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Januar 2012
Friedrich Schillers berühmte Horen, ein Vorbild für alle künftigen, literarisch-philosophisch ambitionierten Zeitschriften, kamen nur knapp drei Jahre lang heraus (von 1795 bis 1798). Dagegen erscheinen die 1955 von Kurt Morawietz in Hannover begründeten horen mittlerweile im 56. Jahrgang, offen für die gesamte deutsche Literatur und ihre Kritik, aber auch für die übrigen Literaturen der Welt, die zweimal pro Jahr in umfangreichen Themenbänden vorgestellt werden mit der Absicht, die Neugier avancierter Leser auch auf das Fremde und Randständige zu lenken.
Doch nun steht eine nicht ganz unwichtige Veränderung bevor: Nach mehr als 160 von ihm verantworteten horen-Bänden tritt der in Bremerhaven lebende Lyriker Johann P. Tammen als Herausgeber zurück. Ab Frühjahr 2012 wird die Zeitschrift im Göttinger Wallstein Verlag erscheinen und von dem 1959 in Leipzig geborenen Jürgen Krätzer herausgegeben werden. Man erwartet von ihm, dass er die Tradition der horen fortsetzt.
Die letzte Ausgabe unter Tammens Regie beginnt mit einer Verbeugung vor dem neuen Nobelpreisträger Tomas Tranströmer. Als ihn der Berliner Lyriker Richard Pietraß im Sommer 2011 in Stockholm aufsuchte, war vom Nobelpreis noch nicht die Rede. Pietraß wollte dem großen schwedischen Kollegen, der nach einem Schlaganfall seit mehr als 20 Jahren halbseitig gelähmt ist und nicht mehr sprechen kann, frühere Begegnungen erinnernd, nachträglich zum 80. Geburtstag gratulieren. Er schildert seine Visite in Stockholm und auf Runmarö im Sommerhaus des Großvaters von Tranströmer und fügt einige persönliche Fotos bei. Pietraß verweist auch schon auf den Nobelpreis, dem Tranströmer mit „seiner wurzeltiefen, bildkühnen wie rätselreichen Dichtung“ und „seinem tapferen, die leibliche Malaise täglich besiegenden Leben“ zur Ehre gereichen würde.
Ebenfalls in den horen ein Porträt des „Langstreckenschreibers und poetischen Mystikers“ Günter Herburger, der im kommenden April 80 Jahre alt wird. Aus Isny im Allgäu stammend, ist er früh nach Paris ausgewichen, hat lange in München gelebt und wohnt nun in Berlin. Michael Braun lässt Herburgers assoziativ ausschweifende Gedichte, seine drei fabelhaften Birne-Kinderbücher aus der antiautoritären Zeit und sein episches Großprojekt, die Thuja-Trilogie, Revue passieren. In den frühen 80er Jahren kam bei Herburger eine Passion für den Extremlauf als unablässige Fluchtbewegung vor dem Wahnsystem Realität hinzu, als eine Art Therapie zur Vertreibung psychischer Verfinsterungen. So hat der Dichter, nach zahlreichen Marathons, sogar den Montblanc umkreist und die Wüste Mauretaniens durchmessen. Seine Erfahrungen hat er in drei hochpoetischen Laufbüchern festgehalten. „Ich war immer als Schriftsteller unterwegs, nicht als Karriereläufer. Ich fotografierte auch dabei“, erklärt er im horen-Gespräch mit Herbert Wiesner.
Zu erwähnen wären noch seine Text-Foto-Bücher oder Mikroromane Das Glück (1994), Die Liebe (1996) und Der Tod (2006), mit denen Herburger auratische Momentaufnahmen gelingen. Die Wirklichkeit, sagt dieser Vertreter eines magischen Realismus, „wollte ich immer verändern, mir zur Hoffnung. Also ich wollte schreiben, wie die Welt aussehen könnte.“
Im Mittelpunkt der aktuellen Ausgabe der Neuen Rundschau stehen Autoren der Beat-Generation wie Lawrence Ferlinghetti und Charles Bukowski, auch etwas Jüngere wie Sam Shepard und Raymond Carver. Sie alle hatten hierzulande in den 60er und 70er Jahren Einfluss auf die entstehende Underground-Literatur, wurden aber in der Folge wenig beachtet. Der 1938 geborene und schon 1988 an Lungenkrebs gestorbene Carver, der mit Short Stories berühmt wurde, ist in der Neuen Rundschau mit späten erzählenden Gedichten und lakonisch den Dingen zugewandten Alltagsversen wie den folgenden vertreten: „Mach was aus allem, das dich umgibt. / Dem sanften Regen / Draußen vorm Fenster, um damit anzufangen. / Der Zigarette zwischen meinen Fingern, / Den Füßen auf der Couch. / Dem leisen Sound von Rock-and-Roll, / Dem roten Ferrari in meinem Kopf. / Der Frau, die betrunken / In der Küche rumpoltert… / Mix alles zusammen, / Mach was draus.“
Anrührend auch die Geschichte, in der Carver erzählt, wie er als 18jähriger Botenjunge bei einem älteren Herrn etwas abliefern sollte und dabei zur Lyrik fand. Dort lag nämlich auf einem Tisch die Zeitschrift Poetry, und der Mann sagte, als er sein Interesse bemerkte, er könne die Schrift ruhig mitnehmen („Vielleicht schreibst du eines Tages selbst etwas…“), was der junge Carver auch tat mit dem Gefühl, sein Leben sei gerade dabei, sich „auf großartige Weise zu verändern.“
In einem längeren Gedicht schildert Carver sehr distanziert eine Lesung von Bukowski an der University of California um 1973. Wie es seine Art war, soff Bukowski Bier und Gin, schnitt schamlos auf und beleidigte die anwesenden Dozenten und Studenten: „Es ist nur ein echter Dichter hier im Raum heute abend / und das bin ich.“ An dieselbe Lesung erinnert sich auch Morton Marcus. Carver musste als Dozent Bukowski betreuen und wurde von ihm rüde gekränkt. Er habe Carvers Bedeutung überhaupt nicht erkannt, ihn vielmehr für einen kleinen Beamten gehalten, der Lyrik lehrt, aber nichts zu sagen hat.
Auch Bukowskis eigene Texte wirken heute, mit wenigen Ausnahmen, ziemlich angeberhaft und redundant. Von poetischer wie intellektueller Kraft, vom rebellischen Geist einfachster Sätze zeugt hingegen ein Manifest des 1919 geborenen Lawrence Ferlinghetti, der als „Vater der Beat-Generation“ gilt, enger Freund und Verleger Allen Ginsbergs: „Wenn du ein Dichter bist, dann erfinde eine Sprache, die jeder verstehen kann.“
Winfried Georg Sebald steht gegenwärtig – wieder einmal – im Fokus der Aufmerksamkeit mehrerer Zeitschriften ( Volltext, Neue Rundschau, Akzente, Kritische Ausgabe). Ein Grund ist der 10. Todestag des im Dezember 2001 bei einem Verkehrsunfall Umgekommenen, der heute besonders im englischsprachigen Raum als einer der größten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gilt. Auch in einem Redaktionsgespräch der Neuen Rundschau mit James Wood und Gregor Dotzauer über die „Kunst des Erzählens“ spielt Sebald die Hauptrolle als ein Autor von Romanen, an deren Ende man nicht das Gefühl hat, „jemanden kennengelernt zu haben.“ Im Gegenteil lassen Sebalds Figuren uns mit einem Rätsel zurück. Auch viele der Fotos, der er in seine Bücher eingefügt hat, haben – so James Wood – nichts mit den dargestellten Personen oder Orten zu tun, sie sind fiktiv. Im Gespräch wird dieses Verfahren einer literarischen Moderne zugeschrieben, die zusammen mit der psychologischen Figurenzeichnung erkennbare Charaktere, wie sie noch bei Balzac oder Fontane üblich waren, abgeschafft hat und sich eher an Autoren wie Robbe-Grillet orientiert.
Der junge britische Schriftsteller Luke Williams besuchte an der Universität in Norwich Sebalds letzte Schreibkurse und berichtet darüber anhand von Tagebuchnotizen aus dem Winter 2001. Sebald habe alle vorgelegten Texte einer strengen Sprachkritik unterzogen. Eine Geschichte des vielgepriesenen Ingo Schulze habe er als „plump, kunstlos, unpräzise“ zerrissen. Auch beim späten Günter Grass habe er „Schludrigkeiten“ ausgemacht. Gerade bei der Darstellung schrecklicher Ereignisse müsse man sich „ganz genau an die Tatsachen halten“, zugleich aber den „flachen, realistischen Stil“ vermeiden. Einmal gab er seinen Studenten den Rat: „Ich kann Sie nur ermutigen, soviel wie möglich zu stehlen. Niemand wird es merken.“ Knapp zwei Wochen nach Williams' letztem Tagebucheintrag starb Sebald.
Im Dezemberheft der Akzente finden sich auf 25 Seiten Gedichte aus Sebalds Nachlass. Der 1944 im Allgäu Geborene hat Zeit seines Lebens Gedichte geschrieben, aber nur einen Teil davon selbst veröffentlicht. Von den nun in den Akzenten zu lesenden Texten – teils epigramm-nahe Kurzgedichte, teils längere Erzählformen – stammen die frühesten aus den 60er Jahren, die letzten aus den späten 90ern. Man entdeckt dunkle Rätselsprüche, surreal anmutende Szenen, fixierte Augenblicke und poetische Reisenotizen.
Verena Lenzen analysiert mit wissenschaftlichem Scharfblick Sebalds geheimnisvolle Wort-Bild-Welten, am Beispiel seines letzten Romans Austerlitz. Die Schwarz-weiß-Fotos, befindet sie, spiegeln Sebalds „Erinnerungspoetik“ wider. Nie dokumentieren sie „die Wirklichkeit im Sinne eines naiven Beweisstücks.“ Sie sind vielmehr „der Antrieb zum Erzählen“ und ein „ungeheurer Appell.“ Gerade in ihrer Unschärfe bedeuten sie ein Territorium, „das zwischen dem Tod und dem Leben liegt.“
Auf Sebalds „Eigensinn“ weist einmal mehr sein ihm gegenüber erstaunlich kritischer Schüler Uwe Schütte hin (er hat das schon in der letzten Ausgabe von Volltext getan). Sebald habe nicht nur Lobeshymnen in aller Welt geerntet, sondern auch Feindschaften auf sich gezogen, vor allem durch seine literaturkritischen Schriften, seine oft als unwissenschaftlich angesehenen, mit moralischem Rigorismus geführten Attacken auf Autoren vornehmlich deutsch-jüdischer Herkunft wie Carl Sternheim, Alfred Döblin, Jurek Becker und besonders Alfred Andersch.
Im jüngsten Heft von Lettre International ist ein Gespräch von Frank M. Raddatz mit dem im vergangenen Oktober gestorbenen Medienphilosophen Friedrich Kittler über die „Metamorphosen der Liebe“ zu entdecken. Hatte sich Kittler früher ausgiebig mit der Technologie des Krieges beschäftigt, so wurde die Liebe als treibendes Motiv der Verwandlung zu seinem späten Thema, beginnend mit Homer, Aischylos, der Sappho und der Göttin Aphrodite, wie sie in deren Dichtungen als Liebende auftritt. Die Liebe zwischen den Göttern übt laut Kittler eine Art Ansteckung aus: „Wir Menschen wollen sie nachmachen.“ Die Idee, dass Liebe „Nachahmung der Götter“ ist, sei uns von der archaischen Dichtung der Griechen geschenkt worden.
Kittler geht davon aus, dass in der Geschichte der Liebe immer wieder „die Grundmotive der anfänglichen griechischen Kultur“ aufgerufen werden, freilich in verwandelter Gestalt, so im hohen Mittelalter mit Tristan und Isolde, im 18. Jahrhundert mit Goethes Werther, bei Richard Wagner im Ring des Nibelungen, schließlich bei Ingeborg Bachmann… Nur zu den monotheistischen Religionen passe die Liebe nicht recht.
die horen: Nr. 244, 2011
(Postfach 10 11 10, 27511 Bremerhaven), 328 S., 18,- €
Neue Rundschau : Heft 4, 2011
(Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main), 256 S., 12,- €
Akzente: Heft 6, Dezember 2011
(Postfach 860420, 81631 München), 7,90 €
Lettre International: Nr. 95, Winter 2011
(Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 11,- €.
Michael Buselmeier 18.01.2012
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Michael Buselmeier
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