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Juli 2017
Die erste Ausgabe von Tumult, im Untertitel „Zeitschrift für Verkehrswissenschaft“, erschien 1979 in München. Es ging darin um die „urbane Katastrophe“ und um „katastrophisches Denken“ überhaupt. Konstatierte man einen nahenden Untergang lediglich oder wollte man ihn gar herbei schreiben? Erinnern wir uns dieser Jahre noch? Es gab damals ähnlich aufregende, die Anarchie ziemlich folgenlos propagierende Maulwurfsblätter, etwa Wagenbachs Freibeuter oder das Konkursbuch. Angeregt durch die Lektüre neuerer französischer Philosophen der Postmoderne wie Michel Foucault, Jean Baudrillard und Paul Virilio fanden sich deutsche Linksintellektuelle mit avantgardistischem Anspruch zusammen. Im Mittelpunkt von Tumult stand und steht bis heute der 1941 in Dresden geborene Frank Böckelmann, studierter Philosoph und Universalwissenschaftler, 1963 beteiligt an der „Subversiven Aktion“, um 1968 Wortführer der antiautoritären Fraktion im Münchner SDS. Tumult galt als anspruchsvolles, nicht immer leicht verständliches, zu Überraschungen neigendes Theorieorgan, das sich gegen die „Konsumgesellschaft“ positionierte, ohne der „Kritischen Theorie“ nahezustehen.
Seit 2013 kommt zusätzlich ein weiteres Tumult-Heft mit dem abweichenden Untertitel „Vierteljahrsschrift für Konsensstörung“ auf den Markt. Und es ist etwas Entscheidendes geschehen: Während ein Teil der bisherigen Mitarbeiter sich 2015 aus dem Magazin zurückzog, haben Böckelmann und einige ihm verbundene Autoren unverkennbar eine Entwicklung zur Neuen Rechten vollzogen. Man wendet sich gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, gegen die Masseneinwanderung, die auf Dauer den Sozialstaat gefährde, verteidigt die Souveränität des Nationalstaats gegen den wachsenden Einfluss des Islams, kündigt also den multikulturellen Konsens auf und kann sich einmal mehr als Teil der Avantgarde fühlen, denn wie anders als von rechts kann man heute, wo der Zeitgeist weit links zu stehen und sogar die CDU einzuschließen scheint, noch provozieren?
Als Gegner wird im Editorial des jüngsten Tumult-Hefts jedenfalls „ein amorphes Establishment von Ewiggestrigen“ ausgemacht, die sich „in den großen Parteien und an den Kulturstammtischen“ platziert hätten, „Charaktermasken bequemer Fortschrittlichkeit“, ein abgeschlafftes linksliberales Milieu, „zeitgeistprall“.
Peter J. Brenner, emeritierter Germanist, schreibt über den Hass als „Wiederkehr eines starken Gefühls“. Der Journalist Eberhard Sens sieht in der „Bevölkerungsexplosion“ auf dem afrikanischen Kontinent einen „welthistorischen Vorgang“, der Europa noch hart treffen wird. Man dürfe dem „Migrationsdruck“ – zitiert wird der ehemalige Innenminister Otto Schily – „nicht einfach freien Lauf lassen. Afrikas Probleme müssen in Afrika gelöst werden.“ Bettina Gruber wendet sich gegen die Idealisierung und Patronisierung von Minderheiten jeder Art unter der „Ägide eines sich als links missverstehenden dauerbesorgten Bürgertums.“ Unbegrenzte Toleranz gegenüber den Ansprüchen von Minderheiten könne zu Intoleranz gegenüber den legitimen Bedürfnissen der Mehrheit führen. Peter Hoeres schließlich rekonstruiert die Beziehungen des Historikers Ernst Nolte zur FAZ im Kontext des von ihm ausgelösten sogenannten Historikerstreits, dreißig Jahre danach.
Eine Klage über „das Flüchtlingsleid und die Conditio humana“ stimmt hingegen der polnische Historiker Jan M. Piskorski im Juni-Heft der Zeitschrift Merkur an. Zu diesem Zweck häuft er zahlreiche Beispiele aus Homers, Herodots und Vergils Zeit bis in die unmittelbare Gegenwart an, die allesamt belegen, dass es Kriegs- wie Wirtschaftsflüchtlingen schon immer schlimm erging. Wobei Piskorski in der Geschichte ständig hin und herspringt, einer Gruppenvergewaltigung aus der Zeit der Perserkriege beispielsweise eine im Kongo vom Ende des 20. Jahrhunderts und dann eine durch Piraten an der Küste Vietnams folgen lässt.
Diese Spontan-Methode führt zu einer Kette moralisierender Wiederholungen, zu einem Durcheinander, dessen Erkenntnisgewinn sich in Grenzen hält. Die Menschen sind nun mal nicht so gutartig, wie der Autor sie sich wünscht, sondern allzu oft mordlüsterne Wesen, zumindest solche, die ihr Stückchen Erde mit allen Mitteln gegen Fremde verteidigen. Das war schon immer so. Die Lage wäre also recht hoffnungslos, gäbe es aktuell nicht die von historischer Schuld beladenen Deutschen und ihre „Willkommenskultur“. An vielen Orten werden Flüchtlingen und Vertriebenen keine Freiheiten gewährt, Ankömmlinge in Lumpen, Schiffbrüchige wie Odysseus, werden abgewiesen. Einmal Verjagte, die in ihr Land, nach Äthiopien oder Somalia, zurückkehren wollen, werden angegriffen und abgewehrt. Seit 3000 und mehr Jahren verachte man Armutsmigranten.
So betrachtet, und gewiss gegen Piskorskis Intention, besteht die gesamte Menschen-Geschichte aus Mord, Vertreibung, Gewalt, aus Horrorszenen, die sich ständig an vielen Orten wiederholen, etwa gegenüber den Apachen, die von weißen Jägern skalpiert und denen die Ohren abgeschnitten wurden, wie erst vor wenigen Jahren gegenüber den Leuten in Grosny oder in Ruanda und natürlich auch gegenüber den europäischen Juden, auf die von deutscher Seite Jagd gemacht wurde.
Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift Lettre International eröffnet Franz Maciejewskis poetischer Prosa-Versuch über die legendäre Begegnung Martin Heideggers mit Paul Celan am 25. Juli 1967 in Heideggers Denkhütte im Schwarzwald, von deren Verlauf vor allem Celans sehr unterschiedlich gedeutetes Gedicht „Todtnauberg“ Zeugnis gibt. Maciejewski schlüpft in Celans Rolle und spielt den authentischen Erzähler, was nicht unproblematisch ist. Er paraphrasiert das heftig umstrittene Poem, seine pathetische Sprache, seine Gesten. Ein wenig kommt auch Büchners „Lenz“ zum Zug, er klingt bereits im Titel an: „Fahrt durchs Gebirg“, auch der „20. Jänner“ wird erwähnt. Und selbst der Obersalzberg und „ein anderer Meister aus Deutschland“, Adolf Hitler, spielen am Rand mit.
Vor allem die Bilder des Gedichts erweisen sich als noch lebendig und funkeln irritierend: der „Waldwasen“ mit „Arnika“ und „Augentrost“, „der Trunk aus dem Brunnen mit dem Sternwürfel drauf“, die „Hoffnung“ auf ein „kommendes Wort im Herzen“, die „Knüppelpfade im Hochmoor“. Heidegger selbst, von dem es hier heißt, er sei „der Großsprecher des Seins, jetzt Kleinlaute“, schwieg die Zeit über und konnte das treffende und wohl auch von Celan erwartete Wort der Entschuldigung nicht finden. Alles in allem bleibt Maciejewskis Versuch hinter Celans Gedicht ästhetisch klar zurück und vermag das, was vor exakt 50 Jahren zwischen dem Philosophen und dem jüdischen Dichter gesprochen oder eher beschwiegen wurde, auch nicht zu klären.
Entscheidend ist die Sprache nicht nur in literarischen Dingen. Als die Menschen vor etwa 40.000 Jahren begannen, dauerhafte Bildnisse zu schaffen, haben sie, meint der Philosoph Hannes Böhringer (ebenfalls in Lettre), längst gesungen und gesprochen: „Ihre Sprachen und Gesänge werden voll von starken Bildern gewesen sein“, wie sie noch bei Homer auftauchen. „Die Sprache bringt die Bilder hervor“, so Böhringer. „Dieser bildnerischen Kraft wegen nennt Humboldt sie Energeia. Die Sprache quillt über, Kraft im Überfluss. Die Sprache tropft. Die Tropfen sind die Bilder, flüssig und von zarter Kohärenz.“
Frank M. Raddatz eröffnet ein kulturrevolutionär inspiriertes Lettre-Gespräch mit Bernd Cailloux mit der Bemerkung, er gehöre doch „einer unter deutschen Schriftstellern seltenen Spezies an: die Orchidee der Subkultur.“ Er gleiche wohl eher der „Sumpfdotterblume“, kontert Cailloux, sei „Außenseiter unter Außenseitern“ und gelte „nur im Feuilleton als einer der letzten Vertreter des semipolitischen Undergrounds.“ Zuletzt erschienen 2016 bei Suhrkamp seine „Haschischgeschichten“, ein Büchlein, in dem es „um Menschen geht, die seltsame Entscheidungen treffen“; es sei keinesfalls für eine Gemeinde von Drogenkonsumenten gedacht. Doch das Komplexereignis ‚68' und die Drogennähe würden ihm „noch nach dem Tod anhängen“. Aus dieser Schublade gebe es – wie wahr! – kein Entkommen.
Als Anhänger des Undergrounds und seiner Musik (z. B. der Gruppe „Kraftwerk“), einer weit eher kulturellen als politischen Revolution, zog es den noch jungen Cailloux in den 70er Jahren nach Berlin – mittlerweile eine Stadt, die täglich altere, die damals jedoch jugendliche Aussteiger von überall her angezogen und ihnen auch einen „Kreativitätsruck“ verpasst habe. Geprägt habe ihn eher das Düsseldorfer Künstlermilieu der 60er Jahre mit Joseph Beuys, Gerhard Richter und Günther Uecker, besonders Sigmar Polke und Jörg Immendorf. Auch Cailloux' erfolgreicher Roman „Das Geschäftsjahr 1968/69“ basiert auf Düsseldorfer Erfahrungen, nämlich der Gründung einer auf Lightshows spezialisierten Elektronik-Firma durch eine Art Hippie-Businessman, der er eine Zeit lang selber war.
„Schriftsteller handeln nicht, Schriftsteller erinnern sich“, befindet Bernd Cailloux im Gespräch. Die Erinnerung sei das stärkste Betriebsmittel beim Schreiben; mit ihr verbinde sich „nichts Dokumentarisches“. Der zu ihr passende Begriff laute nicht „Autobiographie“, sondern „Autofiktion“, was bedeutet, dass man frei hinzuerfinden kann, was immer und soviel man will. Was gegenwärtig gar nicht so einfach sei, denn es herrsche ja eine Zeit der Restauration und damit verbunden die Political Correctness, „diese permanente Weichspülung von allem und jedem in den Medien“ – bis hin zur FAZ.
Tumult. Vierteljahrsschrift für Konsensstörung: Frühjahr 2017
(Frank Böckelmann, Nürnberger Straße 32, 01187 Dresden), 8,– €.
Merkur: Juniheft 2017
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12,– €.
Lettre International: Nr. 117, Sommer 2017
(Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 13,90,– €.
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Michael Buselmeier
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