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September 2014
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Zeitschriftenlese  –  
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Seit etwa 30 Jahren kehrt der mittlerweile 82jährige Filmemacher Edgar Reitz mit seiner legendären „Heimat“-Saga immer wieder in den Huns­rück zurück, wo er 1932 geboren wurde. 1984 war die „erste Hei­mat“ zu sehen, 1992 die „zweite“ (die vor­wie­gend in München spielt) und 2004 die „dritte“, schwäche­re. Mit dem 2013 unter dem Titel „Die andere Heimat“ fertig­gestell­ten vier­stün­digen Kino­film befin­den wir uns wieder in dem Dorf Schab­bach und bei der Familie Simon. Die Hand­lung spielt dies­mal in den Jahren 1842/43 und damit etwa 80 Jahre vor der „ersten Heimat“. Hun­gers­nöte, Ab­gaben und die Willkür der Herrschen­den zwingen viele Bewoh­ner des Huns­rück, ihre Heimat zu ver­lassen und vor­wie­gend nach Brasilien aus­zu­wan­dern. Alles ist auf Ab­schied ein­gestellt.
  In der Zeitschrift Sinn und Form findet sich ein erhellendes Gespräch, das Ralph Schock ursprünglich für den Saar­ländi­schen Rundfunk mit dem Schriftsteller Gert Heiden­reich über „Die andere Heimat“ geführt hat. Heiden­reich, der am Dreh­buch mit­geschrieben hat, berichtet anschau­lich über die Ent­stehung des Films. Es gab zunächst nur ein Treatment von Reitz und ein paar Figuren, aber noch keine Hand­lung, erst recht keine Dialoge. Doch es gab erstaunlich detail­lierte Akten aus der be­nach­barten baye­rischen Pfalz über die Lebens­gewohn­heiten, Krank­heiten, den Alltag der kleinen Leute Mitte des 19. Jahr­hunderts, Einzel­heiten, die sich leicht auf den Huns­rück über­tragen ließen und nun fiktiona­lisiert werden mussten.
  Bevor es ans Drehbuch ging, bat Reitz Heidenreich, „Die andere Heimat“ als Er­zäh­lung auf­zu­schreiben. 130 Seiten stark und mit Rück­blen­den ver­sehen, unter­schei­det sie sich vom späteren Drehbuch, das die Ge­schichte archa­isch-linear erzählt. Auch die Figuren sind an­ders ge­wichtet. Jacob, der Träumer und Privat­gelehr­te, der – ob­wohl er die In­dianer­sprachen im Selbst­studium gelernt hat – nie nach Brasilien kommt, dafür in Schab­bach die Schmiede über­nehmen muss, wird erst im Film zur Haupt­figur.
  Im Gespräch mit Ralph Schock entsteht ein lesenswerter Bericht über die geglückte Zusammenarbeit zweier Autoren mit dem Ergebnis eines gemeinsam verfassten Drehbuchs. Die Auswahl der (Laien-)Schauspieler, Regie und Schnitt hat Reitz allein besorgt.
  Im Augustheft des Merkur fand ich die Vorstellungsrede, die die Literatur­wissen­schaft­lerin Silvia Boven­schen als Neumit­glied bei der Früh­jahrs­tagung der Deut­schen Aka­demie für Sprache und Dich­tung im Mai dieses Jahres gehalten hat. Eine perfekte Selbst­dar­stel­lung im Präsens, locker und sprach­lich elegant, ein Leben nach­zeichnend, das gespickt ist mit „Körper­kata­stro­phen“ und geis­tigen Triumphen. Ihren Krank­heiten – sie leidet schon früh an Mul­tipler Sklerose, später auch an Krebs – tritt Boven­schen scheinbar kühl, fast lässig entgegen, mit Ironie und Lakonie, stets über­legen und nie vom Schmerz überwältigt; eine strenge, hoch kontrollierte Person. Typisch für sie auch die leicht­hin ein­ge­streuten Ausrufe wie „So eine Teufelei“ oder „Teuflisch gut“ oder „Unheilbar. Aha.“
  1946 geboren und in privilegierten Frankfurter Ver­hält­nissen auf­gewachsen, liest Silvia Boven­schen, auch der häufigen Kran­ken­haus-Aufent­halte wegen, mehr als andere Kinder. Sie ist eine schlechte Schülerin, will zum Theater. Studiert dann bei Theodor W. Adorno, dessen Intel­lektua­lität sie faszi­niert. Sie neigt zur Stu­denten­revolte, bleibt aber, als „Bourgeois“ verdächtig, eher randständig (so behauptet sie). Der femi­nistischen Bewegung zählt sie sich zu, „aber doch auch nicht“. Sie studiert Germanistik, promoviert 1977 mit einer viel­beach­teten Arbeit über „Die imagi­nierte Weib­lich­keit“, muss den Tod der Eltern ver­arbei­ten. Sie unterrichtet an der Uni­versi­tät Frankfurt, schreibt Essays und Erzäh­lungen, auch erfolgreiche Bücher; dazwi­schen Ope­rationen. Ihr letzter Roman „Nur Mut“ aus dem Jahr 2013 handelt in grimmi­ger Heiter­keit vom Altern und Sterben, wovon sie gewiss viel ver­steht.
  Auch Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach und Autor eines monumentalen Werks über „Stefan Georges Nachleben“, bevorzugt (selbst-)ironische Töne. Im Septemberheft des Merkur schildert er inspiriert sein „Wie­der­sehen mit den siebziger Jahren“, die für den 1950 Geborenen vor allem „wilde Jahre des Lesens“ waren. Den jungen Raulff, der ein ambi­tionierter Theorie­freak war, zog es vom kleinbürgerlichen Marburg mit seiner DKP-orientierten Intelligentia nach Paris. Die Stadt glich damals – so Raulff – noch in vielen Zügen der­jenigen, die Walter Benjamin beschrieben hat; es war „eine ziemlich dreckige Stadt, und im Sommer roch sie auch so.“ Die sani­täre Lage des Quar­tier Latin ließ den deutschen Studenten kalt, aber er fand schnell heraus, „dass sich die intel­lektuel­len Struk­turen des Viertels verändert hatten: Jetzt waren es die neuen Intellektuellen, die den Ton angaben.“ Statt Sartre und Camus die Strukturalisten und die Semiotiker.
  Raulff hört, ganz der Droge Theorie ergeben, Roland Barthes, den „Apostel“ des Strukturalismus und berühmten Lite­ratur­kritiker, besucht die Vor­lesungen des „Zaube­rers“ Michel Foucault, die in Paris ein mondänes Ereignis waren, studiert Texte von Gilles Deleuze, Felix Guattari und Jacques Derrida, die häufig noch gar nicht auf Deutsch vorlagen. Worin bestand nun der eigen­tümliche Reiz, der von den franzö­sischen Theore­tikern aus­ging? fragt Raulff. Wenn man antwortete, „ihr Reiz habe gerade in ihrer Unverständlichkeit gelegen“, gäbe man nach­träg­lich den erbitterten Kritikern Recht, die das neue franzö­sische Denken „in die Ecke des Irrationalismus“, ja der Konservativen Revolution stellten.
  „Wir“, schreibt Raulff nicht ohne Stolz, waren „aus der Kohorte der Neomarxisten ausge­schwenkt“; „uns hatte die Lektüre der Struk­tura­listen Wege zum freien Denken gewie­sen.“ Durch Foucault habe er einen „neuen Stil histo­rischer Arbeit, der Lektüre ver­ges­sener Autoren und über­sehener Quellen kennen­gelernt“, bekennt der deutsche Histo­riker noch heute empha­tisch.
  Von der erstaun­lichen Schrift­stellerin Ilse Helbich, die in der Juliausgabe der öster­reichi­schen Zeit­schrift Literatur und Kritik aus­führ­lich zu Wort kommt, wusste ich bis­lang nichts. Sie wurde 1923 in Wien geboren, studierte Ger­manis­tik, gebar fünf Kinder und arbeitete neben­her als Publi­zistin. Erst Ende der 80er Jahre begann sie, Prosa zu schreiben; mit achtzig ver­öffent­lich­te sie ihr erstes Buch, den Roman „Schwal­ben­schrift“. Zu ihrem 90. Geburts­tag erschien im ver­gan­genen Jahr das Buch ihrer Kindheit, „Vineta“.
  Seither arbeitet Ilse Helbich an einem Werk über „Das hohe Alter“, aus welchem Lite­ratur und Kritik einen längeren Auszug druckt. Darin schildert sie souverän und differen­ziert letzte Spazier­gänge im Herbst, Besuche der Kinder und Enkel, Erin­nerungen an die Kind­heit, immer wieder Träume, auch Re­fle­xionen über das Alter und über Seins­fragen: Was hat es zum Bei­spiel mit diesem „Anderen“ auf sich, für das sie keinen Namen weiß. Es das „Religiöse“ oder gar „Gott“ zu nennen, würde es einengen.
  Über den körperlichen Verfall, den Ilse Helbich an sich selbst beobachtet, urteilt sie hart. Die Greise, sagt sie, sind für die Mit­menschen „eine Last“: „Die unglaubliche Hässlichkeit des Alters. Ekel­erregend die ver­krüp­pelten, schwie­ligen Füße, eine Kari­katur meiner selbst: der neue Watschel­gang. Im ge­schrumpf­ten Kiefer an wenigen Wurzeln die noch ver­blie­benen, hängenden, lockeren, grau­gelben Zähne.“ Aber sie preist auch den ge­lun­genen Tag: „Nie noch erlebte ich so viele Glücks­momente wie jetzt in meinen aller­letzten Lebens­jahren. Es genügt, auf der Gartenbank zu rasten und den weißen Wolken zu­zusehen.“ Nicht zu vergessen: das späte Glück des Schreibens.
  Auch der ungleich bekanntere Dichter Jürgen Becker, der in diesem Herbst zurecht den Georg Büchner-Preis erhält, schreibt an Alters­noti­zen und Re­flexionen, von denen Auszüge im August­heft der Akzente zu lesen sind, ein Journal-Roman der „Augen­blicke und Erin­nerun­gen.“ Was Beckers Alter Ego Jörn erzählt, heißt es dort, hat er „so oder so erlebt, aber dann merkt er, dass immer wieder Erfun­denes da­zwischen­kommt. Dabei hat er wenig Phan­ta­sie; das Er­finden ist nicht seine Stärke, eher ist es die Erinnerung, die, wenn sie aus der Zone des Vergessens nicht herausfindet, sich mit Er­fin­dungen gewis­sermaßen weiter­hilft.“
  Das ist in etwa auch Jürgen Beckers Poetologie, der dem Selbsterlebten vertraut und erst dann zur Fiktion ten­diert, wenn das Gedächtnis versagt. Überhaupt möchte er im Alter von nunmehr 82 Jahren heraus­finden, „was ich noch sagen kann.“ Etwa über seine Kind­heit in den Kriegs- und Nach­kriegs­jahren, erst in Köln, ab 1939 in Erfurt, nach dem Krieg wieder in Köln, die Trennung der Eltern, den Selbst­mord der Mutter, die Teilung und die Wieder­vereini­gung Deutsch­lands – Ereignisse, die dem auf­merksamen Leser auch aus Beckers Roman „Aus der Geschichte der Tren­nungen“ von 1999 vertraut sind.
  Doch Becker berichtet, in klarer und zugleich poe­tischer Sprache, auch von Gärten und Land­schaften, die ihn bis heute umgeben, von der Arbeit seiner Frau, einer Foto­grafin, vom Dorf und den immer jün­geren Nach­barn, von einem alten Radio, das lange braucht, „bis es etwas von sich gibt, von einem Küchen­stuhl, „der einfach immer schon da war“ und der seine Benutzer überlebt.
  Der Dichter Henning Ziebritzki hat dem Akzente-Heft Randnotizen zu Jürgen Beckers Lyrik beigefügt, luzide Beobach­tungen und Re­flexio­nen über deren Gegen­ständ­lich­keit und Kombi­natorik. Er stellt auch die historisch-poli­tische Bedeut­sam­keit der Gedichte Beckers heraus, die ge­legent­lich be­stritten wird. Die „Zeit­zeugen­schaft“ des lyrischen Ich gebe den Gedichten „die Aura des Realen. Sie lesen sich wie ein Tagebuch, eine fort­laufende In­ventur.“ Wenn man die Gedichte vom ersten Band „Schnee“ (1971) bis zum jüngsten „Scheunen im Gelände“ (2012) studiere, könne man nach­verfolgen, „wie sich ein lyri­sches Ich ent­wickelt und ent­wirft, das in die Zeit­geschich­te invol­viert ist und bleibt.“


Sinn und Form: Heft 4, 2014   externer Link
(Postfach 210250,10502 Berlin), 9,– €.

Merkur: Heft 8 und 9, August u. Sept. 2014   externer Link
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), je Heft 9,– €.

Literatur und Kritik: Juli 2014   externer Link
(Ernest-Thun-Straße 11, 5020 Salzburg), 10,– €.

Akzente: Heft 4, August 2014   externer Link
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.

Michael Buselmeier   25.09.2014    

 

 
Michael Buselmeier
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