genie-Gefühl, das sich später rasch abschleift. Man kann das auch an den Briefen und Postkarten beobachten, die Hans Christoph Buch und Nicolas Born einander zwischen 1964 und 1978 zukommen ließen. Buch, weitgereist und weltgewandt, hat sie nun in der 1961 von Walter Höllerer begründeten Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter in chronologischer Folge veröffentlicht und aus heutiger Sicht kommentiert – die Dokumentation einer Dichterfreundschaft.
  Kennengelernt haben sich die Beiden, eingeladen von Walter Höllerer, Ende 1963 bei einem Prosa-Workshop im Literarischen Colloquium Berlin. Damals war der Diplomatensohn Hans Christoph Buch erst 19 Jahre alt, Nicolas Born (der zu der Zeit noch Klaus-Jürgen hieß) immerhin 26. Eine Eigenart Borns und gewissermaßen ein Vorzug war, dass er nicht studiert, sondern eine Lehre als Chemigraph hinter sich hatte, also Lebenserfahrung besaß und so etwas wie ein „literarischer Selfmademan“ war. Dem „Wahnsystem Realität“ versuchte er mit der Sprache der „Utopie“ zu begegnen.
  Die Mitteilungen, die anfangs zwischen Berlin und Essen gewechselt wurden, bald aber aus Stipendien-Orten in den USA, aus der UdSSR oder gar aus Haiti, Buchs zweiter Heimat, ankamen, erzählen vom munteren Poetenleben in der Ferne, von Schwierigkeiten beim Schreiben und ersten Erfolgen, ein wenig auch von linker Politik. Es ist die Zeit der weltweiten Jugendrevolte und ebenso die der schnell fertigen Urteile. Die Chinesen, schreibt Buch 1967 aus Iowa City, „sind reaktionär, weil aus Formosa, die Amerikaner hassenswerte Liberale, die gegen den Krieg sind, aber nicht richtig.“

Volltext: Nr. 3, 2016   externer Link
(Goldschlagstraße 78/22, 1150 Wien), 5,90 €.

Neue Rundschau: Band 4/2016   externer Link
(Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt a.M.), 15,- €.

:manuskripte Nr. 214, November 2016   externer Link
(Sackstraße 17, 8010 Graz), 11,70 €.

Sprache im technischen Zeitalter: Heft 220, Dezember 2016   externer Link
(Am Sandwerder 5, 12109 Berlin), 14,- €.

 

 
Michael Buselmeier
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