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Juli 2012
Kurioserweise gibt es in Österreich nur sehr wenige literarische Verlage, jedoch eine ganze Reihe gewichtiger Zeitschriften, neben den mehr der Avantgarde verpflichteten Grazer manuskripten etwa das Wiener wespennest oder Literatur und Kritik aus Salzburg. Die vorzüglichen protokolle, das streitbare Neue Forum und die Gegenwart aus Innsbruck sind in den 90er Jahren eingeschlafen. Vorgestellt und diskutiert wird in all diesen Organen die österreichische Gegenwartsliteratur, darunter eine erstaunlich hohe Zahl bedeutender Autoren wie Bernhard, Handke oder Mayröcker, deren Bücher sodann die Programme deutscher Verlage bereichern.
Das 1969 gegründete wespennest war – als eine Art Gegenpol zu den allseits offenen manuskripten – zumindest anfangs streng fokussiert auf eine „realistische“, links-engagierte, sich „operativ“ verstehende Literatur. 1996 schied der Schriftsteller Gustav Ernst als Mitherausgeber aus und brachte ein Jahr später eine eigene Literaturzeitschrift mit dem etwas schrillen Titel kolik heraus, mit der Absicht, so die explizit aufklärerische Linie des wespennests fortzusetzen, also nicht das „Markttaugliche“ zu fördern, sondern den radikal-politischen Diskurs, wobei sich Ernst in einleitenden Essays lautstark, doch ziemlich erfolglos an der österreichischen Sozialdemokratie abarbeitete.
Nachdem ich kolik vor etwa zehn Jahren aus den Augen verloren hatte, war ich nun erfreut zu bemerken, dass die Zeitschrift noch immer existiert und viermal pro Jahr im alten handlichen Format erscheint, vollgestopft mit neuer Literatur aus Österreich auch von weniger bekannten Autoren, also mit Prosa, Gedichten, Essays, Gesprächen und Buchbesprechungen, sogar ganze Theaterstücke werden abgedruckt. Bemerkenswert ist, dass der Sozialismus kaum noch propagiert wird und die Neigung zur Provokation stark nachgelassen hat.
Einen überraschenden Fund konnte ich in kolik Nr. 50 machen. Es ist ein sehr persönlicher Brief des manuskripte-Herausgebers und Dichters Alfred Kolleritsch an seinen berühmten Freund Peter Handke aus dem Jahr 1979. Von dem Brief heißt es, er sei bisher „verschollen“ gewesen und daher in den veröffentlichten Briefwechsel-Bänden Handkes nicht enthalten. Man weiß ja von Handke, dass er die Eigenschaft hat, Menschen, die ihm gegenübertreten, befangen zu machen. Bei den alljährlich stattfindenden Petrarca-Preis-Treffen herrscht allgemeine Unruhe, bevor der große Mann endlich verspätet eintrifft. Man glaubt sich vor Handke, seiner Ich-Stärke, seinen Ansprüchen und Leistungen, seiner Genauigkeit rechtfertigen zu müssen. Der 2005 im Schreibheft publizierte Briefwechsel mit Nicolas Born zeigt, dass selbst dieser eigenwillige Autor sich vor Handke klein wähnte und bereit war, von ihm fast jede Kränkung hinzunehmen.
Im Fall Kolleritschs offenbart sich eine ebenso große Unsicherheit. Dabei ist er elf Jahre älter als Handke und in Graz so etwas wie sein Mentor gewesen. Aber auch er artikuliert Scheu, Verwirrung, „Angst vor Dir“ bei fast jeder Begegnung, ja „schreckhafte Momente“. „Eingedunstet in den Betrieb“ – so lautete offenbar Handkes Vorwurf –, fühlt er sich dem „Freisein“ des Freundes nicht gewachsen und beklagt sich über zugefügte Verletzungen. Man kann sich fragen, weshalb derart private Briefe zur Veröffentlichung freigegeben werden.
Die jüngste Ausgabe von kolik (Nr. 55) hat „Literatur aus der Schweiz“ zum Schwerpunkt. Erinnert wird an Werner Kofler, von Beginn an ein enger Mitarbeiter der Zeitschrift, ein wortgewaltiger Prosaist und scharfzüngiger Satiriker. Der gebürtige Kärntner starb Ende 2011 mit 64 Jahren an Krebs. Die künstlerische Strecke, die Kofler zurückgelegt hat, beginnt – so Klaus Amann – 1975 mit dem grandiosen Guggile, einer „Materialsammlung aus der Provinz“, und endet nach 20 Büchern 2010 mit einem letzten schmalen Prosaband, Zu spät betitet. Schon lange vor seinem Tod habe dieser „größte lebende österreichische Schriftsteller“ – so sein Freund Antonio Fian übertreibend – für die Literaturkritik nicht mehr existiert. In dieselbe Kerbe schlägt Elfriede Jelinek, wenn sie behauptet, an Kofler sei „das Verbrechen der Nichtbeachtung durch den Literaturbetrieb“ verübt worden.
Zusätzlich ist im Januar 2012 ein kolik spezial-Heft erschienen, das die Beiträge eines Symposions des „Instituts für Sprachkunst“ in Wien zum Thema „Die Praxis des Schreibens“ zusammenfasst. Entstanden ist ein geistig anregendes und auch lehrreiches Kompendium, aus dem man manches über die Bedingungen literarischen Arbeitens an deutschsprachigen universitären Einrichtungen erfährt, die ja vorgeben, angehenden Autoren im Bachelor- und Master-Studiengang das Verfassen von Gedichten, Erzählungen, Theaterstücken und Essays beizubringen – Fähigkeiten, die sich unsereins in einem langwierigen und oft schmerzhaften Prozess selbst beigebracht hat. So liegt es nahe, den meist sehr jungen Menschen erst einmal den Geniebegriff auszutreiben. Da das Schreiben als lehr- und lernbarer Vorgang gilt, stehen pragmatische Orientierungen im Vordergrund.
Interessanter als die leicht abgehobenen Referate bekannter Schreiblehrer wie Robert Schindel (Wien) und Dagmar Leupold (Tübingen) erweisen sich einige der sieben Podiumsdiskussionen, bestückt mit Dozenten der diversen Schreibschulen. Besprochen werden die überlieferten Gattungen, aber auch übergreifende Themen wie „kreative Prozesse“ oder „Literatur und Erfahrung“. Wie nicht anders zu erwarten, loben sich alle wechselseitig für ihre Anstrengungen beim Vermitteln des Schreibhandwerks, doch werden die unterschiedlichen Konzepte trotzdem sichtbar. Der Wiener Romancier Josef Haslinger, der am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig Prosa lehrt, will den Studenten einen formalisierten Studienplan anbieten, der tendenziell alle Gattungen und Richtungen abdeckt, und zwar in Werkstatt- oder Seminarform, wobei jeder jeden kritisiert, während in Biel und in Hildesheim der angehende Autor mit seinem Manuskript einem einzelnen Mentor unter vier Augen gegenübersitzt, der ihn bei der Arbeit berät. Am Ende eines „Moduls“ steht freilich eine Benotung der literarischen Leistung durch den Dozenten im Haupt- und Nebenfach, die auch den letzten Idealisten auf den Boden der Tatsachen zurückholen dürfte, von den Härten des wirklichen Literaturbetriebs noch gar nicht zu reden.
Von einer Zeitschrift namens Matrix hatte ich bis vor kurzem nie etwas gehört. Dabei erscheint die Vierteljahrsschrift bereits in der 27. Ausgabe in dem kleinen Ludwigsburger Pop-Verlag, der sich vor allem um Autoren aus Osteuropa bemüht; doch sind auch Ausgaben über Friederike Mayröcker und Hans Bender angekündet bzw. erschienen. Das jüngste Heft eröffnet eine etwas knapp gehaltene Homage an die große polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska, die im Februar dieses Jahres 88jährig starb. Wenigstens ein paar ihrer Gedichte, für die sie 1996 den Nobelpreis erhielt, hätte man abdrucken sollen.
Der im Mittelpunkt des aktuellen Hefts stehende russische Schriftsteller Wjatscheslaw Kuprijanow wird hingegen mit Gedichten vorgestellt, die denen von Szymborska das Wasser nicht reichen können. Der 1939 in Novosibirsk geborene Kuprijanow hat das Verdienst, Rilke, Brecht und Novalis ins Russische übersetzt zu haben. Im Gespräch bezeichnet er sich als „kritischer Idealist“ und als „Schöpfer des russischen freien Verses“, scheint jedoch in seinem Heimatland auch nach dem Ende der Sowjetunion kaum verlegt zu werden und weiter für die Schublade (oder eben den Pop-Verlag) zu schreiben. Es gelte die Order, „den Dichter Kuprijanow nicht groß herauszubringen“, soll ein KGB-General einmal gemunkelt haben…
Erfreut war ich, in Matrix dem 1947 in Gummersbach geborenen Schriftsteller Fred Viebahn wieder zu begegnen. Anfang der 70er Jahre ist er als den Jungsozialisten naher Protestautor und Vertreter der Beat-Generation mit Romanen wie Die schwarzen Tauben und Das Haus Che oder Jahre des Aufruhrs bekannt geworden. Bald schon zog es ihn in die USA, wo er die schwarzamerkanische Autorin Rita Dove heiratete, und die deutsche Literatur verlor ihn aus den Augen. Nun berichtet er, an der Schwelle des Greisenalters angekommen, in noch immer lockerem Ton über drei Freunde oder Lehrer, Neunzigjährige, darunter sein Schwiegervater, die das Leben trotz aller Schwierigkeiten gemeistert haben und uns Mut machen sollen.
Seltsamerweise unterhält der aus Rumänien stammende Traian Pop neben Matrix noch eine weitere Literaturzeitschrift mit dem Namen Bawülon (vielleicht eine Mixtur aus Baden- Württemberg und Babylon?), getragen von etwa demselben Autorenkreis, als verlangte nicht schon eine Zeitschrift Anstrengung genug. Ein Großteil der dritten Ausgabe (der Zählung nach ist es die vierte) ist dem rumäniendeutschen Schriftsteller Johann Lippet zum 60. Geburtstag gewidmet. Er kommt aus einem Dorf im Banat, dessen 178 Häuser und deren Bewohner er in einer umfangreichen Dorfchronik, die 2010 bei Pop erschien, sowie in mehreren Romanen, Erzählungen und Gedichtzyklen ebenso akribisch wie besessen rekonstruiert hat.
Lippet war 1972 zusammen mit Richard Wagner, Ernest Wichner und William Totok unter denen, die die legendäre „Aktionsgruppe Banat“ gegründet haben, frühe Wegbegleiter Herta Müllers, bevor sie alle, vom Geheimdienst verfolgt, im Lauf der 80er Jahre aus Rumänien ausreisten. In Bawülon berichtet Lippet einmal mehr über die Erfolgsgeschichte der Literaturszene aus Temeswar, die „Aktionsgruppe Banat“ (1972-1975), und den „Literaturkreis Adam Müller-Guttenbrunn“ (1977-1984), die zu guter Letzt in Herta Müllers Nobelpreis mündeten.
Das Literaturblatt für Baden-Württemberg, herausgegeben von Irene Ferchl, erscheint alle zwei Monate in perfekter Aufmachung und ist für Literaturfreunde aus dem Land eine unentbehrliche Orientierungshilfe. Das Titelthema des Juli/August-Hefts lautet Hermann Hesse; zum 50. Todestag wird er vor allem als Philosoph gewürdigt. Ein schönes Porträt ist dem eng mit Freiburg verbundenen Urpoeten und Zeichner Christoph Meckel gewidmet, dessen druckgrafisches Werk Die Weltkomödie dort kürzlich in zwei dicken Folianten ediert wurde. Der Heidelberger Karikaturistin Marie Marcks wird zum 90. Geburtstag gratuliert. Hinzu kommen, wie immer, aktuelle Buchkritiken, Kulturtipps und Termine.
kolik: Nr. 55, März 2012 / kolik spezial, Januar 2012
März 2012 (Taborstraße 33/21, A-1020 Wien), 12,- € bzw. 16,- € (kolik spezial)
Matrix:Heft 1, 2012
(Pop-Verlag, Postfach 0190, 71601 Ludwigsburg), 10,- €
Bawülon: Nr. 4, 2011
(Postfach 0190, 71601 Ludwigsburg), 7,- €
Literaturblatt für Baden-Württemberg: Juli/August 2012
(Burgherrenstraße 95, 70469 Stuttgart), 5,- €
Michael Buselmeier 11.07.2012
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Michael Buselmeier
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