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November 2012
Zum vierten Mal ist die Zeitschrift Gegenstrophe. Blätter zur Lyrik in Hannover erschienen mit neuen Gedichten, Porträts derzeit erfolgreicher Lyriker und Essays. Im Mittelpunkt steht ein Aufsatz des 1978 geborenen Christophe Fricker über „Georges Gegenwart“. Fricker hat in fernen Winkeln der Welt studiert, in Oxford über Georges Werk promoviert; 2009 hat er den Briefwechsel zwischen Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters herausgegeben, 2011 erschien von ihm der Band Stefan George: Gedichte für Dich. Darin bemüht sich Fricker, Lesern von heute einen positiven Zugang zu Georges Dichtung zu eröffnen.
1968, zum 100. Geburtstag, war es um das Ansehen des Meisters in der literarischen Öffentlichkeit schlecht bestellt. George galt als Reaktionär und Schlimmeres, sein Werk als hoch pathetisch und gänzlich veraltet. Doch dieser Eindruck wurde im Lauf der folgenden Jahrzehnte, auch durch die Arbeit der fortbestehenden Freundeskreise, korrigiert. Georges Bedeutung als Erneuerer der Gedichtsprache wird heute kaum mehr bezweifelt. 2007 erschien endlich, nach zahlreichen Hagiographien, die erste kritische George-Biographie, Die Entdeckung des Charisma von Thomas Karlauf, die breit diskutiert wurde. Zwei Jahre später setzte Ulrich Raulff mit seinem Großessay Kreis ohne Meister diese kritische Tendenz mit Blick auf Georges Jünger und Enkeljünger fort, die sein Banner weitertrugen.
Christophe Fricker nun, ein nachgeborener Georgeaner aus dem inneren Kreis des Amsterdamer Castrum Peregrini, will unsere Aufmerksamkeit von den biographischen und soziologischen Fragestellungen weg und wieder zurück auf die Gedichte lenken. George ist für ihn nicht der sich finster inszenierende Autokrat, erst recht kein Präfaschist und Verführer der (männlichen) Jugend, sondern der „Dichter der Freundschaft“ und des Dialogs, ein moderner Anhänger von Individualität und Natur. Auf eine etwas zu freundlich- harmlose Formel gebracht: „George ist in der Ich-Zeit der Du-Dichter.“
Frickers Versuch, „Georges Gegenwart“ in der heutigen deutschen Lyrik nachzuweisen, gerät schlicht nach dem Muster: George hat die Kleinschreibung benutzt und ein Drittel der Autoren im Jahrbuch der Lyrik 2011 tut das auch. Der Meister wird zum Maß aller Dinge. Findet Fricker traurige Gedichte in der Gegenwart, erinnert er daran, dass George ebenfalls traurige Gedichte geschrieben hat. Der Vergleich läuft meistens über Äußerliches, über Motive, nicht über die Strenge der Form, die Magie der Sprache, die Tradition von Metrum und Reim. Allein bei Norbert Hummelt, der derselben mittelrheinischen Landschaft entstammt, gibt es einige Bezüge zu George, er hat sich zeitweise seinen Ton anverwandelt. Auch Thomas Kling wäre hier zu nennen gewesen.
„George vertraut der Welt und den Menschen“, verkündet Fricker gegen Ende seines Essays. Der Meister bestehe darauf, „dass Schönes keine Illusion ist und dass nur der seinem Nächsten helfen kann, der aus der Fülle der Schöpfung Kraft gewinnt.“ Das klingt in meinen Ohren betulich-therapeutisch, ja geradezu pastoral, weit weg jedenfalls von Georges ästhetischer Radikalität und seiner marmornen Verskunst: „Euch all trifft tod. Schon eure zahl ist frevel.“ Nein, ein Menschenfreund war er wahrlich nicht.
Die 13. Ausgabe des Literaturmagazins poet ist anzuzeigen. Sie enthält neben neuen Geschichten und (zum Teil kommentierten) Gedichten, darunter solche aus Brasilien, fünf poetologische Gespräche zum weiten Thema „Literatur und Alltag“. Die 1961 geborene Sabine Peters meint, ein literarischer Text kristallisiere sich, zunächst mit der Hand geschrieben, erst „Schritt für Schritt“ heraus. Schreiben sei ein Suchvorgang und bedeute, darauf zu warten, was die Sprache einem erzählen will. Sie, Peters, interessiere „eine Vermischung von Erlebtem und Erfundenem“; es gehe ihr auch darum, zu dem naturgemäß nahen autobiographischen Material „Distanz zu gewinnen“, den eigenen Alltag zu beleuchten und zu hinterfragen. Schreiben sei kein therapeutischer Vorgang. Einerseits helfe es als weithin selbstbestimmtes Tun immer, andererseits habe es ihr nach dem Tod ihres Vaters und ihres Mannes nicht geholfen, die Schicksalsschläge zu bewältigen.
Auch Liane Dirks' Bücher haben einen autobiographischen Kern. So zeichnet sie etwa in dem Roman Vier Arten meinen Vater zu bewältigen das Porträt ihres Erzeugers, des Kochs Günther Dirks, der zum Kinderschänder wird. Die Erzählerin und die Autorin sind zwar identisch, sagt Dirks, aber es gebe keine Umsetzung der Wirklichkeit im Verhältnis eins zu eins, denn jeder literarische Text gerate schon durch Bearbeitung und Weglassen zur Fiktion.
Aus dem Osten Deutschlands, dem Tagebaugebiet um Leipzig, stammt Jayne-Ann Igel. Von Kind an faszinierte sie die Dunkelheit und die darin aufscheinenden Lichter von Baggern und Kränen. „Mein Schreiben“, sagt sie, „braucht Erfahrungswerte, muss sich mit Sinnlichem verknüpfen, Sachen, die ich wirklich auch wahrgenommen habe.“ Im Gegensatz zu herkömmlichen Romanen, deren Handlung mehr oder weniger linear von A nach B verläuft, interessiert sich Igel für die subjektive Seite dieses Prozesses, für die einzelnen Wahrnehmungen, die alle Poesie begründen.
Auch das Werk des 1947 geborenen Schweizers Jürg Amann ist stark autobiographisch geprägt. Der Autor hat über Kafka promoviert und präsentiert in seinen erzählerischen und dramatischen Arbeiten Außenseiter, Einsame und Gescheiterte wie Kaspar Hauser oder Robert Walser. Er neigt dazu, Texte und Aufzeichnungen anderer Autoren (Novalis, Kafka, Büchner) zu bearbeiten, zu verdichten und mit Eigenem durchsetzt zu publizieren. Die nahe liegende Frage, was hierbei vom ursprünglichen Verfasser, was vom Bearbeiter stammt und worin Amanns Eigenleistung denn nun besteht, ist auf den ersten Blick kaum zu beantworten. Sie stellt sich wieder bei einem das jüngste Heft der Zeitschrift manuskripte eröffnenden Text Amanns, der sich mit den letzten Lebensjahren des Sturm-und-Drang-Poeten Jakob Michael Reinhold Lenz beschäftigt, über die man nicht allzu viel weiß.
Von Georg Büchner bis Peter Schneider haben sich Schriftsteller um das Schicksal des unglücklichen Jung-Genies bemüht und hatten dabei vor allem ihre eigene Zeit im Visier Büchner folgt teilweise einer Vorlage, nämlich dem Krankenbericht des elsässischen Pfarrers Oberlin. Doch wie souverän verfährt Büchner mit dieser Quelle, während sich Amann eng an die seine zu klammern scheint.
Amanns Text setzt ein mit der erzwungenen Rückkehr des schizophrenen Dichters zu Fuß und per Schiff zu seinem strengen Theologen-Vater nach Livland. Straßburg, die Studienjahre als Freund Goethes und Herders, die wilden Theaterstücke Der Hofmeister und Die Soldaten liegen weit hinter ihm. Er kehrt geschlagen nach Riga zurück, doch der pietistische Vater empfängt den verlorenen Sohn nicht wie der biblische den seinen. Lenz sucht nach einer Lehrerstelle, die ihn ernähren könnte, doch selbst Herder verweigert ihm jede Hilfe. Er wendet sich nach St. Petersburg, schließlich nach Moskau, doch alles schlägt fehl, ein fortwährendes Scheitern. Lenz fühlt sich verfolgt, so ganz ohne Hoffnung auf irgendeinen Anschluss. Der skurrile Plan einer simultan in alle hundert Nationalsprachen des russischen Reichs übersetzten Bibelausgabe beschäftigt ihn bis zuletzt. Er stirbt im Sommer 1792 auf einer Straße in Moskau. Wo er begraben wurde, ist unbekannt.
Amann schöpft vor allem aus Lenz' späten Briefen an den Vater und die Brüder aus Moskau, die etwas konfus, zugleich dunkel und poetisch klingen: „Erziehen heißt kreuzigen, kreuzigen ist deutsch, und alles was deutsch ist, ist göttlich.“ Er zitiert diese Briefe über weite Strecken fast wörtlich; oft verknappt er die sperrigen Sätze und gruppiert sie um…
Es kommt gar nicht so selten vor, dass verdienten Schriftstellern im Alter zu runden Geburtstagen Sammelbände überreicht werden, die sich aus Beiträgen ihrer Freunde und Bewunderer zusammensetzen. Hans Bender hat in seinem langen Leben einige solcher Festschriften erhalten, allein zu seinem 75. Geburtstag erschienen 1994 zwei umfangreiche Bücher. Nun wurde, recht ungewöhnlich zum 93. Geburtstag des bedeutenden Schriftstellers und Herausgebers, der aus dem badischen Ort Mühlhausen stammt, aber seit langem in Köln lebt, eine ganze Nummer der regen Zeitschrift Matrix Hans Bender gewidmet. Der Editor Theo Breuer hat Gedichte und Prosastücke von 35 Autoren eingesammelt, ein Teil der Texte bezieht sich direkt auf Benders Leben und Werk, andere sind dem Freund nur zugeeignet. Man findet etwa einen Brief Gottfried Benns aus dem Jahr 1955 oder einen von Johannes Bobrowski aus dem Jahr 1961, beide sind an Bender als Herausgeber der Akzente gerichtet. Sodann ein Bender gewidmetes, überraschend zartes Frühlingsgedicht von Rolf Dieter Brinkmann, Buchbesprechungen, eine schöne Laudatio von Peter Hamm aus dem Jahr 2006, Essays von Gerhard Jaschke und Arnold Stadler, ein Besuch in Mühlhausen, einiges zu Benders Wirkungsgeschichte und so fort.
Hinzu kommen auf 40 Zeitschriftenseiten Texte des Geehrten selbst, und zwar einmal die von ihm in den letzten Jahren bevorzugten „Vierzeiler“, einfache, haikuartige Gebilde mit doppeltem Boden, zum anderen kurze Prosatexte und Aphorismen, schlicht „Aufzeichnungen“ genannt. Beide Formtypen enden nicht selten mit einer moralischen Pointe. Sie erzählen von der Kraft der Poesie, der Freundschaft, aber auch, bitteren Tons, von den Beschwernissen des Alters: „Nimm's nicht allzu schwer – / Mitstreiter, die damals / gut dich kannten, nennen / deinen Namen nicht mehr.“
Gegenstrophe. Blätter zur Lyrik : Nr. 4, 2012
(Literaturhaus Hannover, Sophienstraße 2, 30159 Hannover), 10,- €.
poet: Nr. 13, 2012
(poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig), 9,80 €.
manuskripte: Nr. 197, September 2012
(Sackstraße 17, 8010 Graz), 11,70 €.
Matrix: Nr. 29, 2012
(Pop-Verlag, Postfach 0190, 71601 Ludwigsburg), 10,- €.
Michael Buselmeier 21.11.2012
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Michael Buselmeier
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