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September 2012
Zeitschriftenlese  –  
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Nach einer kleinen Pause sind die horen wieder da mit der 246. Ausgabe und mit neuem, ver­bessertem Layout, neuem Heraus­geber (Jürgen Krätzer), neuem Verlag, dem viel­seitig enga­gierten Wall­stein Verlag aus Göttingen. Sonst hat sich zum Glück nicht allzu viel geändert, es geht also weiter­hin, viermal pro Jahr, um die ganze Litera­tur und deren Kritik in umfang­reichen Bänden, die sich keineswegs auf Deutsch­land und die Gegen­wart beschrän­ken. Für den schei­denden Heraus­geber Jo­hann P. Tammen gibt es einen Blumenstrauß aus lau­nigen Abschieds­texten.
  Der vorliegende Band, zusammen­gestellt von Jürgen Krätzer und der Lyrikerin Kerstin Preiwuß, hat „Dichter über Dichter“ zum Thema. Jeder Lyriker, heißt es im Vor­wort, könne gewiss einen anderen nennen, der ihn ent­scheidend geprägt hat, ein Gedicht, das er liebe und das ihm nicht mehr aus dem Kopf gehe. Doch da als Vorbilder und Anreger in der Regel Dichter aus der Ver­gan­gen­heit dienen, Hölderlin, Eichen­dorff oder Rilke, spitzen die Heraus­geber ihre Frage zu: „Welches Gedicht aus jüngerer Zeit“ schaffte es, einen zum Staunen zu bringen?
  Eingeladen waren um die zwanzig Lyriker, auf persönliche Weise über ein Gedicht eines von ihnen bewun­derten Genera­tions-Genos­sen nach­zudenken. Die­ser wiede­rum sollte auf den ihm gewid­meten Text erklä­rend ant­worten, damit so eine Art Gespräch über Gedichte zu­stande komme. Dass es bereits Antho­lo­gien gibt, in welchen Autoren einander wechsel­seitig kommen­tieren, spricht nicht gegen das horen-Projekt. Auch die Auswahl der Einge­la­denen lässt sich recht­fertigen. Es handelt sich über­wie­gend um Poeten, die zwischen 30 und 50 Jahre alt sind und zu den relativ Erfolgreichen, im Betrieb All­gegen­wärtigen zählen. Man schätzt und lobt einan­der, ist oft auch befreundet.
  Nicht wenige der abgedruckten Texte haben mich zum Grübeln angeregt. Sie sind von hoher Quali­tät und ermöglichen poetologische Einsichten, die den innersten Kern der Lyrik berühren. Kathrin Schmidt etwa schildert, was sie in Marion Posch­manns virtuoses Gedicht Grund zu Schafen immer wieder hinein­lockt. Es ist keine her­kömm­liche Inter­pretation, auch kein phi­lolo­gischer Kommentar, sondern ein kleiner poeti­scher Essay, ein Parallel­text mit eingestreuten Kind­heits­erin­nerungen. Poschmann wiederum erläutert heiteren Tons, wie ihr Gedicht ent­standen sei – nach einer Phase des Brütens „in einem Rutsch aufs Papier“. Und sie erklärt auch, dass es ihr um „Unschärfe“ gehe, um ein kaum kon­turiertes Ich, einen leeren Raum, einen „Möglich­keits­raum“: „Kochbirnen Walnüsse Gras / es war weiß es war rot es war grau / Mosaike aus Bauschutt verlorenes / Material wir verhielten uns unsichtbar…“
  Wie sehr den heutigen Lyriker gerade das Unbe­kannte, Undeut­liche, Rätsel­hafte an der Sprache reizt, fremd­artige Wörter, die sich an­einander reiben, ja eine Art „Ur­erfahrung vor der Sprache“, macht Nico Bleutge über­zeugend an Marcel Beyers Gedicht Dunkle Augen deutlich, das so beginnt: „In manchen Stunden werden meine Augen / dunkel, dann rase ich zurück in meine / Dunkel­heit, bevor die ersten Worte / kamen…“ Bleutge tastet sich an die Geheim­nisse des Schreibens heran, legt schicht­weise Erin­nerungs­reste aus der frühen Kindheit frei, „Fetzen der Vergangenheit“, die sich in der Sprache abgelagert haben; er stellt Fragen an Beyers Gedicht, ohne rasche Ant­worten zu erwarten. Beyer selbst steuert erhellende Details zur Genese seiner Verse bei.
  Nicht zuletzt befragt Norbert Hummelt Wort für Wort, wissend und tiefgründig, das recht kompli­zierte Gedicht Nachtigallen der jungen Nadja Küchen­meister, das so einsetzt: „stör­geräu­sche, nachtigallen. auf eine spur gebannt / vor tagen, nachts. du schneidest immer mit. dein / trommlerherz … dein ausge­branntes kondensat“ Die Dich­terin schaffe, lobt Hummelt, „eine lebendige Einheit des Brüchigen“, sie binde den „Haufen zer­brochener Bilder“ auf elektri­sierende Weise zusammen.
  Im Augustheft des Merkur findet sich ein sympathetischer Bericht von Jan Kedves über Vorlesungen und Seminare, die der Schriftsteller Rainald Goetz im Mai dieses Jahres an der Freien Univer­sität Berlin abgehalten hat. Im Rahmen der gut dotierten Heiner Müller-Gast­professur unterrichtete Goetz an vier auf­einander folgenden Sams­tagen „lite­rari­sches Schreiben“ – ein etwas schrä­ger, leicht ge­nerv­ter Dozent, der bereits in der ersten Vor­lesung ener­gisch von sich wies, „Lite­ratur über­haupt in irgend­einer Form für lehrbar zu halten.“
  Gleichwohl hat er als Thema der Veranstaltung an die Tafel geschrieben: „Leben und Schreiben – der Existenzauftrag der Schrift.“ Dann hat er seinen Foto­apparat gezückt und erst mal das Auditorium aufgenommen. Anschließend hat er den Teil­nehmern recht komplizierte Aufgaben gestellt, etwa die, eine möglichst „sub­textfreie“ (also nichtliterarische) Eröffnung zu einer Kurz­geschichte zu schreiben, weil die Welt oder das Leben, so Goetz, „immer interes­santer ist als die Literatur.“ Doch er lehrte auch: Nur wer viel lese und sich vom Gelesenen wieder freimache, könne Schreiben lernen. Lesen sei „Ich-Aufgabe, Ich-Auflösung.“ Schließlich fragte Goetz reihum die irritierten Studenten, warum sie Schrift­steller werden wollten und nicht etwa Immobilien­makler. Die Antworten der jungen Menschen über­zeugten so wenig wie ihre Texte.
  Im jüngsten Heft von Sinn und Form geht es zentral um das Lesen, beginnend mit einem Vortrag des däni­schen Schrift­stellers und Philosophen Georg Brandes, der im März 1900 in Wien gehalten wurde, in Gegenwart Sigmund Freuds. Schon damals fiel Brandes auf, dass es „in unseren Tagen wenige gibt, die überhaupt lesen, die gern lesen und aus ihrer Lektüre Gewinn ziehen. Seit alle lesen, ist Lesen fast eine aussterbende Fertigkeit.“ Die meisten lesen laut Brandes höchstens Zeitungen, und zwar so, „dass sie es genauso gut lassen könnten“, also ohne die nötige Aufmerk­samkeit. Hingegen habe er Bücher, die ihm teuer sind, mehr als zehnmal gelesen und sich an ihnen festgebissen. Das Lesen könne uns „ein schärferes Gespür für das Wertvolle geben.“
  Das mag etwas bildungsbürgerlich und daher für heutige Ohren lächerlich klingen, ein­schließ­lich der Klage über „schlechte Zei­tungen“, die ihre Leser mit „Skan­dal­ge­schichten“ mästen, ist jedoch keineswegs falsch, denn natürlich gibt es Schriften von höchst unter­schied­lichem Wert, solche, die verdummen, und solche, die einem etwas beibringen.
  Über die „Zukunft des Lesens“ und die „Würde des Wortes“ spricht mit ähn­lichem Ernst auch der 1955 geborene David Gelernter, Professor an der Yale Univer­sity und einer der Vordenker des Internet, in einem Vortrag vom Februar 2012. Internet und Cybersphäre stellten aufgrund ihrer Flüchtig­keit und Ent­behr­lichkeit „eine Bedrohung für die Integrität der Sprache“ dar. Sie schwächten die Konzen­tration, vor allem bei Kindern. Die Zukunft unserer Kultur werde somit nicht in realen, sondern in virtuellen Worten geschrieben, nicht auf Papier, sondern als digitaler Code in elektro­nischen neuen Medien. Wenn er könnte, wie er wollte, sagt Gelernter, würde er seinen Studenten in Yale nichts anderes anbieten als „einen Kurs in behut­samem Denken und klarem Schreiben“, natürlich anhand echter Bücher – für einen Computer­wissen­schaftler erstaun­liche Einsichten, die derzeit auch in den Feuilletons breit dis­kutiert werden.
  In diesem Jahr wurde der deutsch-jüdi­schen, in Straßburg leben­den Schrift­stellerin Barbara Honigmann der Eli­sabeth Lang­gäs­ser-Preis der Stadt Alzey ver­lie­hen. Ihre in Sinn und Form abge­druckte Dank­rede ist eine für solche Gelegen­heiten unge­wöhn­lich scharfe Abrech­nung mit der Namens­geberin. Elisa­beth Lang­gässer hing einem mystischen, anti­judais­tischen Katho­lizismus an und verdrängte die eigene (halb)jüdische Her­kunft so­lange, bis es zur Flucht aus Hitlers Reich zu spät war, beson­ders für ihre unehe­liche Tochter Cordelia, die als volljüdisch galt, während die Mutter auch durch eine „privi­legierte Mischehe“ geschützt war. Um zu verhin­dern, dass der Judenstern an der Tür angebracht wurde, musste Cordelia das Eltern­haus verlassen. Sie wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und überlebte dort in der Schreibstube.
  Barbara Honigmann fühlt sich als Jüdin heraus­gefordert. Sie artikuliert ihr Unbe­hagen am Mysti­zismus wie am ortho­doxen Katho­lizis­mus der Lang­gässer, sieht in ihr wohl auch eine Ver­räterin am Judentum. Mit ihrer Kritik rennt sie heutzutage offene Türen ein. Lang­gässer, die 1950 mit nur 51 Jahren starb, ist seit langem vergessen, ihr wort­gewal­tiges Werk passt nicht in unsere sich auf­geklärt gebende Zeit, ihr Funda­men­talismus irritiert höchstens.
  Trotz ihrer Selbst­gerechtigkeit, ihrem Schreib­zwang, ihren (vergeblichen) Ver­suchen, sich mit der Reichs­schrift­tums­kammer zu arran­gieren, kann man dieser wider­sprüch­lichen Frau nicht anlasten, dass sie, katholisch getauft und erzogen, dem Judentum fernstand, und man kann ihr auch nur schwer den Opferstatus absprechen. Denn sie musste sich in einer grausamen Zeit unter schwie­rigsten Bedin­gungen als Mutter von vier Kindern durchschlagen, dauernd in Angst und Geldnot, zudem an der Multiplen Sklerose erkrankt. Auch ihre Prosawerke und besonders die Gedichte sind nicht ohne Größe und Beharrungskraft und verdienten eine eingehende Beschäftigung und eine neue, philologisch zuverlässige Edition. Sie verfügte auch über leise, volks­lied­hafte Töne: „Ihr wunden Wasser­flächen, / was rillte euren Lauf? / Ach, aus der Tiefe brechen / die alten Schmerzen auf …“


die horen: Nr. 246, 2012   externer Link
(Jürgen Krätzer, Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 16,50 €.

Merkur: Heft 8, August 2012   externer Link
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12 €.

Sinn und Form: Heft 4, 2012   externer Link  
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9 €.

Michael Buselmeier   19.09.2012        

 

 
Michael Buselmeier
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