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Januar 2014
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Zeitschriftenlese  –  
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Ein wahrhaft erhellender Essay des emeritierten Züricher Germanisten Peter von Matt über den mehrdeutigen Begriff „Klassiker“ eröffnet das jüngste Heft der Ak­zente – ein be­herz­tes Plädoyer für die klassi­sche deut­sche Dich­tung, ur­sprüng­lich gehalten vor Theater­leuten, die auf solche Tradi­tionen schon länger nicht mehr viel zu geben scheinen.
  Peter von Matt unterscheidet zwischen der deutschen Klassik als „Monument“ und als „Ereignis“. Im medialen Main­stream werde sie heute vorwiegend als „Monu­ment mit auto­ritärem An­spruch“ erlebt, gegen das sich die freiheitlichen Geister wehren müssten. Doch was geschehe, wenn es dieses „Schreckgebilde aus kaltem Marmor“ gar nicht mehr gebe, das „bilder­stürmeri­sche Bedürf­nis“ zum Beispiel in den Theatern aber fort­bestehe?
  Mit „Klassik als Ereignis“ meint von Matt die Jahre zwischen 1770 und 1810, in denen die deutsche Sprache zu einer euro­päi­schen Kultur­sprache wurde, ein tat­säch­lich ungeheurer Vorgang in der Ge­schichte, ver­bunden mit einer neuen Anthro­pologie. Wer ange­sichts so leben­diger Dramen wie Torquato Tasso oder Penthe­silea deren Sprache für „er­starrt“ erkläre, habe – so von Matt – nur im Sinn, die Rede­weisen einzuebnen, den hohen wie den mittleren Stil zu verteu­feln und nur noch den nie­deren, derben gelten zu lassen. Eine lite­rarische Sprache aber, also auch eine Bühnen­sprache, „die nicht mehr über alle drei Register verfügt, ist ampu­tiert.“ Man zerstöre die Poly­phonie (etwa Shakespeares), und was übrig bleibe, werde banal – ein durch­gehender All­tagston, oft mit audio­visuellen Beigaben versehen.
  An den großen irischen Dichter und Nobel­preis­träger Seamus Heaney, der im ver­gan­genen August gestorben ist, erinnert der Lyriker Jan Wagner (eben­falls in den Akzen­ten). Für Heaney wie auch für seinen Freund Joseph Brodsky sei das Gedicht „nichts Geringeres als die höchste Form mensch­licher Rede“ gewesen. Dabei wuss­ten beide früh, „dass keines­wegs das Außer­gewöhn­liche das Mate­rial für große Gedichte liefert“, sondern im Gegen­teil das, „was direkt vor der Nase liegt“, in Heaneys Fall das Land­leben seiner nord­iri­schen Heimat mit ihren Gerü­chen und Geräu­schen, die er mit Glanz versah. Etwa in dem Gedicht The Tollund Man, das am Anfang einer Reihe von Poemen über Moor­leichen steht und so be­ginnt: „Eines Tages werde ich nach Aarhus fahren / Um seinen torfbraunen Kopf zu sehen, / Die sanften Schoten seiner Augen­lider, / Seine spitze Leder­kappe.“
  Die jüngste Ausgabe der horen ist ganz dem mittel­alterlichen Nibelun­genlied (Der Nibe­lunge Nôt) gewidmet, auf den ersten Blick über­raschend, denn dieses deut­sche Na­tional­epos passt eigentlich nicht so recht in unsere po­li­tisch über­korrek­te Kultur­land­schaft. Seit 1945 sind die Deut­schen keine Krieger mehr, man hat sie zu fried­fertigen Konsu­menten umerzogen, und der Todes­kult der Burgunden dürfte ihnen sehr fremd gewor­den sein.
  Detlef Goller und Nora Gomringer haben eine Anthologie zusammengestellt, die in meinen Augen zwie­spältig wirkt. Nur ein kleine­rer Teil der Beiträger setzt sich ernst­haft mit dem alten Mythos aus­einander, ver­sucht, dem Geist der Vorlage, seiner dunk­len Größe, der ver­schüt­teten Tradi­tion gerecht zu werden. Es domi­nieren Spa­ßi­ges und Unter­haltsames, Parodie und Ope­rette. Viel Raum wird den TV-kom­pa­tib­len Nibe­lungen-Fest­spielen in Worms und anderen Provinz­akti­vitäten zuge­standen, allzu breit sind die jour­na­listi­schen Elo­gen geraten. Jan Drees ergeht sich in schalen Ver­gleichen zwischen Der Nibelunge Nôt und der Body-Bilding-Szene, zwischen dem Turnier­sieger Sieg­fried und dem Boxwelt­meister Wladimir Klitsch­ko. Es gibt auch einige schwache Sieg­fried-Ge­dichte. Über Versbau, Strophe und Reim im Nibe­lungen­lied, über die Härte der Sprache und die Sen­sibilität der Gestik erfährt man nichts. Und keiner in­teres­siert sich für den Spielmann Volker von Alzey.
  Bleiben immerhin einige Texte, die sich dem archaischen Mythos und dessen Verwand­lungen subs­tan­tiell zu­wenden. In ihrer Knapp­heit über­zeugen die Anmer­kungen des Schrift­stel­lers Rolf Schneider zum National­epos, zu Fried­rich Heb­bels Nibe­lungen und Richard Wagners Ring. Aus Hagens und Brün­hilds Per­spektive werden von Peter Braun und Maria Wüsten­hagen Geschich­ten erzählt, die – vom uns über­liefer­ten Mythos ab­weichend – sich teilweise auf die nordische Edda berufen können.
  Auch avancierte Lyriker wie Ulrike Draesner und Hans Thill bemühen sich um die Ak­tualität des alten Textes, indem sie dessen Sprach­mate­rial montieren und vari­ieren. Kriem­hilds Fal­ken­traum klingt bei Draesner so: „dass sie ihn schlü­gen – zwei adler dass er / gecrosst ge­kreuzt dass sie ihn niemals / wäre er gesund schlügen ohne makel / dass sie ihn sich zog wer war sie da / falknerin in einem traum …“ Auch in Thills Hagen-Gedicht wird die archa­ische Zeit der Völker­wanderung in der Wieder­holung hörbar: „Hols aus dem Auge. / Hols aus der Elle. / Hols aus dem hohlen Zahn …“
  Im einleitenden Gespräch plaudert Felicitas Hoppe munter psycho­logi­sie­rend über die Sagenhelden, die selbst ganz ohne ver­ständnis­volle Psycho­logie aus­kommen. Auch sie in­teres­siert sich be­son­ders für Kriem­hild und Hagen: „Sie sind an­einan­der gebun­den bis zum Schluss, bis zum letzten Kopf! Am meisten bedaure ich Etzel, Hand­langer einer Tragö­die, von der er nicht profitieren kann.“
  Elias Canetti war ein großer Aphoris­tiker („Den Tieren gegenüber ist Jeder Nazi.“) Es macht Freude, in seinen zahlreichen Auf­zeich­nungen zu stöbern, scharf formu­lierte, tief­gründig kriti­sche, oft auch bos­hafte Sätze, selbst über Vertraute und Freunde. So notiert er über Max Frisch an­lässlich seines Todes, er habe ihm „als Schrift­steller nichts bedeutet, überhaupt nichts“, ja er habe ihn „nie wirklich ernst genommen.“ Frischs Holozän-Buch habe ihn „angewidert“, ein „Machwerk“, über das er nichts zu sagen habe.
  Seit 1942 bis zu seinem Tod im Jahr 1994 hat Canetti an einem Buch gegen den Tod gearbeitet, das 2014 endlich bei Hanser er­scheinen wird, Notizen ohne jeden Plan und Zu­sammen­hang. Aus­züge kann man schon jetzt im Dezember­heft von Sinn und Form lesen. Zu Anfang, 1942, nimmt der 37jährige Canetti den Mund sehr voll. Er werde in seinem Herzen „die Waffe häm­mern“, die den Tod besiege. „Ich muss ihn packen, wo ich es kann, und da und dort in die erst­besten Sätze nageln.“ Er erinnert sich seiner Mutter, die fünf Jahre zuvor gestor­ben ist: „Ich will sie wieder leben­dig machen. Wo finde ich ihre Teile? Am meisten von ihr steckt noch in meinen Brü­dern und mir. Aber das ist nicht genug. Ich will je­den Menschen finden, der sie ge­kannt hat. Ich will alle Worte wieder­haben, die sie je gesagt hat. Ich muss ihre Orte be­treten und ihre Blumen riechen …“
  Um 1980 ändert sich Canettis Einstellung fundamental. Er fordert nun „Gerechtigkeit für den Tod“. Er will „die Aus­ein­ander­setzung mit ihm voll­ständig und nicht bloß mein früheres parteiisches Gekläff.“ Er ver­spricht sogar, „jeden Freund des Todes zu Wort kommen zu lassen“ und erklärt voll­mundig: „Ich muss mich ver­ändern. Es mag lächerlich sein, das mit fünfund­siebzig zu sagen. Aber erst jetzt weiß ich, dass ich mich ver­ändern muss und wie sehr.“
  Im jüngsten Heft der Grazer manuskripte widmet Peter Hamm „Elias Canetti und seinen Frauen“ einen luziden Essay. Canetti, der in seinem aus­sichts­losen Kampf gegen den Tod an Don Quijote erinnere, sei alles andere als ein edler Mensch gewe­sen, was nirgendwo so evi­dent werde wie in den Zeugnissen seiner diversen Frauen­beziehungen, in denen er uns „ein geradezu ab­schre­ckendes Bild hem­mungs­loser Egomanie und be­rechnender Falschheit“ biete, das deutlich in Kontrast stehe zur Botschaft seiner großen Bücher. Manche Zeit­genossen hielten ihn deshalb für ein herzloses kleines „Monster“ mit über­stei­gertem Selbst­bewusst­sein. Im Brief­wech­sel etwa mit der Malerin Marie-Louise Motesiczky zeige er sich, so Hamm, „von einer wahr­lich absto­ßenden Seite.“ Man dürfe die Dichter eben nicht kennen, heißt es in einer späten Auf­zeich­nung Canettis; „lesen, aber nicht kennen.“
  Übrigens haben sich laut Hamm nicht alle Bücher Canettis gleich gut gehalten. Bleiben würden wohl die Auf­zeich­nun­gen, die Canetti ein Leben lang seinen Notiz­büchern anver­traute. Auch seine wunder­baren auto­bio­graphi­schen Werke Die geret­tete Zunge, Das Augenspiel, Die Fackel im Ohr und sein Haupt- und Lebens­werk, der Groß­essay Masse und Macht, faszi­nierten bis heute, während jenes Buch, das seinen Ruhm begründete, der Roman Die Blendung, am schnells­ten gealtert sei, heute „seltsam blutlos“ wirke und – wie Canettis Theater­stücke – „unter der Schwäche des Allego­rischen“ leide.
  Im gleichen Heft der manuskripte finden sich wieder einmal, nach längerem Schwei­gen, acht Gedichte von Peter Hamm, sehr persön­liche Liebes- oder besser Klage­poeme, in ein­fache Formen gefasst. Sie zeugen vom Ver­lassen­sein im Alter, von Schlaf­losig­keit, Melan­cholie und Todesfurcht: „Niemand war es, der aus der Menge / auf mich zutrat und flüs­terte: du bist es, / dich habe ich aus­ersehen …/ Niemand war es, der sich löste aus meinem Arm / am Morgen, niemand, dem ich nachsah / in alle Ewigkeit.“
  Von Peter Hamm stammt auch ein schöner Porträt­film über Ingeborg Bachmann. In Der Literatur­bote berichtet Eva Demski, wie sie im Jahr 1960 als 16jährige zu einer Frankfurter Lesung der Bach­mann ging. Die hielt die Augen ge­senkt und flüs­terte ihre Verse, es war „ein hohes, klingendes Flüstern, Schattn, Rosn, Schattn.“ Und sie ver­mittelte so der Schülerin Eva Demski „das Gefühl des Ein­gew­eiht­seins. Man war besser als die ande­ren, wenn man ihrem hohen Flüs­tern zu­hörte.“ Inge­borg Bach­mann sei „prin­zes­sinnen­haft“ gewe­sen, „aber mit ge­flickten Strümpfen.“


Akzente: Heft 6, Oktober 2013   externer Link
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.

die horen: Ausgabe 252, 2013   externer Link
(Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 14,- €.

Sinn und Form: Heft 6, 2013   externer Link
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9,– €.

manuskripte: Nr. 202, Dezember 2013   externer Link
(Sackstraße 17, A-8010 Graz), 11,70 €.

Der Literaturbote: Nr. 111, November 2013   externer Link
(Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt a.M.), 5,- €.

Michael Buselmeier   15.01.2014        

 

 
Michael Buselmeier
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