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Mai 2012
Zählt zum Eigenen und Besonderen an der Kunst nicht gerade die Narration, die freie Erzählung der Welt? Auf dem heutigen Theater vertraut man ihr nicht mehr, auch im Roman weicht man seit längerem auf Montage und Zerstückelung aus, doch in Lettre International trifft man sie noch an, in großen Essays, die es schaffen, den Leser in ihre Bewegung einzubeziehen. Auch in der jüngsten Ausgabe dieser Zeitschrift begegnet man weit ausholenden Geschichten über „Menschen und Krisen“, „Kunst als Kapital“ oder über „Brot und Körper“. Das Brot, liest man dort, „ist älter als die Schrift.“ Wo und wann die erste Ähre wuchs, weiß niemand genau. Doch irgendwie hängt der Ursprung des Brotes mit der Entwicklung der Jäger und Sammler zu Sesshaften vor etwa 10.000 Jahren zusammen. Das Brot wurde zum Grundnahrungsmittel der Menschen, und was sie dazu aßen, war Beilage. In neuerer Zeit sind die Rollen vertauscht, und das Brot ist selbst zur Beilage geworden.
In Lettre findet man auch einen erhellenden Beitrag zur griechischen Schuldenkrise von Heinz A. Richter, dessen Quintessenz lautet: „Die Politiker der Europäischen Union begreifen nicht, dass ein Schuldenerlass und Finanzspritzen nur Symptome der Krise bekämpfen, nicht deren Ursache. Solange das Klientelsystem weiterbesteht, sind alle Hilfsgelder vergeudet, denn sie stabilisieren dieses System.“
Unter dem Titel „Der Müll von Neapel“ erzählt Sergio Benvenuto, ein in Lettre viel publizierender Psychoanalytiker, über seine Kindheit und Jugend in der „hässlichsten Stadt der Welt.“ In den 50er Jahren entsorgte man den Müll noch nicht in Plastikbehältern, sondern kippte ihn einfach auf die Straße, was bei längeren Streiks der Müllmänner den Eindruck machte, als hätte die ganze Stadt „ihre Eingeweide entleert.“ Doch war der Abfall, der Neapel damals heimsuchte, verglichen mit heute nicht sehr umfangreich. Ein Junge mit schmutzigen Kleidern, „spazzino“ genannt, schleppte ihn in einem großen braunen Sack davon. In den 60er Jahren kam der industrielle Müll dazu. Aus der Stadt der Lieder und Fischerboote war ein stinkendes Zentrum der Stahl- und Chemieproduktion geworden, aus dem Meer, an dem Cicero seine Villa errichten ließ, ein Abwasserbecken, in dem man nicht mehr baden konnte.
„Sieben wilde Weiber“ porträtiert der große alte (Fernseh-)Dokumentarist Georg Stefan Troller, auch ein Dauergast in Lettre. Darunter ist Helena Rubinstein, die „Kaiserin der Kosmetik“, eine durchrationalisierte Frau, die schon als Mädchen in Krakau ihre Geschäftstüchtigkeit bewies. Sodann Natalie Barney, die „Päpstin von Lesbos“, eine Amerikanerin in Paris, die den Dichter Ezra Pound gefördert und noch im wirren Alter betreut hat. Nicht zuletzt Wallis Simpson, die Herzogin von Windsor, wegen der Edward VIII. 1936 auf den britischen Thron verzichtete. Troller karikiert sie als „scharfzüngige Megäre“, von Möpsen umgeben. Trotz reichlicher Apanage von Königshof verlangte die Dame 1000 Dollar für das Interview und händigte Troller auch eine Quittung aus.
Von „anarchistischen Welten“ berichtet die jüngste Ausgabe der Wiener Zeitschrift Wespennest. Der von Ilija Trojanow verantwortete Schwerpunkt versammelt sehr unterschiedliche Beiträge, von der Notwendigkeit einer Demokratisierung der Wirtschaft über die westafrikanische Stadt Timbuktu und die selbstorganisierten Gesellschaften der Vorzeit bis zu einer „grünen Ökonomie“, die sich fundamental definiert. Um „grün“ zu sein, schreibt die indische Physikerin Vandana Shiva, müsse „die Wirtschaft zu ihrem angestammten Heim und ihrem Ursprung zurückkehren, zu Oikos, zur Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft.“ Denn wenn die Ökonomie gegen die Ökologie arbeite, münde sie in eine Klimakrise, in Wasserknappheit und Gefährdung der Artenvielfalt.
Etymologisch betrachtet heißt Anarchie Herrschaftsfreiheit; die Gesellschaft bestimmt gemeinsam alles. Man braucht keinen Staat, man rebelliert gegen jede Regierung …In seinem einführenden Aufsatz meint Trojanow den Anarchismus gegen seine Verächter in Schutz nehmen zu müssen und behauptet seine „fortwährende Aktualität“. Dabei ist der politische Anarchismus – sowohl die ukrainische Machno-Bewegung als auch der Anarcho-Syndikalismus der spanischen Landarbeiter – tragisch gescheitert an den etablierten Mächten, an der perfiden Politik von Stalinisten und Faschisten, aber auch an eigenen Unzulänglichkeiten. Und er war natürlich alles andere als gewaltfrei. Die Anarchisten haben Bomben gelegt, Banken ausgeraubt und Priester erschossen, wenn auch im Namen der Schwachen, für Autonomie und Gerechtigkeit.
In einem leicht moralisierenden Tonfall durchmisst Trojanow die Welt- wie die Literaturgeschichte auf der Suche nach anarchistischen Tätern und Denkern, wobei der Begriff an Trennschärfe verliert. Nicht jeder, der dem Kapitalismus kritisch gegenübersteht, hat auch etwas für Anarchie übrig. Und ob ein guter Poet etwas Anarchistisches in sich hegen sollte, ist zumindest fraglich. Der Abstand zwischen individual-anarchistischen Künstlern und syndikalistisch orientierten Bauern, die das Kollektiv- Eigentum auf Dorfebene anstrebten, hat sich im Spanischen Bürgerkrieg als schwer überbrückbar erwiesen. Kriegsteilnehmer wie George Orwell (Mein Katalonien), Carl Einstein und Ernest Hemingway haben das erfahren.
Den geheimnisvollen Titel Kultur & Gespenster trägt ein opulent aufgemachtes, geistig anregendes Magazin, das kürzlich zum 13. Mal, 300 Seiten stark, in Hamburg erschienen ist. Die Redaktion interessiert sich für philosophische und soziologische Fragen, widmet sich der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst und der Fotografie.
Pierangelo Maset und Daniela Steinert, ein Dozent und eine Studentin, beide mit hochschulpolitischen Erfahrungen, beklagen die „wahnwitzige Lage“ an den deutschen Universitäten, also die Ökonomisierung der Bildung und all die technokratischen Reformen, die uns die „unternehmerische Hochschule“ beschert haben - auch eine Folge der radikalen Forderungen von 1968, denn: „Der Kapitalismus hat die Wünsche nach Authentizität und Selbstverwirklichung sowie nach Leistungsgerechtigkeit und flachen Hierarchien aufgesogen.“ Auch mit den Studenten ist nicht mehr viel los, sie sind angepasst, haben eigenständiges Denken nicht gelernt.
So jammern die beiden Autoren seitenlang auf hohem Niveau. Tenor: Alles wird immer schlimmer durch Zentralisierung, Bürokratisierung, Controlling, die böse EU. Und weit und breit keine Bereitschaft zum Widerstand. Am Ende retten sich die Kritiker in die mehr als vage Hoffnung, es könnten sich „die wenigen Beherzten“, dem „Geist“ der Universität verpflichtet, „zu selbst organisierten Neugründungen“ aufraffen.
Dass Theodor W. Adorno ein einfühlsamer Briefpartner war, wusste ich schon vorher. Denn in Alexander Kluges Fünftem Buch, das in diesem Jahr erschienen ist, sind zwei erstaunliche, sehr persönliche Briefe des „alten Teddie“ an den „lieben Axel“ von 1967 abgedruckt. Kultur & Gespenster zeigt nun, wie Adorno in eben diesen 60er Jahren, auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Wirkung, mit einigen seiner Leser korrespondiert hat. In Faksimile sind dort, geistreich kommentiert von Philipp Felsch und Martin Mittelmeier, acht Briefe an Adorno sowie dessen Antworten zu lesen. Auch wenn ihm manche Zuschrift lästig gewesen sein mag, stets antwortet der berühmte Philosoph schnell und höflich, geradezu pflichtbewusst, etwa einer sehr alten Dame, die ihn an seine Knabenzeit erinnert hat, dabei vorsichtig Missverständnisse korrigierend. Ein längst verschollener Schulkamerad, der sich dem großen Mann gegenüber ein wenig aufspielt, wird vorwurfsvoll zurechtgewiesen, doch umgehend wird ihm auch, was rührend anmutet, ein Gesprächsangebot gemacht. Und eine ob der „Erkenntnis der totalen Negativität“ verzweifelte Studentin warnt Adorno vor Kurzschlusshandlungen, vor „Gedanken, für die ich mehr oder minder verantwortlich bin“, und schlägt zugleich ein Zusammentreffen vor.
Um 1965 tauchen im Auditorium die ersten kritischen Marx-Leser auf, Vorboten der Studentenrevolte. Einer von ihnen, Rudolph Bauer (was mag aus ihm geworden sein?), wendet sich an den Professor und spricht, ausgehend von Marx´ berühmter 11. Feuerbach-These, das prekäre Verhältnis von Theorie und Praxis an. Entgegen seiner Gewohnheit hat ihm Adorno keinen Antwortbrief geschickt, sondern seiner Nachfrage die komplette folgende Vorlesungsstunde gewidmet.
Auch die Zeitschrift Sinn und Form publiziert in ihrer jüngsten Ausgabe ein merkwürdiges Konvolut von Aufzeichnungen. Es handelt sich um insgesamt acht Gespräche, die der Heidelberger Arzt für „Innere und Erinnerungsmedizin“ Heinrich Huebschmann im September 1942 mit Geistesgrößen wie Eduard Spranger, Carl Friedrich und Viktor von Weizsäcker, Gustav von Bergmann und Theodor Litt geführt hat. Herausgegeben hat sie Wilhelm Rimpau.
Mitten im Krieg also reiste der junge Arzt durch Deutschland und konfrontierte seine Gesprächspartner mit seiner Galilei-Kritik, seiner abwehrenden Haltung gegenüber einer Naturwissenschaft, die das Messbare zum Hauptkriterium erhebt. Dabei orientierte sich Huebschmann an der „Heidelberger Schule“, deren Hauptvertreter Viktor von Weizsäcker die Beschränktheit des naturwissenschaftlichen Weltbilds herausgearbeitet hatte und grundsätzlich in jeder Krankheit etwas Seelisches sah. Huebschmanns Vorstellungen von einer „neuen Medizin“, die die Biographie und die Emotionen der Patienten mit einbeziehen sollte, bestimmten auch seine Habilitationsschrift über „Psyche und Tuberkulose“. Sie wurde 1952 von der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg abgelehnt. Ebenso erging es seinem Freund und Lehrer Wilhelm Kütemeyer.
Liest man die von Huebschmann unmittelbar nach den Gesprächen handschriftlich verfassten und später abgetippten Protokolle, erhält man einen Eindruck davon, was maßgebliche Wissenschaftler während der Hitlerzeit über Seele und Metaphysik, katholische Kirche und Psychotherapie dachten. Vom aktuell tobenden Krieg, vom Nationalsozialismus ist nicht die Rede. Auch Huebschmann, der doch zum Widerspruch neigte und etwas Missionarisches an sich hatte, spricht diese Fragen nicht an, ob aus Vorsicht oder weil ihm das Politische eher fremd war, muss offen bleiben.
Lettre International: Nr. 96, Frühjahr 2012
(Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 11,- €.
Wespennest: Nr. 162, Mai 2012: Heft 1, Januar 2012
(Rembrandtstraße 31/4, A-1020 Wien), 12,- €
Kultur & Gespenster: Nr. 13, 2012
(Gefionstraße 16, 22769 Hamburg), 12,- €
Sinn und Form: Heft 2, 2012
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9,- €
Michael Buselmeier 16.05.2012
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Michael Buselmeier
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