Juli 2010
Wozu literarische Zeitschriften fähig und weshalb sie notwendig sind, demonstriert einmal mehr Sinn und Form. Das jüngste Heft ist voll von Anregungen, eine geistige Fundgrube, beginnend mit Roger Cailloirs' luzidem Essay über Antoine de Saint-Exupéry, der bekanntlich im Hauptberuf Pilot war und sich mit seiner Lebenserfahrung für das, was er schrieb, verbürgte. Chaim Noll, halb Universalwissenschaftler, halb Dichter, berichtet Faszinierendes über die unaufhaltsam expandierenden Wüsten, Trockengebiete und Steppen überall auf der Welt, die Saint-Exupéry überflog. Nicht wenige Wüsten waren einst blühendes Land, das dem Raubbau zum Opfer fiel.
Für den Menschen bewohnbar ist die Steppe, sind auch Wüstenrandgebiete, wo große Flüsse sich mit dem Trockenland berühren. Hier, der Wüste buchstäblich abgerungen, entstanden die ersten Hochkulturen, die ägyptische und die babylonische Schriftkultur. Die Entstehung der Schrift ist – so Chaim Noll – „ursächlich mit dem Topos Wüste verbunden.” In den biblischen Psalmen, die um 1000 vor unserer Zeit aufgeschrieben wurden, werde die Wüste „als Fluchtort, als Refugium und Ort spiritueller Erneuerung” geschildert; eine Welt des totalen Mangels und zugleich der Selbstfindung und der unbegrenzten Möglichkeiten, der Menschenferne und der Gottesnähe. Insofern beherberge die Wüste immer auch Hoffnungen auf einen Neubeginn. So haben das auch die Dichter, von den mosaischen Büchern bis zu Saint-Exupéry, Thomas Mann und T.S. Eliot ( The Waste Land) gesehen.
Briefwechsel, Tagebücher und lange Gespräche passen gut in Zeitschriften; allein typographisch lockern sie die Front der oft theoretisch überfrachteten Essays auf und verführen durch biographische Nähe zum Lesen. So äußert sich (ebenfalls in Sinn und Form) Hans Magnus Enzensberger im Gespräch mit Thomas Wild zu Hannah Arendt, mit der er 1965, anlässlich ihres Essaybands Politik und Verbrechen einen Briefwechsel führte, der damals in der Zeitschrift Merkur veröffentlicht wurde.
Schon Jahre zuvor, 1951, als Freiburger Student, war Enzensberger durch Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beeinflusst worden. Arendt habe es darin verstanden, Herrschaftstechniken faschistischer wie kommunistischer Regime hellsichtig und rücksichtslos darzustellen. Sie hatte Mut und Scharfsinn, war geistig unabhängig, so Enzensberger bewundernd. „So etwas wie political correctness existierte für sie nicht.” Sie wollte selber sehen, selber denken und nicht dem folgen, was andere sagen.
Sinn und Form veröffentlicht auch den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Hilde Domin, der 1960 beginnt und 1963 abbricht, ohne dass Gründe dafür genannt werden. Man schickte einander die eigenen Bücher, erinnerte sich der „gemeinsamen Anhänglichkeit an Jaspers”, bei dem beide in Heidelberg studiert haben. Hilde Domin, noch in Spanien lebend, erzählt von ihrer geplanten Rückkehr nach Heidelberg, wobei Hannah Arendt sie bestärkt. Das einzige Zusammentreffen der beiden missrät, weil Domin „nach einer durchweinten Nacht” zu einem „vernünftigen Gespräch” nicht fähig ist. Nur einmal horcht man aus heutiger Sicht auf, wenn Hilde Domin im Herbst 1961 von einer Rede Willy Brandts berichtet, die sie ganz davon überzeugt habe, „dass man ihn einfach nicht wählen kann. Adenauer beruhigend mit seiner zivilen und patriarchalischen Stimme. Brandt, hetzend voll Bierpatriotismus, nach bewährtem Muster fast.”
Viel Raum nimmt in Sinn und Form der Briefwechsel zwischen Klaus Mann und dem kaum bekannten Herbert Schlüter ein. Sie lernten sich 1926 als 20jährige kennen und verstanden sich spontan als „Zwillingsbrüder”. Sie bemühten sich um Liebespartner und erste Veröffentlichungen ihrer eher unpolitischen, spielerisch-preziösen Prosa, wobei Klaus Mann schon durch seinen berühmten Namen dem Freund stets einige Schritte voraus war.
Diese schwerelose Zeit war spätestens 1933 zu Ende. Die Freunde emigrierten, schrieben einander Briefe, von denen ein Teil verloren gegangen ist. Schlüter lebte zunächst auf Mallorca, später in Dubrovnik und in Ischia in „allerbitterster Armut”, sandte Bettelbriefe in alle Welt, Hilferufe sogar an Thomas und Kaja Mann nach Kalifornien. 1940 wurde er als Dolmetscher zur Luftwaffe eingezogen und in Catania stationiert. Er überlebte, zog nach dem Krieg nach München, wo er vor allem als Übersetzer tätig war. Im Jahr 2004 starb er dort, 55 Jahre nach seinem Freund Klaus Mann. 2008 wurde sein erster Roman Nach fünf Jahren wieder aufgelegt.
In den Akzenten berichten Elisabeth Edl und Wolfgang Matz über die Freundschaft zwischen Giuseppe Ungaretti und Philippe Jaccottet, die „fast eine Liebesgeschichte” und zugleich ein strenger und detaillierter Arbeitsprozess war. Als sie sich 1946 zum ersten Mal trafen, war der Schweizer Jaccottet 21 Jahre alt, Ungaretti hingegen 58 und eine beherrschende Gestalt der italienischen Poesie. Von 1946 bis zu Ungarettis Tod im Jahr 1970 reicht der nun in den Akzenten dokumentierte Briefwechsel. Er enthält nur weniges an Privatem; im Mittelpunkt steht Ungarettis Werk. Man arbeitete gemeinsam an vier Büchern, die Jaccottet ins Französische übertrug. Den Höhepunkt bildete 1973 die postume Gesamtausgabe von Ungarettis Gedichten.
Anders als andere Übersetzer hat Jaccottet den Ehrgeiz, unsichtbar zu bleiben, zu verschwinden hinter dem übersetzten Werk (z.B. Hölderlins, das er auch ins Französische übertragen hat). Auch als Dichter hält er wenig von eitlen Laborversuchen. Ein Gedicht, schreibt er zu Ungarettis 80. Geburtstag, „in dem Herz und Seele nicht die Hauptbeteiligten sind”, verdiene kaum diesen Namen.
In der jüngsten Ausgabe von Lettre International finden sich zwei Interviews, die der auf Künstlergespräche spezialisierte Heinz-Norbert Jocks geführt hat; zum einen mit dem aus Tübingen stammenden Kunsthistoriker und Kritiker Werner Spies, der seit 1960 in Paris lebt. Er hat mit Größen wie Nathalie Sarraute, Samuel Beckett und Marguerite Duras an Rundfunk-Projekten gearbeitet, über Picasso, Max Ernst und Duchamp Bücher verfasst und von 1997 bis 2000 das Centre Pompidou geleitet.
Spies spricht von seiner Leidenschaft für die Kunst der Moderne, vom existentiellen „Schock”, den ein Werk auslösen, dem „Risiko”, das ein Künstler auf sich nehmen müsse. Er preist den „nouveau roman”, der ganz auf die Beschreibung setze, auf „psychische Undurchdringlichkeit” der Figuren baue und das narrative Moment vernachlässige. Ähnlich undurchdringlich wirkt Spies selbst. Er weicht aus, gibt so gut wie nichts von sich preis, wirkt dadurch etwas blass und streberhaft – Eigenschaften, die gewiss eine gute Voraussetzung sind für den Umgang mit Künstlergrößen.
Ganz anders der Filmemacher, Theater- und Opernregisseur Werner Schroeter, der im vergangenen April gestorben ist. Er präsentiert sich im Gespräch unverstellt, spricht offen von seiner Homosexualität und seiner Krebserkrankung. Phantasie, wie er sie als Kind mit Hilfe seiner polnischen Großmutter entwickeln konnte, bedeute „Widerstand”; mit ihr gewappnet, lasse sich die Unerträglichkeit ertragen. Schon früh habe er die Callas im Radio gehört und sie zu seinem Idol gemacht: „Die Callas rettete mir durch ihre Art des klarsten Ausdrucks, ohne es zu wissen, das Leben.”
Er habe später, sagt Schroeter, in seiner Arbeit nur das verwirklicht, was ihn schon als Kind fasziniert habe: „Viel Neues kommt da nicht hinzu.” Wer Kunst mache, sollte sich das Kindliche bewahren. Eines der ersten Bücher, in denen Schroeter sich gespiegelt fand, war Der Fremde von Albert Camus, „einer, der nichts hat und einfach nur herumläuft.”
Erhellend auch Schroeters Diktum, er wolle als Theaterregisseur dem Text eines Dichters „dienen” (statt ihn zu überwältigen). Er sieht das Theater als ästhetische „Gegenkraft” zur „Zerstörungsmacht des Fernsehens”, während man heute ja den Eindruck gewinnt, das Theater passe sich stilistisch den Unterhaltungsmedien immer mehr an.
„Das Land boomt” – verkündet die Redaktion der Zeitschrift Literaturen in ihrem Juli/August-Heft, nur weil es ihr gelungen ist, weltweit ganze sechs Erzählwerke aufzuspüren, die in diesem Jahr erschienen sind und von den Schwierigkeiten des Landlebens handeln. Seit es große Städte gibt, sehnen sich die Menschen und mit ihnen die Dichter nach der Natur, dem „unverfälschten Leben”. Dort draußen wollen sie endlich Ruhe finden, auch wenn sie ahnen, dass das Landleben voller Tücken ist.
Jörg Magenau, vor kurzem noch Redakteur der vom Sparzwang gebeutelten Literaturen, beginnt seinen „Aufs Land!” überschriebenen Aufsatz nicht mit Theokrit, Vergil oder der barocken Schäferpoesie, auch nicht mit Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer, der eine konservative Utopie vom Landleben entwirft, sondern mit den „Landpartien” des späten 19. Jahrhunderts, wie sie Guy de Maupassant schildert. Der Sonntagsausflug erlaube es den Privilegierten, „die Vorzüge des Landes zu genießen, ohne die eigene Lebensweise aufzugeben.”
Echte Natursucher gehen radikaler vor, sie verlegen ihre Existenz ganz aufs Land, um neue Lebensformen zu erproben. Magenau nennt den „Monte Verità” oberhalb von Ascona, der die Verbindung von Kunst, Natur und Wahrheit schon im Namen verdeutlicht. Hier entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Künstlerkolonie, die als Vorform der Landkommunen der Hippies gelten kann. Östliche Meditation und Psychoanalyse, Anarchismus und Anthroposophie fanden zusammen.
Hier wäre die Möglichkeit gewesen, auf die kulturrevolutionären Landkommunen der 70er und 80er Jahre einzugehen, etwa auf die „Head Farm Odisheim”, die der Dichter und Gärtner Helmut Salzinger in der feuchten Region zwischen Weser und Elbmündung gründete. Dort hat er drei Jahre lang, im Rhythmus der Jahreszeiten, die hervorragende Zeitschrift Falk herausgegeben.
Sinn und Form: Heft 3, 2010
Postfach 21 02 50, 10502 Berlin, 9,- €
Akzente: Heft 3, Juni 2010
Vilshofener Straße 10, 81679 München, 7,90 €
Lettre International: Nr. 89, 2010
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 11,- €
Literaturen: Juli/August 2010
Knesebeckstraße 59-61, 10719 Berlin, 9,80 €
Michael Buselmeier 14.07.2010
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Juli 2010
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Michael Buselmeier
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