|
|
Gabriele Weingartner
Villa Klestiel
Einsame Menschen
Gabriele Weingartners Roman über eine Senioren-WG in Berlin
Kritik |
|
|
|
Gabriele Weingartner
Villa Klestiel
Roman
Limbus Verlag, Innsbruck 2011
240 Seiten, 19,80 Euro |
Sie sind zwischen Sechzig und Siebzig, also noch nicht wirklich alt, etwa ein Dutzend Akademiker, die zusammen in Berlin um die Jahrtausendwende die ehrwürdige Villa Klestiel gekauft und eine Senioren- Wohngemeinschaft begründet haben, dicht am Schlachtensee, am Rand von Zehlendorf. Keine 68er im strengen Sinn, doch wie die Grünen von dieser radikalen Bewegung zumindest gestreift, machen sie sich deren Errungenschaften auf pragmatische Weise zunutze, was auch bedeutet: Keine Sozialutopie beflügelt ihr Tun.
Man sucht also die Nähe des anderen und hält ihn zugleich auf Distanz. Man zankt sich erbittert um die Paragrafen der Hausordnung. Man lässt beim Sommerfest Joints kreisen und planscht nachts nackt im See. Die Sonne des alten Westberlins scheint noch auf der Villa und ihren Bewohnern zu ruhen – gewesene Studienräte, ein Klavierlehrer mit DDR-Vergangenheit, ein schwuler Schauspieler, der sonntags Frauenkleider trägt – und sie mit einer privilegierten Sorglosigkeit zu umgeben. Sie sind mit den Jahren etwas spießig geworden oder waren es immer schon, feiern Weihnachten, das sie früher abschaffen wollten, mit Rezitation und Gesang. Sie wirken wie aus der Zeit gerutscht, sind aber zugleich dem Zeitgeist verfallen, fühlen sich als Deutsche permanent schuldig, „ohne schuldig zu sein“, und sprechen „bis zur Selbstverleugnung“ die Sprache der politischen Korrektheit. Sie spenden für Greenpeace, empören sich über die Castor-Transporte und tragen Öko-Filzhausschuhe.
Villa Klestiel ist der fünfte Roman der 1948 in der Pfalz geborenen Gabriele Weingartner, die in Berlin lebt. Man kann ihn als Tragikomödie lesen, aber auch als Satire auf eine geschwätzige linksliberale Gesellschaft im Zustand des Alterns und der wachsenden Hilflosigkeit begreifen. In jedem der acht Kapitel steht eine andere Figur im Zentrum, von einem allwissenden Erzähler dirigiert, und jeweils herrscht eine andere Jahreszeit; am Ende sind etwa eineinhalb Jahre vergangen. Zunächst spricht die gute Seele des Hauses, die Sekretärin Frederika, deren kupferrotes Haar einige der Greise in Erregung versetzt. Sie führt auch die Konten der Pensionäre und zweigt sich davon regelmäßig etwas ab. Besonders interessiert sie sich für Harro Friedrich, der ihr im hellen Leinenanzug und mit „tiefblauen Augen“ wie der Gattopardo Tomasi di Lampedusas, gespielt von Burt Lancaster, vorkommt. Herr Friedrich, ein Opern-Fan, spekuliert an der Börse, sammelt in seiner Wohnung allerlei Gerümpel, im Grund ein Messie, „ein grauhaariges Kind“, zu müde, um seine Selbstmordpläne umzusetzen.
Es sind widersprüchliche, oft skurrile Charaktere, die sich da eingenistet haben, um den Lebensrest gemeinsam, auf jeden Fall fern von einem Pflegeheim zu verbringen. Etwa die krebskranke Marianne Lichtblau, Übersetzerin wissenschaftlicher Texte. Sie stammt eigentlich aus der Pfalz, zu der sie jedoch „alle Brücken abgebrochen hat“, und lässt sich, schon „nach Tod riechend“, im Rollstuhl noch einmal durch „ihr“ Berlin fahren, eine Art Stadtführung, die Lebensstationen entlang. Das „zauberhafteste Erlebnis“, meint sie, sei eine stumme Begegnung mit dem Schauspieler Bruno Ganz in einer nächtlichen U-Bahn gewesen.
An ihre Studienzeit, die Vollversammlungen im Audimax der FU, besonders an die brillanten Vorlesungen des Philosophen Jacob Taubes, erinnert sich Leonor Zierer, eine exzentrische Kultur-Journalistin, Klatschtante und alte Jungfer, woran weder die antiautoritäre Bewegung noch diverse Therapeuten etwas zu ändern vermochten. Sie hat misanthropische Züge und neigt zur Flucht ins Bett, das sie nur verlässt, um die Straßenkinder vorm Haus zu beobachten und gelegentlich mit Herrn Friedrich in die Oper zu gehen. Jetzt, im Alter, möchte sie gern wieder Hannelore heißen, da ihr der Künstlername Leonor affektiert vorkommt.
Als geheimer Held unter all den Kulturschwätzern und „Tintenpissern“ erweist sich Xaver Brandis, ein aus Bayern stammender Diplom-Ingenieur, der auf Bohrinseln in der Nordsee gearbeitet hat, kein Leser Thomas Manns oder wenigstens des Feuilletons und somit ein Fremdkörper unter den Bildungsbeflissenen. Sie lästern denn auch über seine „Tumbheit“ und kehren ihm den Rücken zu. Ironischerweise ist er es, der die von allen gesuchte Rembrandt-Zeichnung, die der jüdische Vorbesitzer der Villa bei seiner Flucht aus Deutschland 1938 zurückließ, im stillgelegten Speiseaufzug entdeckt.
Auch Brandis ist in die Villa Klestiel eingezogen, um dem Alleinsein zu entkommen, angelockt vom Konzept eines würdigen Miteinander-Altwerdens. Da ihn alle schneiden, wandert er allein durch „frostklirrende Einsamkeit“, und er beginnt mit Leidenschaft zu fotografieren, Schneelandschaften, Rapsfelder rund um Berlin. Er horcht in sich hinein, fängt an, über die Kindheit nachzudenken, über seine Mutter, die in seiner Gegenwart am Kriegsende von Russen vergewaltigt wurde, und spürt plötzlich einen „leeren Raum in seinem Brustkorb, der sich anfühlte wie ein totes, ungeheiztes Zimmer in einem ansonsten lebendigen Haus.“
Gabriele Weingartner versteht es, diese einsamen und verklemmten Menschen, die selbst angesichts ihres nahen Endes nicht recht zu sich und zueinanderfinden, mit sichtbarer Lust an den Möglichkeiten der Sprache, mit Ironie und Eleganz zu charakterisieren und ihre ebenso banalen wie opernhaften Lebensgeschichten so miteinander zu verweben, dass auch die Geschichte der alten Bundesrepublik, um ein paar DDR-Episoden vermehrt, darin aufscheint.
|
|
|
Michael Buselmeier
Lyrik
Prosa
Reden und Texte
Gedichtkommentar
|
|