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Mai 2011
Märchen sind Erzählungen, die von wundersamen Begebenheiten berichten, von Königs- und Bauernkindern in Not, sprechenden Tieren, Zauberern, Zwergen und Hexen. In der Form des „Volksmärchens“ sind sie mündlich und anonym überliefert. Am bekanntesten wurden die ab 1812 veröffentlichten Märchen der Brüder Grimm, die überwiegend aus süddeutschen Quellen stammen und nicht selten heftig überarbeitet wurden.
Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift Kultur & Gespenster widmet sich ausschließlich der Märchensammlung, die der Professor der Germanischen Philologie Karl Müllenhoff 1845 publiziert hat. Es handelt sich um einen Teil seiner Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, ergänzt um ein Gespräch zwischen dem Mediävisten Hartmut Freytag und dem Künstler Alexander Rischer, der die Originalschauplätze der Märchen aufgesucht und fotografiert hat. Ein 300seitiges, spannendes Lesebuch mit heidnisch-christlichen Geschichten aus dem wilden Norden Deutschlands, die Müllenhoff – anders als die Grimms oder auch Theodor Storm – nicht „veredelt“, sondern „roh“ belassen hat.
Märchen haben viel mit Kindheit und Vorzeit zu tun. Im jüngsten Heft von Lettre International erinnert sich der Arzt Peter Fabjan im Gespräch mit Marek Kedzierski an seinen Halbbruder, der Dichter Thomas Bernhard. Schon als Kind habe sich Bernhard in der Familie als Außenseiter gefühlt, ein Zurückgesetzter, misstrauisch, verletzt und empört. Er habe sich in die Literatur geflüchtet und wie in Trance geschrieben, weil er bemerkt habe, dass er im normalen Leben untergehe. Während der sieben Jahre jüngere Bruder studieren durfte, kam Thomas Bernhard in der Schule nicht voran; er blieb bereits in der zweiten Klasse des Gymnasiums zweimal sitzen, was er in seinen autobiographischen Büchern stilisiert hat.
Bernhard war stets einsam. Über das, was er zu schreiben gedachte, pflegte er nur mit seinem „Lebensmenschen“, der „alten Dame“ Hedwig Stavianicek zu sprechen. Die Welt der Erotik sei ihm fremd gewesen, sexuelle Beziehungen unmöglich. Die ihm zugeneigten Frauen wurden, so Fabjan, „alle enttäuscht“. Aus solchen Schwierigkeiten heraus habe er geschrieben, sie seien der Motor seiner Dichtung gewesen. Bernhard habe mit seinen Schreiberfolgen „Höhepunkte“ erlebt, „mehr Glücksmomente als fast alle anderen Menschen.“ Und sehr erbärmlich, unter größten Schmerzen, ist er 1989 an einer Herzmuskelerkrankung gestorben, vom Bruder betreut – ein wahres „Martyrium“.
Um Ägypten, von den Pharaonen bis in die Gegenwart des gestürzten Präsidenten Mubarak, geht es in einem Gespräch, das der Dramaturg Frank Raddatz mit dem Ägyptologen Jan Assmann führte (ebenfalls in Lettre) – es ist so lehrreich und vielfältig anregend wie kaum ein anderes (freilich nur schwer wiederzugeben). Man erfährt etwa, dass die heutigen Ägypter keineswegs stolz auf die eigene Vergangenheit sind; nur die Kopten, die christliche Minderheit, fühlen sich als Erben dieser Hochkultur, die vom Nil und seinen Überschwemmungen geprägt war, bis der Bau des Assuan-Staudamms sie beendete.
Und plötzlich kehrt die Religion zurück, zum einen in Form des islamischen Fundamentalismus, zum andern als „Diskurs-Ereignis“. Das Thema „Monotheismus“ elektrisiert die Intellektuellen; Sigmund Freuds Buch Der Mann Moses erlebt nach 1990 eine Wiedergeburt. Laut Assmann tritt der Monotheismus bereits in den frühesten biblischen Quellen aggressiv auf, scharf zwischen Freund und Feind, Gläubigen und Ungläubigen unterscheidend, die letzteren umbringend und ihre Städte auslöschend. So verfährt Moses mit denen, die das Goldene Kalb umtanzen, ebenso verfahren Christen und Moslems mit ihren Abweichlern.
Der Märtyrertod ist tragisch, aber auch heroisch. Denn wer für Gott stirbt oder tötet, erlangt Unsterblichkeit im Paradies als Gotteskrieger. In polytheistischen Gesellschaften wie der altägyptischen existiert hingegen, so Assmann, eine „Ebene der Gemeinsamkeit“, es werden verschiedene Götter in Beziehung gesetzt und erkennen einander an. Denn wo der Mythos vorherrscht, also die Kreisform des Geschehens, gibt es kein Heil in einer wie immer ausgemalten Zukunft. Mit dem „Tod Gottes“ erstarken im 19. Jahrhundert die „diesseitigen Heilslehren“, Nationalismus und Kommunismus. Man will die Dinge nun selbst in die Hand nehmen und das Paradies auf Erden herbeizwingen.
Von „Gedächtniskunst“, „Erinnerungsorten“ handelt auch das jüngste Heft der Kritischen Ausgabe, einer von Studenten der Universität Bonn begründeten Zeitschrift für Germanistik. Walter Benjamins autobiographische Erinnerungen Berliner Kindheit um neunzehnhundert entstanden zwischen 1932 und 1938 im Pariser Exil. Die 30 Prosastücke konzentrieren sich um bestimmte Orte, Straßen und Plätze Berlins, die sich als Schnittpunkte von persönlichem und kollektivem Gedächtnis erweisen. Sie geben, so Christine Ruppert, „nicht nur die auslösenden Impulse für die individuellen Erinnerungen, sondern rufen darüber hinaus kollektive Inhalte wach, die das autobiographische Ich im Lauf seiner Sozialisation internalisiert hat.“ Besonders groß sind die Anteile kollektiven Erinnerns an einem nationalen Denkmal wie der Siegessäule. Wobei sich der Blick des Kindes der intendierten Aneignung preußischer Nationalgeschichte verweigert. Das Kind ignoriert, so Ruppert, die Großen der Geschichte und „interessiert sich für Nebenfiguren und Details.“
Am Beispiel autobiographischer Prosatexte von Angehörigen der 68er-Generation arbeitet Ruth Neubauer-Petzoldt die „mythische Überformung“ des Erinnerungsorts 1968 heraus: Neue, Identität stiftende „Heilige“ entstanden, etwa der 1967 erschossene Benno Ohnesorg als erster „Märtyrer“ der Bewegung, eine Art Gründungsmythos. Oder die revolutionäre, mittlerweile voll kommerzialisierte Ikone Che Guevara als alternativer Jesus Christus mit Baskenmütze und Knarre.
In der Reihe „Vergessene Autoren des 20. Jahrhunderts“ erinnert Tim Kangro an Heinrich Hauser und sein Werk. Geboren 1901 in Berlin, war Hauser Schriftsteller und Journalist, Fotograf und Filmemacher, er arbeitete auch als Seemann und Flieger, Stahlarbeiter im Ruhrgebiet und Farmer in den USA. Obwohl er anfangs mit den Nazis sympathisierte, ging er ins amerikanische Exil. 1948 kehrte er nach Deutschland zurück und war für kurze Zeit Chefredakteur der Illustrierten Stern. Schon 1955 starb er. Kangro stellt Hauser als einen Autor der Neuen Sachlichkeit vor, als Abenteurer und „problematischen Charakter“ zwischen zwei Welten – zwischen der elegischen Neigung zur alten Welt und einer neuen Welt der Technisierung und der Vermassung, die ihn durchaus faszinierte. Donner überm Meer, Hausers vielleicht bester Roman (von 1929), ist seit 2001 wieder im Buchhandel erhältlich. Auch Reiseberichte und Reportagen liegen vor, so der mit eigenen Fotos aus dem Ruhrgebiet durchsetzte Band Schwarzes Revier (1928, neu 2010)).
David Wagner ist ein einfühlsamer, fabelhaft lockerer und witziger Essayist. Seine Literatur-Kolumne im Märzheft des Merkur bezeugt es. Es ist Sommer, und der rheinländische Autor befindet sich gerade in Oberösterreich, im Haus seiner Tante, in dem sein Onkel, ein Landarzt, seine Praxis hat. Es gibt hier auch eine Bibliothek, und der Autor greift nach Adalbert Stifters unvollendetem Roman Die Mappe meines Urgroßvaters, der in einem ganz ähnlichen Haus spielt und von den Erlebnissen eines Landarztes im böhmischen Waldland im 18. Jahrhundert erzählt.
Ist das nicht mein Stoff, fragt David Wagner, und sind das nicht genau die Geschichten, die zu diesem Haus gehören? Stifter müsse es gekannt haben aus seiner Linzer Zeit als viel umher reisender Schulinspektor. Vielleicht hat das Haus ihn ja zu seiner „Phantasie von der verbesserten Welt“ inspiriert, diesem so „beschaulichen und zugleich verstörenden Werk.“
An einem anderen Tag greift der Kolumnist, noch immer im alten Haus der Tante, nach dem Buch Ein Landarzt von Franz Tumler (von 1972), das nun wirklich das Haus beschreibt, in dem Wagner sich aufhält, auch den Rosengarten und das Lusthaus am Ende des Obstgartens. Und man merkt, Wagner kann Tumler, der wohl in seine Tante verliebt war, nicht ausstehen, weder als Mensch noch als Schriftsteller – diesen SA-Mann und erfolgreichen völkischen Autor, der auch nach dem Krieg weiter mitmischte bei Tagungen der Gruppe 47 wie als Mitglied der Berliner Akademie der Künste. 1969 erhielt Tumler sogar die Adalbert Stifter-Medaille, die David Wagner, zumindest nach diesem Essay, weit besser stünde.
Im Aprilheft des Merkur rekapituliert Klaus Birnstiel die Historie des kleinen Merve-Verlags, dessen Archiv nun im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien zugänglich ist – eine Art „Wunderkammer“ der Geistesgeschichte der alten Bundesrepublik. Gegründet 1970 in West-Berlin, veröffentlichte Merve anfangs billig gedruckte Manifeste aus dem Umkreis der linksradikalen Studentenbewegung, kehrte sich jedoch spätestens 1980 vom dogmatisch erstarrten Marxismus ab und wandte sich dem wilden Denken aus Frankreich zu, besonders Michel Foucault und dem Autorenpaar Deleuze/Guattari mit seiner „Rhizom“-Theorie. Doch zunehmend begannen – wie bei fast allen linken Verlagen zu beobachten – die Schönen Künste das Politische aus dem Programm zu verdrängen, etwa ein Künstlerbuch Martin Kippenbergers, ein Gesprächsband mit John Cage. Merve, längst in jüngere Hände übergegangen, ist noch da.
Kultur & Gespenster: Nr. 92, Frühjahr 2011
(Textem Verlag, Gefionstraße 16, 22769 Hamburg), 12,- €.
Lettre International: Nr. 92, Frühjahr 2011
(Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 11,- €.
Kritische Ausgabe: Nr. 20, Frühjahr 2011
(Institut für Germanistik, Friedrich Wilhelms-Universität, Am Hof 1d, 53113 Bonn), 5,- €.
Merkur: Heft 3 und Heft 4 / 2011
(Mommsenstraße 27, 10629 Berlin), je Heft 12 €.
Michael Buselmeier 18.05.2011
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Michael Buselmeier
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