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November 2015
Die jüngste Ausgabe von Lettre International ist wie immer reich an aufregenden Themen und bietet Stoff für die unterschiedlichsten Gesprächskreise. Friedrich Dieckmann etwa schreibt über Marx und Engels und deren Verhältnis zu Martin Luther, über „Reformation und Revolution“. Hugh Roberts, ein Experte für nordafrikanische Geschichte, widmet sich den Voraussetzungen des Syrien-Konflikts und gelangt zum Ergebnis, dass die Politik des militärisch intervenierenden Westens im Nahen Osten bis dato eine einzige „Schande“ sei, für Irak, Libyen und jetzt auch für Syrien aber ein „Desaster“. Detlev Schöttker erinnert an Franz Kafkas vor 100 Jahren erstmals veröffentlichte Erzählung „Die Verwandlung“, die zu den fünf, sechs Meisterwerken der Moderne zähle. Schließlich berichtet der 1957 geborene Autor und Diplomatensohn Nicholas Shakespeare, ein später Nachfahre des großen Dichters, wie er im Alter von 16 Jahren dem erblindeten Schriftsteller Jorge Luis Borges vorlesen durfte (der übrigens Kafkas „Verwandlung“ ins Argentinische übersetzt hat).
Ein Konvolut von zehn Texten ist den „Theaterwelten“ gewidmet; darunter befinden sich umfangreiche Aufsätze über William Shakespeare und Christopher Marlowe. Das Rätsel Shakespeares beruhe, so der Spanier Andreu Jaume, „auf seiner Fähigkeit, hinter allen seinen Personen zu verschwinden“, ohne sich irgendeiner politischen oder moralischen Tendenz anzuschließen. Frank M. Raddatz beschwört Heiner Müllers „Schreckensszenarien“. In dessen Schreibprozessen, vom frühen „Philoktet“ bis zur „Hamletmaschine“, sei Gewalt stets gegenwärtig.
Raddatz hat für Lettre auch ein langes Gespräch mit dem gerade 80 Jahre alt gewordenen Regisseur Dieter Dorn geführt, der von 1983 bis 2001 Intendant der Münchner Kammerspiele war und anschließend bis 2011 das Bayerische Staatsschauspiel leitete. Zuerst komme der Text und mit ihm die Sicht des Autors auf die Welt, betont Dorn gegen den Zeitgeist, dann kommen die Schauspieler und anschließend der Regisseur – das sei für ihn die einzig richtige Reihenfolge. Um erfolgreich zu arbeiten, müsse das ganze Theater „ein gemeinsames Ziel“ haben; es müsse sich auf die Suche nach „Zeichen“ begeben und „den Raum möglichst offen“ halten. „Das Programm des modernen Theaters“ sei, so Dorn, „das Bewahren, also das Bewahren der Sprache, das Bewahren der alten Geschichten, das Bewahren des Umgangs mit der Menschenbeobachtung.“ Hingegen finde er den Versuch etwa der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf, das Theater in eine Ansammlung von Events zu transformieren, den Medien mit eingestreuten Videos Konkurrenz zu machen oder gar „Stadtteilarbeit“ zu propagieren, „grauenvoll“. Wie kann das Theater, fragt Dieter Dorn, „wieder eine Relevanz bekommen“, wie sie das antike Dionysos-Theater mit Sophokles, Euripides und Aristophanes besaß? Wie kann es zu einer Art „Gegenwelt“ werden?
Die Wiener Literaturzeitschrift Kolik dokumentiert das Programm des Internationalen Literaturfestivals „Erich Fried-Tage 2015“. Unter dem Titel „Fakten und Fiktionen“ widmet man sich dem Genre der literarischen Reportage. Qualitativ im Zentrum des umfangreichen Bandes stehen Texte des britisch-indischen Nobelpreisträgers V. S. Naipaul und des Österreichers Christoph Ransmayr, dessen hochpoetische Reiseberichte (versammelt etwa im „Atlas eines ängstlichen Mannes“, 2012) die Reportage-Literatur hierzulande neu definiert haben. So müsse ein Erzähler, meint Ransmayr, selbst wenn er nur „vom Allervertrautesten“ spricht, sich doch auch „der einfachsten Dinge, mit denen er seine Geschichte beginnen will, erst vergewissern.“ Er müsse „alle Welt noch einmal erfinden“ in der Stille, in der er endlich zu sprechen beginnt, mit knappen Sätzen, wie Franz Kafka im „Schloss“: „Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn …“
Naipaul unterscheidet in seinem Beitrag das politische Indien der Freiheitsbewegung im 19. Jahrhundert mit seinen bekannten Namen von einem anderen, persönlichen Indien, über das man in seiner Jugend nichts lesen konnte. In dieses, schreibt er, „begab ich mich, als die Zeit reif war. Aber nichts hatte mich auf den Verfall vorbereitet, den ich zu sehen bekam.“ Erst in Gandhis Autobiographie fand er „einen rohen Schmerz, der meinem eigenen in Indien ähnlich war.“ Und er erfuhr, dass Indien bereits vor der britischen Zeit „Katastrophen“ durchgemacht hatte: „Mehr als 600 Jahre lang hatten die muslimischen Eroberer den Subkontinent nach Belieben verwüstet“, die Tempel geschändet.
Für jede Art der Erfahrung gebe es, meint Naipaul, eine entsprechende Form. „Wenn ich einen Roman über Indien versucht und die Erfindungsmaschine angeworfen hätte, hätte ich wertvolle Erfahrungen verfälscht. Der Wert meiner Erfahrungen lag in ihrer Einzigartigkeit. Ich musste alles so originalgetreu wie möglich wiedergeben“ – und eben nicht mittels einer literarischen Form aus dem 19. Jahrhundert, die „längst zum Inventar“ gehörte.
Um das Erzählen geht es auch im jüngsten Heft der Neuen Rundschau, einem 336 Seiten starken Band. Im einleitenden Beitrag reflektiert der amerikanische Romancier und Berliner Gastprofessor Richard Powers locker und selbstironisch über ein Seminar zum Thema „Fakten und Fiktionen“ (oder „Verstand und Gefühl“), das er im Sommer 2009 an der Freien Universität abgehalten hat. Es geht ihm besonders um die Erforschung dieser „seltsamen“ Stadt Berlin und ihrer neueren Geschichte und wie man angemessen darüber schreibt oder besser: erzählt.
Powers streift also über den Potsdamer Platz, wo das Sony-Center aus dem ehemaligen Todesstreifen sprießt, er besichtigt das neu entstehende Stadtschloss, entdeckt überall diese kleinen quadratischen „Stolpersteine“ der Erinnerung, besucht mit mäßigem Interesse das Jüdische Museum und das Holocaust-Denkmal am Brandenburger Tor. Beeindruckend findet er nur einen russisch-jüdischen Akkordeon-Spieler, der auf einem U-Bahnhof Fugen von Bach spielt, sowie das Deutsche Technikmuseum und darin besonders die „Rheintochter“, eine Boden-Luft-Rakete mit romantischem Namen aus der V2-Familie, die im Zweiten Weltkrieg nicht mehr zum Einsatz kam, aber Entwicklungsmöglichkeiten in sich barg – eine „Realität“, die „die Literatur längst überholt hat.“ Wie will und kann man, fragt Powers, nach solcher Vergangenheit „noch eine erfundene Geschichte anbringen?“
Leicht und wie beiläufig verfasst Philippe Jaccottet seit Jahrzehnten lyrische Prosastücke und Gedichte über das immer Gleiche: über Bäume, Wiesen, Flüsse, Berge, das brennende Rot der Blüten oder eines Glasfensters im Schein des Abendlichts; darunter sind auch poetologische Reflexionen über die Bedingungen des Schreibens. Und er übersetzt, aus dem Deutschen vorrangig Werke von Hölderlin und Rilke. Geboren 1925 in Moudon in der Westschweiz, lebt Jaccottet seit 1953 in Grignan in der Provence. 2015 erschienen unter dem Titel „Sonnenflecken, Schattenflecken“ neue Aufzeichnungen des mittlerweile 90jährigen Dichters, dem Peter Handke attestiert, ein „Diener des Sichtbaren“ zu sein.
Auch im 4. Heft des laufenden Jahrgangs der Zeitschrift Sinn und Form begegnet man diesen unheimlich genauen (Tagebuch-)Notaten Jaccottets, die von Scheu und Geduld zeugen und in ihrer sprachlichen Feinheit an Gedichte erinnern; beglückend tiefe Bilder, die etwas Rettendes, fast Religiöses ausstrahlen und doch nur eine bescheidene Landschaft im Licht des ausgehenden Winters schildern: „Es gibt Anblicke, die dich in einen anderen Raum versetzen, durch den schmalen Spalt zwischen Tag und Nacht, zwischen Winter und Frühling; da, im Zwischenbereich, durch einen simplen Lichteffekt, schenkt man dir die Darstellung einer Annäherung von Dingen und Gedanken; die Dinge sind noch Dinge, das Gras ist noch Gras, doch etwas funkelt dahinter oder darunter oder darinnen.“
Im jüngsten Heft der Grazer manuskripte äußert sich der Ethnologe Hans- Jürgen Heinrichs zu Jaccottets „Geretteten Aufzeichnungen“, die einerseits „das Gegenständliche und Alltägliche“ suchen und andererseits „die Höhe der Poesie“ anpeilen: „Der Dichter vertieft sich in die Natur, erforscht das Geschehen, oft mit der Zärtlichkeit eines Liebenden. Er ist von der Natur getrennt und verschmilzt doch auch mit ihr, kraft seiner Einfühlungen, Berührungen und seiner poetisch-beschreibenden Sprache.“ Ums rechte Erzählen geht es auch in Peter Handkes neuem Schauspiel mit dem enorm langen Titel „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“, zu dem Helmut Moysich kluge Anmerkungen beisteuert. „Ah“, heißt es in Handkes Stück, das Parallelen zu Shakespeares „Wintermärchen“ aufweist, „das alles, mein, unser Abenteuer, den großen Bogen Straße, den großen Bogen Zeit erzählen!“
Ebenfalls in den manuskripten ein Erinnerungstext von Hans Jürgen Balmes, Mitherausgeber der Neuen Rundschau. Balmes berichtet über seinen letzten Besuch bei Tomas Tranströmer im Dezember 2013 in Stockholm. Der bedeutende Lyriker und Nobelpreisträger des Jahres 2011 hatte 1990 einen Schlaganfall erlitten und war seitdem rechtsseitig gelähmt; sein Sprachvermögen war stark reduziert. Doch mit Unterstützung seiner Frau Monica konnte er nach einiger Zeit wieder schreiben. „Die Begräbnisse kommen / dichter und dichter / wie die Straßenschilder / wenn man sich einer Stadt nähert.“
Es war „Schweigen“ um Tranströmer, auch „Müdigkeit“, so empfand es jedenfalls der deutsche Besucher. Doch der im Rollstuhl sitzende Dichter wünschte etwas auf dem Klavier zu spielen, ein Stück speziell für die linke Hand von Frank Bridge: „Die Modulation auf dem Piano ist so perfekt, so nuanciert, dass eine große Überraschung einen ergreift, und gleichzeitig ein Schock, dass im Innern des fast unbeweglichen Körpers, der sich nur mithilfe von Monica mitteilen kann, dieser Reichtum, diese emotionalen Nuancen leben: Hier sitzt ein Pianist, der sein Stück so im Griff hat, dass er es kolorieren kann, phrasieren, bis der ganze Reichtum des Stückes lebt. Der taube Körper wird beredt.“ Im März 2015 ist Tomas Tranströmer gestorben.
Lettre International: Nr. 110, Herbst 2015
(Mommsenstraße 27, 10629 Berlin), 12,- €.
Kolik: Nr. 67, Oktober 2015
(Taborstraße 33/21, A-1020 Wien), 12,- €.
Neue Rundschau : Heft 3, 2015
(Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt), 15,- €.
Sinn und Form: Heft 4, 2015
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11,- €.
Manuskripte: Nr. 209, September 2015
(Sackgasse 17, A-8010 Graz), 11,70 €.
Michael Buselmeier 12.11.2015
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Michael Buselmeier
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