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Januar 2014
Ein wahrhaft erhellender Essay des emeritierten Züricher Germanisten Peter von Matt über den mehrdeutigen Begriff „Klassiker“ eröffnet das jüngste Heft der Akzente – ein beherztes Plädoyer für die klassische deutsche Dichtung, ursprünglich gehalten vor Theaterleuten, die auf solche Traditionen schon länger nicht mehr viel zu geben scheinen.
Peter von Matt unterscheidet zwischen der deutschen Klassik als „Monument“ und als „Ereignis“. Im medialen Mainstream werde sie heute vorwiegend als „Monument mit autoritärem Anspruch“ erlebt, gegen das sich die freiheitlichen Geister wehren müssten. Doch was geschehe, wenn es dieses „Schreckgebilde aus kaltem Marmor“ gar nicht mehr gebe, das „bilderstürmerische Bedürfnis“ zum Beispiel in den Theatern aber fortbestehe?
Mit „Klassik als Ereignis“ meint von Matt die Jahre zwischen 1770 und 1810, in denen die deutsche Sprache zu einer europäischen Kultursprache wurde, ein tatsächlich ungeheurer Vorgang in der Geschichte, verbunden mit einer neuen Anthropologie. Wer angesichts so lebendiger Dramen wie Torquato Tasso oder Penthesilea deren Sprache für „erstarrt“ erkläre, habe – so von Matt – nur im Sinn, die Redeweisen einzuebnen, den hohen wie den mittleren Stil zu verteufeln und nur noch den niederen, derben gelten zu lassen. Eine literarische Sprache aber, also auch eine Bühnensprache, „die nicht mehr über alle drei Register verfügt, ist amputiert.“ Man zerstöre die Polyphonie (etwa Shakespeares), und was übrig bleibe, werde banal – ein durchgehender Alltagston, oft mit audiovisuellen Beigaben versehen.
An den großen irischen Dichter und Nobelpreisträger Seamus Heaney, der im vergangenen August gestorben ist, erinnert der Lyriker Jan Wagner (ebenfalls in den Akzenten). Für Heaney wie auch für seinen Freund Joseph Brodsky sei das Gedicht „nichts Geringeres als die höchste Form menschlicher Rede“ gewesen. Dabei wussten beide früh, „dass keineswegs das Außergewöhnliche das Material für große Gedichte liefert“, sondern im Gegenteil das, „was direkt vor der Nase liegt“, in Heaneys Fall das Landleben seiner nordirischen Heimat mit ihren Gerüchen und Geräuschen, die er mit Glanz versah. Etwa in dem Gedicht The Tollund Man, das am Anfang einer Reihe von Poemen über Moorleichen steht und so beginnt: „Eines Tages werde ich nach Aarhus fahren / Um seinen torfbraunen Kopf zu sehen, / Die sanften Schoten seiner Augenlider, / Seine spitze Lederkappe.“
Die jüngste Ausgabe der horen ist ganz dem mittelalterlichen Nibelungenlied ( Der Nibelunge Nôt) gewidmet, auf den ersten Blick überraschend, denn dieses deutsche Nationalepos passt eigentlich nicht so recht in unsere politisch überkorrekte Kulturlandschaft. Seit 1945 sind die Deutschen keine Krieger mehr, man hat sie zu friedfertigen Konsumenten umerzogen, und der Todeskult der Burgunden dürfte ihnen sehr fremd geworden sein.
Detlef Goller und Nora Gomringer haben eine Anthologie zusammengestellt, die in meinen Augen zwiespältig wirkt. Nur ein kleinerer Teil der Beiträger setzt sich ernsthaft mit dem alten Mythos auseinander, versucht, dem Geist der Vorlage, seiner dunklen Größe, der verschütteten Tradition gerecht zu werden. Es dominieren Spaßiges und Unterhaltsames, Parodie und Operette. Viel Raum wird den TV- kompatiblen Nibelungen-Festspielen in Worms und anderen Provinzaktivitäten zugestanden, allzu breit sind die journalistischen Elogen geraten. Jan Drees ergeht sich in schalen Vergleichen zwischen Der Nibelunge Nôt und der Body-Bilding-Szene, zwischen dem Turniersieger Siegfried und dem Boxweltmeister Wladimir Klitschko. Es gibt auch einige schwache Siegfried-Gedichte. Über Versbau, Strophe und Reim im Nibelungenlied, über die Härte der Sprache und die Sensibilität der Gestik erfährt man nichts. Und keiner interessiert sich für den Spielmann Volker von Alzey.
Bleiben immerhin einige Texte, die sich dem archaischen Mythos und dessen Verwandlungen substantiell zuwenden. In ihrer Knappheit überzeugen die Anmerkungen des Schriftstellers Rolf Schneider zum Nationalepos, zu Friedrich Hebbels Nibelungen und Richard Wagners Ring. Aus Hagens und Brünhilds Perspektive werden von Peter Braun und Maria Wüstenhagen Geschichten erzählt, die – vom uns überlieferten Mythos abweichend – sich teilweise auf die nordische Edda berufen können.
Auch avancierte Lyriker wie Ulrike Draesner und Hans Thill bemühen sich um die Aktualität des alten Textes, indem sie dessen Sprachmaterial montieren und variieren. Kriemhilds Falkentraum klingt bei Draesner so: „dass sie ihn schlügen – zwei adler dass er / gecrosst gekreuzt dass sie ihn niemals / wäre er gesund schlügen ohne makel / dass sie ihn sich zog wer war sie da / falknerin in einem traum …“ Auch in Thills Hagen-Gedicht wird die archaische Zeit der Völkerwanderung in der Wiederholung hörbar: „Hols aus dem Auge. / Hols aus der Elle. / Hols aus dem hohlen Zahn …“
Im einleitenden Gespräch plaudert Felicitas Hoppe munter psychologisierend über die Sagenhelden, die selbst ganz ohne verständnisvolle Psychologie auskommen. Auch sie interessiert sich besonders für Kriemhild und Hagen: „Sie sind aneinander gebunden bis zum Schluss, bis zum letzten Kopf! Am meisten bedaure ich Etzel, Handlanger einer Tragödie, von der er nicht profitieren kann.“
Elias Canetti war ein großer Aphoristiker („Den Tieren gegenüber ist Jeder Nazi.“) Es macht Freude, in seinen zahlreichen Aufzeichnungen zu stöbern, scharf formulierte, tiefgründig kritische, oft auch boshafte Sätze, selbst über Vertraute und Freunde. So notiert er über Max Frisch anlässlich seines Todes, er habe ihm „als Schriftsteller nichts bedeutet, überhaupt nichts“, ja er habe ihn „nie wirklich ernst genommen.“ Frischs Holozän-Buch habe ihn „angewidert“, ein „Machwerk“, über das er nichts zu sagen habe.
Seit 1942 bis zu seinem Tod im Jahr 1994 hat Canetti an einem Buch gegen den Tod gearbeitet, das 2014 endlich bei Hanser erscheinen wird, Notizen ohne jeden Plan und Zusammenhang. Auszüge kann man schon jetzt im Dezemberheft von Sinn und Form lesen. Zu Anfang, 1942, nimmt der 37jährige Canetti den Mund sehr voll. Er werde in seinem Herzen „die Waffe hämmern“, die den Tod besiege. „Ich muss ihn packen, wo ich es kann, und da und dort in die erstbesten Sätze nageln.“ Er erinnert sich seiner Mutter, die fünf Jahre zuvor gestorben ist: „Ich will sie wieder lebendig machen. Wo finde ich ihre Teile? Am meisten von ihr steckt noch in meinen Brüdern und mir. Aber das ist nicht genug. Ich will jeden Menschen finden, der sie gekannt hat. Ich will alle Worte wiederhaben, die sie je gesagt hat. Ich muss ihre Orte betreten und ihre Blumen riechen …“
Um 1980 ändert sich Canettis Einstellung fundamental. Er fordert nun „Gerechtigkeit für den Tod“. Er will „die Auseinandersetzung mit ihm vollständig und nicht bloß mein früheres parteiisches Gekläff.“ Er verspricht sogar, „jeden Freund des Todes zu Wort kommen zu lassen“ und erklärt vollmundig: „Ich muss mich verändern. Es mag lächerlich sein, das mit fünfundsiebzig zu sagen. Aber erst jetzt weiß ich, dass ich mich verändern muss und wie sehr.“
Im jüngsten Heft der Grazer manuskripte widmet Peter Hamm „Elias Canetti und seinen Frauen“ einen luziden Essay. Canetti, der in seinem aussichtslosen Kampf gegen den Tod an Don Quijote erinnere, sei alles andere als ein edler Mensch gewesen, was nirgendwo so evident werde wie in den Zeugnissen seiner diversen Frauenbeziehungen, in denen er uns „ein geradezu abschreckendes Bild hemmungsloser Egomanie und berechnender Falschheit“ biete, das deutlich in Kontrast stehe zur Botschaft seiner großen Bücher. Manche Zeitgenossen hielten ihn deshalb für ein herzloses kleines „Monster“ mit übersteigertem Selbstbewusstsein. Im Briefwechsel etwa mit der Malerin Marie-Louise Motesiczky zeige er sich, so Hamm, „von einer wahrlich abstoßenden Seite.“ Man dürfe die Dichter eben nicht kennen, heißt es in einer späten Aufzeichnung Canettis; „lesen, aber nicht kennen.“
Übrigens haben sich laut Hamm nicht alle Bücher Canettis gleich gut gehalten. Bleiben würden wohl die Aufzeichnungen, die Canetti ein Leben lang seinen Notizbüchern anvertraute. Auch seine wunderbaren autobiographischen Werke Die gerettete Zunge, Das Augenspiel, Die Fackel im Ohr und sein Haupt- und Lebenswerk, der Großessay Masse und Macht, faszinierten bis heute, während jenes Buch, das seinen Ruhm begründete, der Roman Die Blendung, am schnellsten gealtert sei, heute „seltsam blutlos“ wirke und – wie Canettis Theaterstücke – „unter der Schwäche des Allegorischen“ leide.
Im gleichen Heft der manuskripte finden sich wieder einmal, nach längerem Schweigen, acht Gedichte von Peter Hamm, sehr persönliche Liebes- oder besser Klagepoeme, in einfache Formen gefasst. Sie zeugen vom Verlassensein im Alter, von Schlaflosigkeit, Melancholie und Todesfurcht: „Niemand war es, der aus der Menge / auf mich zutrat und flüsterte: du bist es, / dich habe ich ausersehen …/ Niemand war es, der sich löste aus meinem Arm / am Morgen, niemand, dem ich nachsah / in alle Ewigkeit.“
Von Peter Hamm stammt auch ein schöner Porträtfilm über Ingeborg Bachmann. In Der Literaturbote berichtet Eva Demski, wie sie im Jahr 1960 als 16jährige zu einer Frankfurter Lesung der Bachmann ging. Die hielt die Augen gesenkt und flüsterte ihre Verse, es war „ein hohes, klingendes Flüstern, Schattn, Rosn, Schattn.“ Und sie vermittelte so der Schülerin Eva Demski „das Gefühl des Eingeweihtseins. Man war besser als die anderen, wenn man ihrem hohen Flüstern zuhörte.“ Ingeborg Bachmann sei „prinzessinnenhaft“ gewesen, „aber mit geflickten Strümpfen.“
Akzente: Heft 6, Oktober 2013
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.
die horen: Ausgabe 252, 2013
(Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 14,- €.
Sinn und Form: Heft 6, 2013
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9,– €.
manuskripte: Nr. 202, Dezember 2013
(Sackstraße 17, A-8010 Graz), 11,70 €.
Der Literaturbote: Nr. 111, November 2013
(Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt a.M.), 5,- €.
Michael Buselmeier 15.01.2014
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Michael Buselmeier
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