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Juli 2016
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Zeitschriftenlese  –  Juli 2016
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Über den Chinesen Ai Weiwei, der noch im Jahr 2014 als „Deutschlands beliebtester Protestkünstler“ galt, wird seit einiger Zeit in den Feuilletons recht schroff geurteilt oder auch gar nicht mehr berichtet – ein Beispiel für den gnadenlosen Opportunismus, der im Kulturbetrieb vorherrscht, worauf Matthias Dell im Juniheft der Zeitschrift Merkur aufmerksam macht. „Dissidenz“, urteilt er, „sehe nur aus der Ferne richtig gut aus.“ Die Popularität, die Ai Weiwei gerade bei deutschen Feuilletonisten genoss, erreichte ihren Höhepunkt 2011, als der Künstler in China ein paar Monate im Gefängnis saß. Und sie verebbte rasant, als Ai im Sommer 2015 nach Berlin ausreisen durfte und hier eine Reihe von Interviews gab, die in den Augen der politisch Korrekten „unklar“, „widersprüchlich“ und „vieldeutig“ erschienen. Sie waren enttäuscht von ihm und beklagten sich darüber, dass dieser da nicht mehr „der alte Ai Weiwei“ sei.
  Im Westen angekommen, wollte der Konzept-Künstler die ihm aufgenötigte Dissidentenrolle offenbar so nicht weiterspielen und sich politisch nicht gegen Peking instrumentieren lassen. So kam es zum Bruch mit den sich fortschrittlich wähnenden Journalisten und in der Folge zu einigen harschen Verrissen. Plötzlich galten Ais Installationen nicht mehr als hoch inspiriert und macht-kritisch, sondern als plakativ und schlicht, ja als zynisch und sogar Übelkeit erregend. Gemeint war hiermit vor allem Ais Versuch, das allseits bekannt Foto des ertrunkenen Flüchtlingsjungen am türkischen Strand nachzustellen. Gefragt war auf einmal, so Matthias Dell, „nicht mehr der Systemkritiker, sondern der Künstler, der nun aber als mittelmäßig oder schlecht eingestuft“ wurde.
  Auch die Debatte um den Romanisten und SS-Hauptsturmführer Hans Robert Jauß ist wieder entbrannt. Neue Bücher, Dokumentationen und Zeitungsberichte sind zu diesem prominenten „Fall“, der eher ein Sturz war, erschienen. Denn Jauß, geboren 1921 und gestorben 1997, war zumindest in seinem „zweiten Leben“ ein Star: als Mitbegründer der Reform-Universität Konstanz wie als Hauptvertreter der sogenannten „Rezeptionsästhetik“, die in den demokratisch gestimmten 70er Jahren nicht nur an deutschen Hochschulen reüssierte. Er galt als Erneuerer der Philologie, vor allem weil er die Rolle des Lesers, also des „Rezipienten“ aufwertete.
  Neueste Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass der junge Jauß unter anderem einen SS-Einsatz in Kroatien absolvierte und dort in „Sühnemaßnahmen“, also Kriegsverbrechen involviert war. Eine individuelle Tatbeteiligung sei ihm freilich nicht nachzuweisen. Dennoch hegen die Gegner des Hermeneutikers die Überzeugung, dessen erstes Leben als SS-Offizier habe sich auch auf sein akademisches Wirken „durchgepaust“ und es bis in die Sprache seiner Schriften geprägt. Von „Kampf und Sieg“, „Treue und Fairness“ sei auch im Konstanzer Colloquium häufig die Rede gewesen.
  In dem bereits erwähnten Juniheft des Merkur wagt nun die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer, gleichsam auf schwankendem Grund, „eine kleine Apologie“. Sie versammelt anrührende Erinnerungen an einen entfernten Freund. Schlaffer entwirft das Bild eines in jeder Hinsicht „verantwortungsbewussten“ Wissenschaftlers und Menschen und stellt es den anderen, negativen Jauß-Bildern gegenüber. Sie schildert den „erfolgreichen Lehrer“, der keinem Argument auswich und dem „keine Zeit zu lang war, es abzuwägen“; ein Denker, der nie doktrinär wurde. Ein „obsessives Pflichtbewusstsein“ habe ihn ausgezeichnet, ebenso „wissenschaftliche Strenge“. Private Bemerkungen seien hingegen bei Jauß rar gewesen. Auch beim gemeinsamen Schwimmen im Bodensee wie beim Wandern im Hochgebirge konnte dieser „sichere Mann“ (wie Hannelore Schlaffer ihn mehrfach nennt) die Gelehrsamkeit nicht vergessen.
  Im jüngsten Heft von Sinn und Form führen Matthias Bormuth und Matthias Weichelt ein ebenso kluges wie informatives Gespräch mit der 1927 geborenen Inge Jens, die sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht hat, beginnend in den frühen 60er Jahren mit den Briefen Thomas Manns an den Philologen und Lyriker Ernst Bertram, einen Anhänger Stefan Georges. Es folgten Editionen nachgelassener Werke des Literaturwissenschaftlers und Dichters Max Kommerell, zeitweise ebenfalls ein enger Vertrauter Georges, sowie Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und ihres Freundes Willi Graf. Zwischen 1986 und 1996 gab Inge Jens in der Nachfolge von Peter de Mendelssohn die Tagebücher Thomas Manns in fünf Bänden heraus, obwohl sie, wie sie gesteht, „kein wirklicher Verehrer seines Werkes war.“ Ihre Stoffe habe sie sich nie selbst ausgesucht, sie wurden ihr angetragen. Enge Freundschaften, über die sie berichtet, etwa zu Hans Mayer, Ernst und Karola Bloch, stellten sich oft über Arbeitskontakte ein.
  Während die engagierte Herausgeberin mit der Witwe Kommerells oder mit Golo Mann gut auskam und ihr keine Vorschriften gemacht wurden, kennzeichnet sie ihren Band mit den Schriften der „Weißen Rose“ als „miserable Edition“, weil ihr von Seiten der Familie ständig hineingeredet wurde, was sie bringen dürfe und was nicht. Vor allem Inge Scholl und ihr Mann Otl Aicher ließen keine historische Forschung zu. Es sollte z.B. nicht herauskommen, dass zwischen Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel ein sexuelles Verhältnis bestand. Es durfte auch nicht veröffentlicht werden, dass Hans und Sophie Scholl bis 1935 auch in der Hitler-Jugend aktiv waren.
  Statt mithilfe von Zensur Legenden am Leben zu halten, komme es, so Inge Jens, darauf an, widersprüchliche Sichtweisen zuzulassen, nichts auszublenden und nichts zu verfälschen. Die Haltung des Herausgebers habe vor allem „kritisch“ zu sein. Im Fall Thomas Manns ging es ihr kommentierend „in erster Linie um die zeitgeschichtliche Erhellung der Epoche, in welche die Tagebücher eingebettet waren.“ Sie waren für sie zunächst „eine große Chronik ihrer Zeit.“ Und weil Golo Mann als Historiker das auch so sah, entwickelte sich sogar ein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen.
  Vorgestellt wird in Sinn und Form mit Siegfried Pitschmann ein im Westen weithin unbekannter Autor aus der DDR, „ein ostdeutscher Meister der Short Story“, wie Kristina Stella, die Herausgeberin seines Nachlasses, in ihrer Vorbemerkung schreibt. Pitschmann, geboren 1930 in Niederschlesien, verbrachte sein Leben nach der Flucht zunächst in Hoyerswerda, dann in Rostock, ab 1990 in Suhl in Thüringen, wo er 2002 auch starb.
  „Aufzeichnungen eines Lehrlings“ heißen seine um 1950 entstandenen Prosastücke, von denen Sinn und Form leider nur drei Episoden erstmals veröffentlicht. Es sind dichte Szenen unter Jugendlichen, geschrieben in einer erstaunlich frischen Alltagssprache, Bilder aus den harten Kriegs- und Nachkriegsjahren, vital und realistisch, die damals an Ernest Hemingway und Norman Mailer erinnerten und in der frühen DDR nicht erlaubt waren.
  Was Pitschmanns Prosatexte auszeichnet, ist die kräftig zupackende, ganz eigene Diktion. Er war, als er sie aufschrieb, höchstens 20, hatte bestimmt keine Schreibschule besucht und auch später niemals ein Stipendium erhalten, während junge Autoren sich heute ja vor jeder Art Zuwendungen kaum retten können, noch bevor sie ein erstes Buch herausgebracht haben. Die von Walter Höllerer begründete, im 54. Jahrgang erscheinende Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter publiziert in ihrer jüngsten Ausgabe Prosatexte von elf jungen Schriftstellern, die am Fördermodell der Berliner Autorenwerkstatt teilgenommen haben. An vier langen Wochenenden trafen sie sich mit den Werkstattleitern im Literarischen Colloquium am Wannsee, um in der Gruppe an ihren frischen Texten zu arbeiten. In ihnen geht es etwa um das massenhafte Datensammeln, um Science Fiktion-Motive, aber auch um Beziehungskisten, Krankheit und drohenden Tod. Sie spielen in Orten am Meer, auf Inseln und in Großstädten – lauter fleißig erarbeitete Textgewebe, denen freilich ein besonderes Profil, eine eigene Handschrift, Schmerz und Wut häufig zu fehlen scheinen.
  Heraus ragt, gewiss auch thematisch bedingt, Corinna Sigmunds Erzählung „Lucia“. Sie handelt von Lucia Joyce, der Tochter von James Joyce, die einen großen Teil ihres Lebens in psychiatrischen Anstalten verbracht hat und von deren Existenz man wenig weiß, da sich die literarische Welt immer nur für den Vater und selten für die ihm nicht unähnliche Tochter interessierte, die allenfalls „eine Randmarke, eine Fußnote“ war. Ihr „Fall“ wirft auch einen neuen Blick auf die Familie Joyce, ihren von häufigen Umzügen und Geldmangel geprägten Lebensstil, der für die Entwicklung des sensiblen Kindes eher ungünstig war: zu viele Länder, zu viele Sprachen. Lucia hatte sich dem modernen Ausdruckstanz verschrieben. Corinna Sigmund spürt ihrem komplizierten Leidensweg in einer sehr offenen Form, in Erzählsplittern und aus wechselnden Perspektiven nach.
  Ferner in Sprache im technischen Zeitalter die Dankrede, die der Dichter Nico Bleutge zur Verleihung des Eichendorff-Preises gehalten hat. Er erinnert darin an das „bucklicht Männlein“ aus den Kinderliedern des „Wunderhorns“, einen Kobold, der auch bei Eichendorff im „Taugenichts“ nur auf Schaden und Schabernack bedacht ist: „Will ich in mein Stüblein gehn, / Will mein Müslein essen, / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hat`s schon halber gessen.“ Michael Braun stellt den jungen deutsch-amerikanischen Lyriker Paul-Henri Campbell vor, der seit seiner Geburt an einem schweren Herzfehler laboriert, also auch schreibend immer „am Rand der Grube“ steht: „es ist kein nistender vogel / der vom blinkenden kasten / hinter deinem lager schrill / in intervallen hervorkreischt / es ist nur das kardiogramm / das wacht und fiept über dir“
  Zum Schluss noch ein Hinweis auf die Bergische Zeitschrift für Literatur mit dem verwirrenden Namen Karussell. Die anspruchsvoll ausgestattete Ausgabe Nr. 4 vom Mai dieses Jahres widmet sich dem nicht nur im Tal der Wupper stets aktuellen wie umstrittenen Thema „Utopie Heimat“. Außerdem werden die Gewinnertexte des Preises der Wuppertaler Literatur-Biennale 2016 vorgestellt. Gerade die Orte der Kindheit und Jugend liefern, was auch die literarischen Heftbeiträge bestätigen, die wahren und bleibenden Bilder der Landschaft, in der wir uns lebenslang geborgen fühlen, selbst wenn sie verloren ist – Bilder, die uns in besonderen Situationen auch Gedichte schreiben und sogar rebellieren lassen.

Merkur: Nr. 805, Juni 2016   externer Link
(Mommsenstraße 27, 10629 Berlin), 12,– €.

Sinn und Form: Heft 3, 2016   externer Link
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11,– €.

Sprache im technischen Zeitalter: Nr. 217, März 2016   externer Link
(Am Sandwerder 5, 14109 Berlin), 14,– €.

Karussell: Ausgabe 4, Mai 2016   externer Link
(Torsten Krug, Hünefeldstraße 81, 42285 Wuppertal), 14,– €.

 

 
Michael Buselmeier
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Gedichtkommentar