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September 2012
Nach einer kleinen Pause sind die horen wieder da mit der 246. Ausgabe und mit neuem, verbessertem Layout, neuem Herausgeber (Jürgen Krätzer), neuem Verlag, dem vielseitig engagierten Wallstein Verlag aus Göttingen. Sonst hat sich zum Glück nicht allzu viel geändert, es geht also weiterhin, viermal pro Jahr, um die ganze Literatur und deren Kritik in umfangreichen Bänden, die sich keineswegs auf Deutschland und die Gegenwart beschränken. Für den scheidenden Herausgeber Johann P. Tammen gibt es einen Blumenstrauß aus launigen Abschiedstexten.
Der vorliegende Band, zusammengestellt von Jürgen Krätzer und der Lyrikerin Kerstin Preiwuß, hat „Dichter über Dichter“ zum Thema. Jeder Lyriker, heißt es im Vorwort, könne gewiss einen anderen nennen, der ihn entscheidend geprägt hat, ein Gedicht, das er liebe und das ihm nicht mehr aus dem Kopf gehe. Doch da als Vorbilder und Anreger in der Regel Dichter aus der Vergangenheit dienen, Hölderlin, Eichendorff oder Rilke, spitzen die Herausgeber ihre Frage zu: „Welches Gedicht aus jüngerer Zeit“ schaffte es, einen zum Staunen zu bringen?
Eingeladen waren um die zwanzig Lyriker, auf persönliche Weise über ein Gedicht eines von ihnen bewunderten Generations- Genossen nachzudenken. Dieser wiederum sollte auf den ihm gewidmeten Text erklärend antworten, damit so eine Art Gespräch über Gedichte zustande komme. Dass es bereits Anthologien gibt, in welchen Autoren einander wechselseitig kommentieren, spricht nicht gegen das horen-Projekt. Auch die Auswahl der Eingeladenen lässt sich rechtfertigen. Es handelt sich überwiegend um Poeten, die zwischen 30 und 50 Jahre alt sind und zu den relativ Erfolgreichen, im Betrieb Allgegenwärtigen zählen. Man schätzt und lobt einander, ist oft auch befreundet.
Nicht wenige der abgedruckten Texte haben mich zum Grübeln angeregt. Sie sind von hoher Qualität und ermöglichen poetologische Einsichten, die den innersten Kern der Lyrik berühren. Kathrin Schmidt etwa schildert, was sie in Marion Poschmanns virtuoses Gedicht Grund zu Schafen immer wieder hineinlockt. Es ist keine herkömmliche Interpretation, auch kein philologischer Kommentar, sondern ein kleiner poetischer Essay, ein Paralleltext mit eingestreuten Kindheitserinnerungen. Poschmann wiederum erläutert heiteren Tons, wie ihr Gedicht entstanden sei – nach einer Phase des Brütens „in einem Rutsch aufs Papier“. Und sie erklärt auch, dass es ihr um „Unschärfe“ gehe, um ein kaum konturiertes Ich, einen leeren Raum, einen „Möglichkeitsraum“: „Kochbirnen Walnüsse Gras / es war weiß es war rot es war grau / Mosaike aus Bauschutt verlorenes / Material wir verhielten uns unsichtbar…“
Wie sehr den heutigen Lyriker gerade das Unbekannte, Undeutliche, Rätselhafte an der Sprache reizt, fremdartige Wörter, die sich aneinander reiben, ja eine Art „Urerfahrung vor der Sprache“, macht Nico Bleutge überzeugend an Marcel Beyers Gedicht Dunkle Augen deutlich, das so beginnt: „In manchen Stunden werden meine Augen / dunkel, dann rase ich zurück in meine / Dunkelheit, bevor die ersten Worte / kamen…“ Bleutge tastet sich an die Geheimnisse des Schreibens heran, legt schichtweise Erinnerungsreste aus der frühen Kindheit frei, „Fetzen der Vergangenheit“, die sich in der Sprache abgelagert haben; er stellt Fragen an Beyers Gedicht, ohne rasche Antworten zu erwarten. Beyer selbst steuert erhellende Details zur Genese seiner Verse bei.
Nicht zuletzt befragt Norbert Hummelt Wort für Wort, wissend und tiefgründig, das recht komplizierte Gedicht Nachtigallen der jungen Nadja Küchenmeister, das so einsetzt: „störgeräusche, nachtigallen. auf eine spur gebannt / vor tagen, nachts. du schneidest immer mit. dein / trommlerherz … dein ausgebranntes kondensat“ Die Dichterin schaffe, lobt Hummelt, „eine lebendige Einheit des Brüchigen“, sie binde den „Haufen zerbrochener Bilder“ auf elektrisierende Weise zusammen.
Im Augustheft des Merkur findet sich ein sympathetischer Bericht von Jan Kedves über Vorlesungen und Seminare, die der Schriftsteller Rainald Goetz im Mai dieses Jahres an der Freien Universität Berlin abgehalten hat. Im Rahmen der gut dotierten Heiner Müller-Gastprofessur unterrichtete Goetz an vier aufeinander folgenden Samstagen „literarisches Schreiben“ – ein etwas schräger, leicht genervter Dozent, der bereits in der ersten Vorlesung energisch von sich wies, „Literatur überhaupt in irgendeiner Form für lehrbar zu halten.“
Gleichwohl hat er als Thema der Veranstaltung an die Tafel geschrieben: „Leben und Schreiben – der Existenzauftrag der Schrift.“ Dann hat er seinen Fotoapparat gezückt und erst mal das Auditorium aufgenommen. Anschließend hat er den Teilnehmern recht komplizierte Aufgaben gestellt, etwa die, eine möglichst „subtextfreie“ (also nichtliterarische) Eröffnung zu einer Kurzgeschichte zu schreiben, weil die Welt oder das Leben, so Goetz, „immer interessanter ist als die Literatur.“ Doch er lehrte auch: Nur wer viel lese und sich vom Gelesenen wieder freimache, könne Schreiben lernen. Lesen sei „Ich-Aufgabe, Ich-Auflösung.“ Schließlich fragte Goetz reihum die irritierten Studenten, warum sie Schriftsteller werden wollten und nicht etwa Immobilienmakler. Die Antworten der jungen Menschen überzeugten so wenig wie ihre Texte.
Im jüngsten Heft von Sinn und Form geht es zentral um das Lesen, beginnend mit einem Vortrag des dänischen Schriftstellers und Philosophen Georg Brandes, der im März 1900 in Wien gehalten wurde, in Gegenwart Sigmund Freuds. Schon damals fiel Brandes auf, dass es „in unseren Tagen wenige gibt, die überhaupt lesen, die gern lesen und aus ihrer Lektüre Gewinn ziehen. Seit alle lesen, ist Lesen fast eine aussterbende Fertigkeit.“ Die meisten lesen laut Brandes höchstens Zeitungen, und zwar so, „dass sie es genauso gut lassen könnten“, also ohne die nötige Aufmerksamkeit. Hingegen habe er Bücher, die ihm teuer sind, mehr als zehnmal gelesen und sich an ihnen festgebissen. Das Lesen könne uns „ein schärferes Gespür für das Wertvolle geben.“
Das mag etwas bildungsbürgerlich und daher für heutige Ohren lächerlich klingen, einschließlich der Klage über „schlechte Zeitungen“, die ihre Leser mit „Skandalgeschichten“ mästen, ist jedoch keineswegs falsch, denn natürlich gibt es Schriften von höchst unterschiedlichem Wert, solche, die verdummen, und solche, die einem etwas beibringen.
Über die „Zukunft des Lesens“ und die „Würde des Wortes“ spricht mit ähnlichem Ernst auch der 1955 geborene David Gelernter, Professor an der Yale University und einer der Vordenker des Internet, in einem Vortrag vom Februar 2012. Internet und Cybersphäre stellten aufgrund ihrer Flüchtigkeit und Entbehrlichkeit „eine Bedrohung für die Integrität der Sprache“ dar. Sie schwächten die Konzentration, vor allem bei Kindern. Die Zukunft unserer Kultur werde somit nicht in realen, sondern in virtuellen Worten geschrieben, nicht auf Papier, sondern als digitaler Code in elektronischen neuen Medien. Wenn er könnte, wie er wollte, sagt Gelernter, würde er seinen Studenten in Yale nichts anderes anbieten als „einen Kurs in behutsamem Denken und klarem Schreiben“, natürlich anhand echter Bücher – für einen Computerwissenschaftler erstaunliche Einsichten, die derzeit auch in den Feuilletons breit diskutiert werden.
In diesem Jahr wurde der deutsch-jüdischen, in Straßburg lebenden Schriftstellerin Barbara Honigmann der Elisabeth Langgässer-Preis der Stadt Alzey verliehen. Ihre in Sinn und Form abgedruckte Dankrede ist eine für solche Gelegenheiten ungewöhnlich scharfe Abrechnung mit der Namensgeberin. Elisabeth Langgässer hing einem mystischen, antijudaistischen Katholizismus an und verdrängte die eigene (halb)jüdische Herkunft solange, bis es zur Flucht aus Hitlers Reich zu spät war, besonders für ihre uneheliche Tochter Cordelia, die als volljüdisch galt, während die Mutter auch durch eine „privilegierte Mischehe“ geschützt war. Um zu verhindern, dass der Judenstern an der Tür angebracht wurde, musste Cordelia das Elternhaus verlassen. Sie wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und überlebte dort in der Schreibstube.
Barbara Honigmann fühlt sich als Jüdin herausgefordert. Sie artikuliert ihr Unbehagen am Mystizismus wie am orthodoxen Katholizismus der Langgässer, sieht in ihr wohl auch eine Verräterin am Judentum. Mit ihrer Kritik rennt sie heutzutage offene Türen ein. Langgässer, die 1950 mit nur 51 Jahren starb, ist seit langem vergessen, ihr wortgewaltiges Werk passt nicht in unsere sich aufgeklärt gebende Zeit, ihr Fundamentalismus irritiert höchstens.
Trotz ihrer Selbstgerechtigkeit, ihrem Schreibzwang, ihren (vergeblichen) Versuchen, sich mit der Reichsschrifttumskammer zu arrangieren, kann man dieser widersprüchlichen Frau nicht anlasten, dass sie, katholisch getauft und erzogen, dem Judentum fernstand, und man kann ihr auch nur schwer den Opferstatus absprechen. Denn sie musste sich in einer grausamen Zeit unter schwierigsten Bedingungen als Mutter von vier Kindern durchschlagen, dauernd in Angst und Geldnot, zudem an der Multiplen Sklerose erkrankt. Auch ihre Prosawerke und besonders die Gedichte sind nicht ohne Größe und Beharrungskraft und verdienten eine eingehende Beschäftigung und eine neue, philologisch zuverlässige Edition. Sie verfügte auch über leise, volksliedhafte Töne: „Ihr wunden Wasserflächen, / was rillte euren Lauf? / Ach, aus der Tiefe brechen / die alten Schmerzen auf …“
die horen: Nr. 246, 2012
(Jürgen Krätzer, Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 16,50 €.
Merkur: Heft 8, August 2012
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12 €.
Sinn und Form: Heft 4, 2012
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9 €.
Michael Buselmeier 19.09.2012
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Michael Buselmeier
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