Januar 2009
Die österreichische Zeitschrift Literatur und Kritik wurde 1965 von Gerhard Fritsch, Rudolf Henz und Paul Kruntorad begründet und 1991 unter der Leitung von Karl-Markus Gauß „redaktionell erneuert“, was damals zu heftigen kulturpolitischen Auseinandersetzungen führte. Seit jener Erneuerung – so sehen es jedenfalls Gauß und seine Freunde – habe Literatur und Kritik bewiesen, dass es möglich sei, „in Österreich eine Zeitschrift von europäischem Anspruch“ zu gestalten – womit Literatur und Kritik freilich keineswegs allein steht, wenn man an so bedeutende österreichische Organe wie manuskripte und wespennest, aber auch an untergegangene Blätter wie das Neue Forum, die protokolle oder die Gegenwart denkt.
Schaut man sich die jüngsten Hefte genauer an, so erscheint Literatur und Kritik eher als spezifisch österreichische denn als internationale Zeitschrift, sieht man von den einleitenden „Kulturbriefen“ einmal ab. Eine Neigung zum Grotesken und Melancholischen ist auszumachen, auch zur Mundart und dankenswerterweise zu oft ganz vergessenen Schriftstellern. Die Mitarbeiter kommen überwiegend aus Österreich; auch die besprochenen Bücher stammen in der Regel von österreichischen Autoren oder wurden zumindest in österreichischen Verlagen publiziert.
Damit soll nicht behauptet werden, man favorisiere hier eine Heimatdichtung älterer Art. Naturgemäß geben sich Gauß und seine Mitstreiter links und antifaschistisch, doch in einem bestimmten Sinn auch wieder konservativ, was die launigen Editorials des Herausgebers gelegentlich untermalen. So meint er im Novemberheft, die Zeiten stünden auf „Relaunch“, was bedeutet, dass etwa eine Zeitschrift, an deren Layout man sich gerade gewöhnt hat, mit einer nagelneuen Aufmachung ins Rennen geschickt wird, wodurch „die Leser daran erinnert werden, dass fast alles, was in der Welt verbessert wird, erheblich zu deren Verschlechterung beiträgt.“ Relaunch werde es jedenfalls bei Literatur und Kritik so bald keinen geben.
Daniela Strigl erinnert an den 2008 recht verhalten begangenen 100. Geburtstag von Hans Weigel und Friedrich Torberg. Beide waren in den ersten Nachkriegsjahrzehnten gefeierte Romanciers, Feuilletonisten und umstrittene Polemiker, beide waren österreichische Juden, Emigranten und frühe Rückkehrer nach Wien (Weigel bereits 1946, Torberg 1951), beide erbitterte Antikommunisten, was ihnen von manchen noch immer angekreidet wird. So erscheinen beide heute sehr unzeitgemäß, und es besteht Unsicherheit darüber, wie ihr umfangreiches Lebenswerk zu bewerten sei.
Das Dossier des Novemberhefts widmet sich „Orten der Literatur“. Gemeint sind sowohl Orte, an denen bestimmte Werke entstanden sind, als auch solche, die Eingang in die Literatur gefunden haben, etwa die Alpen, die der Schweizer Aufklärer Albrecht von Haller 1729 in einem berühmten Lehrgedicht in gereimten Alexandrinern besungen hat. Haller – so die zu hochfahrendem Poetenton neigende Marie-Thérèse Kerschbaumer – betrachtete die Natur mit dem Auge des Mediziners und Botanikers, sein Vorbild war Vergil. Kerschbaumer schlägt einen Bogen zu Julian Schuttings fünf Elegien Auf den Dachstein (2002) und zu Hans Haids Prosawerk über die gefährdete Alpenlandschaft mit dem Titel Similaun aus dem Jahr 2008.
Susanne Schaber stattet dem Haus des 1985 gestorbenen englischen Dichters und Mythenforschers Robert Graves auf Mallorca einen Besuch ab; Gerhard Zeillinger berichtet mehr über seine eigene als über Theodor Storms Erholungsreise nach Sylt im August 1887 und die Entstehung des Schimmelreiters; Hans Raimund schreibt über Adalbert Stifter, den er wenig schätzt, und die schöne Stadt Triest, die Stifter bei seiner einzigen Norditalien-Reise 1857 aufgesucht hat.
Die Aufzeichnung ist eine literarische Form, die zwischen Genres wie Tagebuch, Feuilleton-Glosse, Prosagedicht changiert, doch deshalb keineswegs – wie es im Dossier der Septemberausgabe von Literatur und Kritik anklingt – zur minder geachteten Kunst zählt. Gerade die Kenner unter den Lesern, erst recht die meisten Autoren, goutieren Journale. Daß die Aufzeichnung eine poetische Grundgebärde darstellt, bezeugen Beispiele von Rilke bis Brinkmann, von Kafka über Ernst Jünger bis Handke und Walter Helmut Fritz. Leider fehlt den meisten der nun in Literatur und Kritik vorgestellten Texten dieser radikal selbstbefragende oder auch detailbesessene Forschergestus. Allein der 1948 geborene Bernhard Hüttenegger berichtet von einer lebensbedrohenden Krankheit, die ihn 2006 ereilte und ihn zwang, „den Blick auf das Wesentliche“ zu richten. Zugleich leidet er darunter, als Schriftsteller ignoriert zu werden: „Kein Ehrgeiz mehr. Keine Hoffnungen bezüglich der Rezeption meines Werks…Hypochondrie, Angst vor Partnerverlust, Alter, Tod.“ Clemens Berger steuert intime Reisenotizen aus dem weithin unbekannten Polizeistaat Syrien bei.
Um die Kunst des Tagebuchs geht es im Januar/Februar-Heft der Zeitschrift Literaturen. Das Tagebuch hat ein Doppelgesicht, es ist intime Selbstaussage und oft zugleich (im Fall von Autoren-Journalen) an die Öffentlichkeit gerichtet. Über die Verletzungen der Diskretion, die sich daraus ergeben können, sowie über die Erfolge der Gattung überhaupt diskutierten 1972 Elias Canetti, Max Frisch, Uwe Johnson und Lars Gustafsson unter der Leitung von Walter Höllerer im Literarischen Colloquium in Berlin, wovon Literaturen eine stark gekürzte Fassung veröffentlicht.
Jemand schreibe ein Tagebuch, wenn seine Beziehungen zur Umwelt eingeschränkt sind, also aus therapeutischen Gründen, meint Uwe Johnson. Man versuche so, mit dem Leben fertig zu werden und Dinge zu benennen, die man einem anderen gar nicht sagen kann. Gegenüber diesem „echten“ Tagebuch, so Max Frisch, enthalte sein „literarisches“, von vornherein zur Publikation vorgesehenes Journal Entwürfe, Skizzen, die er aus Zeitgründen nicht ausführen könne, darunter natürlich auch Erfundenes. Es sei eine literarische Form wie etwa ein Briefroman. Hingegen behauptet Canetti, man entwickle im geheimen Tagebuch allmählich „eine Beziehung zu einem Partner, der man selbst ist.“ Er nennt dieses Selbst den „grausamen Partner.“ Mit ihm führe man einen ebenso wirklichen wie erbarmungslosen Dialog.
Ein Zufall des Buchmarkts will es, dass fast gleichzeitig die ersten beiden Bände der Tagebücher von Sándor Márai und der letzte Band der Tagebücher von Virginia Woolf erscheinen. Beide Journale protokollieren die Weltkriegsjahre, die der ungarische Autor in einem Dorf nicht weit von Budapest und die englische Erzählerin in einem Dorf nicht weit von London erlebten. Sigrid Löffler schildert Márai als skeptischen „verspäteten Bürger“, als unerbittlichen „Anachronisten“, der von etwa 1943 an seine Romane nur noch für die Schublade schrieb und sich bis zu seinem Tod 1989 vor allem auf das Tagebuch konzentrierte. Frauke Meyer-Gosau beschreibt Virginia Woolf, die sich im März 1941 das Leben nahm, als eine eher pragmatische Tagebuchschreiberin: Das Journal sei für die professionell arbeitende Schriftstellerin primär „eine Stoffsammlung zur persönlichen Weiterverwendung“ gewesen.
Bereits in zwei früheren Ausgaben der Grazer manuskripte aus dem Jahr 2007 hat Peter Handke isolierte, in chronologischer Folge datierte Sätze unter dem Titel „Unwillkürliche Selbstgespräche“ veröffentlicht, die sich zu einer Art Selbstporträt fügen sollten. Im jüngsten Heft seiner Lieblingszeitschrift versammelt er nun „Sätze im Aufwachen“, notiert zwischen dem 16. Mai und dem 14. Oktober 2008. Wie immer geht es ihm um Genauigkeit der Wahrnehmung, um eine Schulung der Aufmerksamkeit, die sich hier freilich nicht, wie sonst in Handkes Texten, auf vergehende Momente, Bilder oder ganze Szenen richtet, sondern auf karge, unverbundene Sätze, so vor sich hingesagt oder „im Aufwachen“ aufgeschnappt, Sätze wie: „So schön im Garten. Komm.“ Oder: „Wie lange den Pilz braten? Drei Zeilen lang.“ Oder: „Du bist mein Untergang, aber es gibt Schlimmeres.“
Als Handke 2007 der Thomas Mann-Preis der Bayerischen Akademie verliehen wurde, hielt Hubert Burda die nun in den manuskripten abgedruckte Laudatio, eine Freundesrede. Burda kennt Handkes umfangreiches Werk genau, doch er geht nicht wie ein Germanist oder Literaturkritiker vor, sondern wie ein klassischer Mäzen und Liebhaber auch schwer zugänglicher Bücher, indem er vor allem deren poetisch gewichtige Eingangssätze abwägt und dabei beschreibt, was sie für ihn bedeutet haben und noch bedeuten, von der aufrüttelnden Publikumsbeschimpfung bis zu Mein Jahr in der Niemandsbucht, worin der Erzähler am Ende, wie Odysseus, nach Hause zurückkehre.
Dieses Verständnis ist umso erstaunlicher, als Burda ja hauptsächlich ein Vertreter der Geldwelt ist, Erbe und Herr eines Medienkonzerns, der im großen Stil mit Nachrichten handelt und das scheinhafte Unterhaltungsgewerbe am Laufen hält. Doch Burda ist auch zum Innehalten fähig, zur Langsamkeit, zur mystischen Erfahrung. Ein Roman wie Langsame Heimkehr habe auch sein Leben verändert. Die Lehre Peter Handkes bestehe darin, „dass der geglückte Tag nicht der ist, den man als eine Fülle von schönen und ereignisreichen Momenten erlebt, sondern nur der, der sich ereignet, indem man ihn beschreibt.“
Der noch immer hoch berühmte Dramatiker Heiner Müller, gestorben 1995, wäre am 9. Januar 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass fand in der Akademie der Künste in Berlin eine Gedenkfeier statt, wobei prominente Laien-Rezitatoren, darunter Politiker und Unternehmer, Passagen aus Müller-Interviews vortrugen. Kaum einer hat die Kunst des Interviews so wie er beherrscht. Im Gespräch entwickelte er seine Ideen, im Dialog entfaltete sich seine Lust am koketten Widerspruch und an der schrillen Pointe.
Zu seinem 80. Geburtstag sind im Suhrkamp Verlag drei dicke Bände erschienen, die alle Gespräche mit Müller von 1965 bis 1995 enthalten. Das Januarheft von Theater heute veröffentlicht daraus Zitaten-Schnipsel, letzte Worte sozusagen, die oft aphoristischen Charakter annehmen: „Du musst einverstanden sein auch mit der Gewalt, mit der Grausamkeit, damit du sie beschreiben kannst.“ Die Kunst sei eben alles andere als human. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, ein ganzes Gespräch, etwa mit dem Vorzugspartner Alexander Kluge, über Müllers Lieblingsthemen wie Politik, Geschichte, Krieg abzudrucken.
Literatur und Kritik: Nr. 429/430, 2008
Ernest Thun-Straße 11, A-5020 Salzburg, 9,- €
Literatur und Kritik: Nr. 427/428, 2008
Ernest Thun-Straße 11, A-5020 Salzburg, 9,- €
Literaturen: Heft 1/2, Januar/Februar 2009
Knesebeckstraße 59-61, 10719 Berlin, 9,50 €
manuskripte: Nr. 182, Dezember 2008
Sackstraße 17, A-8010 Graz, 10 €
Theater heute: Heft 1, Januar 2009
Knesebeckstraße 59-61, 10719 Berlin, 9,80 €
Michael Buselmeier 20.01.2009
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Januar 2009
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Michael Buselmeier
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