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September 2017
Im vierten Jahresheft von Sinn und Form fielen mir zunächst einige pointierte Glossen ins Auge, darunter eine von Guntram Vesper (über Karl May) und eine von Dragan Aleksic (über Peter Handke). Kerstin Hensel berichtet von einem Besuch, den sie im Jahr 2002 zusammen mit Rolf Haufs dem schon 1965 gestorbenen Dichter Johannes Bobrowski in Berlin-Friedrichshagen, Ahornstraße 26, abgestattet hat. Der Sohn des Dichters ließ sie herein; jeder Gegenstand befand sich „unverrückt an seinem angestammten Platz.“ Auch die von Haufs früh besungen Johannisbeersträucher standen noch im Garten.
Dem „großen Unzeitgemäßen“ Rudolf Borchardt nähert sich der kürzlich gestorbene Literaturwissenschaftler Peter Bürger auf einfühlsame Art. Dieser elegante Denker war Anhänger der Kritischen Theorie und veröffentlichte 1974 eine vielbeachtete „Theorie der Avantgarde“. Bei Borchardt irritiere uns heute, meint Bürger, die Emphase, mit der er sich als „Deutscher“ verstand, dem es aufgegeben war, „die Kultur der Goethezeit der Jugend als lebendiges Erbe zu übergeben.“ Es störe auch sein „Antimodernismus“ und sein „leidenschaftliches Nationalgefühl“, das die meisten Gebildeten ja überwunden zu haben meinen, obwohl sich konservative Geister seit einiger Zeit wieder zu Wort melden; man denke etwa an Ulrich Greiners neues Buch mit dem Titel „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“.
Borchardt betrachtete die Moderne als „Verfall“, als „geschichtliche Fehlentwicklung“, und fürchtete „die totale Säkularisierung der Welt.“ Als Träger des Widerstands „gegen die kulturelle Leere der Zeit“ sah er in Stefan George und mehr noch in Hugo von Hofmannsthal Verbündete. Sie engagierten sich im Kampf gegen die Moderne letztlich, so Bürger, „für eine hoffnungslos verlorene Sache“, getrieben vom Anspruch, die überlieferte Kultur zu bewahren. Gerade im Bewusstsein des Scheiterns liege für sie Rettung. „Heute sind wir“, schreibt Borchardt bereits 1912, „das geschlagene Heer auf dem Rückmarsche, und nur dies Bewusstsein, nur dies offene, ja dies laute Geständnis ist unser Rettendes.“ Das Pathos, mit dem er hier von „unserer Kultur“ spricht, liegt auch seinen Gedichten, seinen großen Essays, etwas jenem Text mit dem kargen Titel „Villa“ aus dem Jahr 1907, sowie seiner Nachdichtung von Dantes „Göttlicher Komödie“ zugrunde.
Mit Leben und Werk der österreichischen Dichterin Christine Lavant beschäftigt sich Carola Opitz-Wiemers (ebenfalls in Sinn und Form). Lavant wurde 1915 in ärmlichen Verhältnissen in einem streng katholischen Bergarbeiterdorf Kärntens geboren, aus dem sie nur selten herauskam. Dort herrschten noch Aberglaube und Analphabetismus. Sie arbeitete als Strickerin, war häufig schwer krank und las viel, mit dreißig zum ersten Mal Gedichte von Rilke, was ihr Leben und ihr Schreiben veränderte. Sie unternahm mehrere Suizidversuche, die sie in die Klagenfurter Nervenheilanstalt brachten. Aus dieser Erfahrung heraus schrieb sie um 1945 die „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“, die erst im Jahr 2001 erscheinen konnten. Christine Lavant wollte sie nicht publiziert sehen, weil sie die Reaktionen der Leute aus dem Dorf fürchtete.
Zugleich mit den „Aufzeichnungen“ begann sie erneut, Gedichte zu schreiben. Es entstanden ihre lyrischen Hauptwerke „Die Bettlerschale“ (1956), „Spindel im Mond“ (1959) und „Der Pfauenschrei“ (1962). Lavants Dichtungen liegen, so Carola Opitz-Wiemers, „ein resoluter Duktus und eine trotzige Widerständigkeit“ zugrunde. Mit zorniger Geste stelle sich das lyrische Ich „dem Schöpfer entgegen, da er ‚Pfuschwerk' geleistet“ habe. Ihre Texte sprechen bildkräftig von einer archaisch-vormodernen Gesellschaft: „Das Sonnenrad ging über mich hinweg, / ich liege tief im Tulpenkelch der Nacht / und zähl der Sterne gelbe Staubgefäße.“
Ein lehrreiches Gespräch über genaues Lesen und das richtige Schreiben über Literatur führt im jüngsten, dem fünften Jahresheft von Sinn und Form Sieglinde Geisel mit Peter von Matt. Der 1937 geborene Schweizer Literaturwissenschaftler ist zugleich ein von der Literatur Begeisterter, ein Liebhaber. Für seine Studenten war er ein inspirierender Lehrer, und das ist er gewissenmaßen auch für die Leser seiner feinsinnigen Bücher, denen er beibringen möchte, wie man liest.
„Literatur gibt einem etwas, was man noch nie gesehen und erfahren hat“, erklärt von Matt und spricht „vom Glück des Lesens“. Die Aufmerksamkeit müsse dabei „auf dem einzelnen Satz“ liegen, nicht nur auf der Handlung.“ Wenn man mit Neugier lese, „können einem Fenster aufgehen.“ Denn die Literatur handle von Menschen. Darum müsse er, sagt der Professor, „von einem Punkt ausgehen, der anthropologisch relevant, also in menschlicher Hinsicht aufschlussreich ist.“ Er gehe immer von Konflikten aus. Konflikte gehörten zur Natur des Homo sapiens, und ihn, den Forscher, interessiere, „wie sich diese Konflikte in verschiedenen Zivilisationen, Kulturen, Religionen auswirken“, etwa in der Familie zwischen Eltern und Kindern, oder zwischen Brüdern (wie Kain und Abel).
Anders als Peter von Matt stellt sich der Dichter Raoul Schrott, der auch von der Germanistik herkommt, gern als Alleskönner dar, als charmanter Universalist. Unter der Schlagzeile „Ich und der Urknall“ widmet ihm die Zeitschrift Volltext ein zwölfseitiges Gespräch mit Erich Klein, das so beginnt: „Kaum dass ich Bücher lesen konnte, wollte ich sie bald einmal auch selber schreiben.“ Das war um 1974; Schrott war zehn Jahre alt, er kam mit seinen Eltern gerade aus Tunis nach Landeck in Tirol zurück und wandte sich sogleich den Büchern für Erwachsene zu. Er liest Camus, Breton, H. C. Artmann, fragt sich auch schon, ob die Geschichten in den Büchern erfunden oder wahr sind. Und auch wenn er ständig betont, er möge keine Selbstinszenierungen, so ist ihm hier schon zu Anfang ein kleiner Schöpfungsmythos gelungen.
Schrott stellt sich gern als Außenseiter vor, der vom Rand aus auf die Welt blicke, was so nicht stimmt, denn eigentlich stand er vom Beginn seiner Karriere an im Zentrum der Aufmerksamkeit des literarischen Betriebs. Der junge Schrott studierte Germanistik im heimatlichen Innsbruck, hörte dort einen Vortrag von W. G. Sebald über Stifter und folgte ihm nach Norwich, wo er „mit einem völlig anderen Denken“ konfrontiert wurde. In Paris studierend, wandte er sich dem damals noch unterschätzten Dadaismus zu, worüber er auch promovierte, avancierte durch seine Kochkünste zum „Sekretär“ des letzten Surrealisten Philippe Soupault. Wieder in Innsbruck, habilitierte er sich 1996 im Fach Komparatistik.
Schrotts eigenes Schreiben wurde anfangs von H. C. Artmann gefördert, der einen „spielerischen Umgang mit den verschiedensten Formen von Literatur“ pflegte. Beeinflusst hat ihn gewiss auch Derek Walcott, dessen Gedichtzyklus „Mittsommer“ er 2001 übersetzte. Das 1997 erschienene Werk „Die Erfindung der Poesie“ hat ihn dann schlagartig bekannte gemacht. Es enthält „Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“ und leitet über zu Schrotts heftig umstrittenen Büchern über Homer und Troja und die zum Teil krasse Neuübersetzung der „Ilias“.
Ferner geht es in Volltext erneut um Karl Ove Knausgards sechsbändigen autobiografischen Romanzyklus „Min kamp“, der noch immer heiß diskutiert wird, worüber Thomas Lang berichtet. Der norwegische Autor gibt an, „authentisch“, mit „äußerster Rücksichtslosigkeit“, auf rund 3.600 Seiten, über sich und seine Familie zu schreiben und nicht einmal die Namen zu ändern. Und er behauptet kühn, „die Wirklichkeit so zu schildern, wie sie war.“ Er versuche, „zum Rohen und Willkürlichen dieser Realität vorzudringen.“ Aus der Distanz betrachtet, geht es – quälend detailliert – um Alltägliches, um Dinge, die zwischen Lieben und Sterben halt so passieren, in einer Umgangssprache, die weitgehend an der Oberfläche verharrt. Jedenfalls kann ich die behauptete Radikalität Nietzsches und Hölderlins darin nicht finden.
Da ist beispielsweise Peter Kurzeck mit seinem auf ebenfalls sechs Bände angewachsenen autobiografischen Romanprojekt „Das alte Jahrhundert“ erheblich weiter gekommen, sowohl in der detail-besessenen Lebensbeschreibung von Dorfkindheit und Großstadtjugend, als auch formal. Kurzeck hat, um die verschwindende Zeit anzuhalten, eine fast neue Sprache, jedenfalls einen ganz eigenen Rhythmus und Tonfall gefunden, der den Leser anrührt und gefangen nimmt, während bei Knausgard das meiste schon bekannt und äußerlich erscheint.
Die Wiederholung, eine Zeitschrift für Literaturkritik, erschien, als Halbjahresschrift geplant, 2015 zum ersten Mal in Heidelberg. In seinem Vorwort deutet der Herausgeber Leonard Keidel an, worum es den hier versammelten jungen Intellektuellen in der Tradition Friedrich Schlegels und Walter Benjamins gehen dürfte – um Neuerscheinungen, von der offiziellen Kritik übersehene Texte (aber auch um solche von Peter Handke oder Alexander Kluge) jeglicher Sprache und Gattung, die „ein Staunen“ hervorrufen können und eine längere hermeneutische Reise ermöglichen, also um das „Verstehen“ des Einzelwerks, was freilich schon vor 50 und mehr Jahren von Philosophen wie Gadamer propagiert wurde. Über drei Nummern hin hat man an diesem primär essayistischen Interesse mit einigem Erfolg festgehalten.
Die nun erschienene vierte Ausgabe ist indes eine Art Sonderheft von doppeltem Umfang und ganz dem 1951 im rumänischen Horia geborenen Lyriker Werner Söllner und seinem Werk gewidmet. Man findet darin bislang unveröffentlichte Texte des seit langem in Frankfurt lebenden rumäniendeutschen Dichters sowie Stimmen von Wegbegleitern (keineswegs von allen, Herta Müller und Ernest Wichner etwa fehlen nicht ohne Grund), dazu Annäherungen an seine Arbeiten, auch ihm gewidmete Gedichte. Einleitend ein langes Gespräch, das der junge, ebenfalls aus Rumänien stammende Komparatist Alexandru Bulucz mit dem Dichter über sein schwieriges Leben geführt hat. Im Jahr 2015, nach zwanzigjährigem Schweigen, erschien Werner Söllners Gedichtband „Knochenmusik“ – auch dies ein guter Anlass für ein solches Heft.
Sinn und Form: Heft 4 und Heft 5, 2017
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), je Heft 11,– €.
Volltext:Nr. 2, 2017
(Goldschlagstraße 78/22, 1150 Wien), 5,90 €.
Die Wiederholung: Nr.4, 2017
(Buchladen artes liberales, Kornmarkt 8, 69117 Heidelberg), 13,– €.
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Michael Buselmeier
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