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September 2013
Der Schriftsteller und Publizist Horst Bingel war von Ende der 50er bis Ende der 70er Jahre in Frankfurt und darüber hinaus ein höchst einflussreicher „Beweger“. Er war ein Agent des Literaturbetriebs, der manches für seine Kollegen tat, ständig mit neuen, oft auch etwas seltsamen Projekten unterwegs (Lyrik-Lesungen in Straßenbahnen, Werkshallen und auf Baustellen), bis ihn eben dieser Betrieb abschüttelte und vergaß. Im Oktoberheft der Akzente erinnert die Frankfurter Autorin Hanne Kulessa an Bingel, der in diesem Jahr achtzig geworden wäre. Auch einige seiner Gedichte sind dort abgedruckt.
1956, Bingel war damals 23, erschien sein erster Gedichtband Kleiner Napoleon. So begann die Zusammenarbeit mit dem legendären Verleger der Eremitenpresse VauO Stomps. Bingel, der den Verlagsbuchhandel gelernt hatte, wurde Redakteur von Stomps' Streit-Zeit-Schrift, die er bis 1969 betreute. Er publizierte weitere Gedichtbände, Anthologien für Junge Lyrik sowie den erfolgreichen Geschichtenband Die Koffer des Felix Lumpach. 1965 gründete er das Frankfurter Forum für Literatur, wo Schriftsteller aus West und Ost einander begegneten. In den 70er Jahren war er Vorsitzender des hessischen sowie des bundesdeutschen Schriftstellerverbands. Dann zog er sich, warum auch immer, zurück. Im Jahr 2008 starb er.
Bingel war kein großer Lyriker, doch sein von heute aus betrachtet eher harmloses Fragegedicht aus dem Band Wir suchen Hitler, das 1965 im Feuilleton der F.A.Z. erschien, war ein Skandalon, das empörte Leserbriefe provozierte („entartet“, „Schund“, „blödes Machwerk“). Es beginnt mit den Zeilen: „Hitler war nicht in Deutschland / niemals / haben sie wirklich Herrn Hitler gesehen / Hitler ist eine Erfindung“.
Auch Franz Kafka, dessen 130. Geburtstag in diesem Jahr anstand, hat 1917 einen Leser namens Dr. Siegfried Wolff „ratlos“ gemacht und zu einem beleidigten Brief angeregt: „Sehr geehrter Herr“, liest man da, „Sie haben mich unglücklich gemacht. Ich habe Ihre ›Verwandlung‹ gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären …“ Ihm antwortet nun, mit naturgemäß großer Verspätung, der Dichter Kurt Drawert (ebenfalls in den Akzenten). Wenn der Leser nicht wisse, wie etwas gemeint sei, wie solle dann der Autor es wissen, der ja auch nichts anderes als ein Leser seiner selbst sei, so Drawert. Der Schreiber des Briefes sei als Rezipient von Literatur, „die es sich zu eigen gemacht hat, Realität nicht mehr abzubilden, sondern selbst zu erschaffen“, schlichtweg verloren. Herr Dr. Wolff sei nicht an einem schwierigen Buch gescheitert, „sondern an der Inskription von normierter Erfahrung.“ Er wolle nur lesen, was er schon kenne. Kafkas Sprache aber sei, bei all ihrer Schönheit und Reinheit, „schonungslos“. Schon 1904 habe er geschrieben, „man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen.“
Wer ist nicht alles in diesem Jahr 80 geworden – neben Horst Bingel wären Arnfrid Astel, Peter Härtling und eben auch Reiner Kunze zu nennen. Aus diesem Anlass versammelt die seit 1973 in London von Andreas W. Mytze herausgegebene Zeitschrift europäische ideen Freundesstimmen; Kritiker Kunzes kommen nicht zu Wort, was der Geburtstagsausgabe etwas Redundantes verleiht.
In den schmalen Londoner Heften werden in der Regel Autoren präsentiert, die – wie Mytze selbst – dezidiert linke oder anarchistische Positionen vertreten und „gegen jede Art von Diktatur und Unterdrückung anschreiben“, Kämpfer wie Erich Mühsam, Alfred Kantorovicz oder Robert Havemann. Und obwohl Reiner Kunze alles andere als ein linker Umstürzler ist, vielmehr ein Wahrer bürgerlicher Ordnung, passt er aufgrund seines in der DDR praktizierten Widerstands genau hierher: „Unwissende damit ihr / unwissend bleibt / werden wir euch schulen“. Ein dialektischer Aphorismus, scharfkantig wie dieser, wirkte im real existierenden Sozialismus subversiv.
Das 155. Heft der europäischen ideen umfasst Briefwechsel und andere Dokumente aus den 70er Jahren, als Kunze noch, von der Stasi überwacht, im thüringischen Greiz lebte, authentische Berichte über schäbige Schikanen. Auch Kunzes enges Verhältnis zu dem von ihm verehrten Peter Huchel wird angesprochen: Beide Dichter wurden von ihrem Staat verfolgt und zur Ausreise genötigt; beide waren „unfähig zum Kniefall“.
Im Mittelpunkt der vorliegenden wie auch der folgenden 156. Ausgabe stehen Geburtstagsgrüße von Freunden und Bewunderern, Erinnerungen an prägende Begegnungen mit Kunze, der als „praktizierender Humanist“ (so Edwin Kratschmer), als „Poet des Trostes und der Hoffnung“ selbst „in unheilvollen Momenten des Lebens“ (so der Germanist Wolfgang Frühwald) gepriesen wird. Man dankt ihm für seinen Mut gegenüber der Staatsmacht und mehr noch für seinen Prosaband Die wunderbaren Jahre, der 1976 im Westen erschien und Kunze im Osten viel Ärger eintrug, weil er darin den ganz und gar trostlosen Alltag in der DDR schilderte, was ihm auch West- Intellektuelle übel nahmen. Denn anders als Walter Jens und Günter Grass, anders auch als die VS-Vorsitzenden Lattmann und Engelmann bestand Kunze auf der deutschen Wiedervereinigung, die – da war er sicher – eines Tages kommen werde. Daher galt er, nach seiner Ausreise aus der DDR zu Ostern 1977 in Bayern lebend, bei Autoren, die der DKP nahestanden, als „Reaktionär“, man sprach ihm sogar ab, ein Schriftsteller zu sein.
Das jüngste Heft von Sinn und Form eröffnet ein luzider Text des französischen Lehrers und Schriftstellers Georges Hyvernaud über Anonymität. Hyvernaud lebte von 1902 bis 1983; seine Bücher waren jahrzehntelang vergessen, nun werden sie wieder aufgelegt, auch bei uns. Er wirft darin einen durchdringenden Blick gerade auf die kleinen Leute, ihre Banalität und Kläglichkeit. Ihre Anonymität sei „Vorbereitung auf den Tod“, darauf, schon zu Lebzeiten niemand zu sein. „Die Angst vor Namenlosigkeit“ sei eines der hervorstechenden Merkmale des Menschen. Der Name sei für die meisten lebenswichtig, möglichst „ein Name, der auf Plakaten steht, in der Zeitung“, während er, Hyvernaud, nur das Schreiben brauche: „Um sich zu rächen. Literatur ist Rache. Die ganze Literatur ist ein einziges Grollen.“
Über den vergessenen deutschen Schriftsteller David Luschnat, ein Emigrant, kein Kommunist, nicht einmal Jude, der 1934 aus der Schweiz ausgewiesen wurde, weil er – anders als der Nobelpreisträger Thomas Mann – keinen Namen hatte, berichtet einfühlsam in Sinn und Form Ralph Schock. Eine traurige Geschichte.
Luschnat, der sich selbst als religiöser Sozialist und Pazifist verstand, zog sich nach seiner Ausweisung aus der Schweiz in den südfranzösischen Ort Tourrettes-sur-Loup zurück, wo ihn der junge Ralph Schock, auf den Spuren Gustav Reglers unterwegs, 1975 aufspürte und einen resignierten alten Mann antraf. Geboren 1895 in Insterburg, wurde Luschnat 1918 Mitglied des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller, er veröffentlichte drei schmale Hefte mit Lyrik, zwei Anthologien jüngster Dichtung, eine Novelle. Im Lauf der Jahre entstanden sieben oder acht Romane, die alle unveröffentlicht blieben, weil ihr Erzählstil veraltet oder die Themen nicht mehr aktuell waren.
Auch bei der Rückkehr nach Deutschland 1945 stieß er auf Ablehnung. Man könne es sich nicht leisten, einen Emigranten zu verlegen, ließ ihn Reclam wissen. Verbittert kehrte er mit seiner Frau nach Südfrankreich zurück, wo er 1984 starb. Teile des Nachlasses verbrannte seine Frau im Garten. 1947 schrieb David Luschnat nachts in einem Hotel in Deutschland: „Und die Toten flüstern – ganz leise – / kaum hörbar flüstern die Toten ins Herz mir: / leben die Mörder noch? unsre Mörder? / die uns ans Hakenkreuz schlugen? / die Hakenkreuzmörder?“
Die feine Zeitschrift metamorphosen ist wieder zurück. 1991 in Heidelberg von Studenten der Germanistik gegründet und dort bis zum Jahr 2000 präsent, feiert sie nun, 13 Jahre später, wiederum im Elfenbein Verlag, freilich in Berlin, ihr Comeback mit der Nummer 31. Noch immer widmet man sich in Porträts, Interviews und Rezensionen der aktuellen Literatur, aber auch dem (Berliner) Theater, der Musik und dem Film, was sehr zur Lebendigkeit beiträgt.
Im Kern hat man sich vorgenommen, das Kleine, Unscheinbare und fast Vergessene neu zu entdecken, das es schwer hat, in den Feuilletons einen Platz zu finden. Folglich beginnt das jüngste Heft mit einem Porträt Kurt Wolffs, der vor genau 100 Jahren den nach ihm benannten Verlag gegründet hat. Wolff war wohlhabend und verstand sich als Freund seiner Autoren. In der Reihe Der jüngste Tag veröffentlichte er erste Texte von Franz Kafka und Georg Trakl, von Franz Werfel, Walter Hasenclever und anderen, insgesamt 86 Bände.
1930 gab Kurt Wolff sein Unternehmen auf und zog nach Italien, 1941 emigrierte er nach New York, wo er etwa Hermann Brochs schwierigen Roman Der Tod des Vergil verlegte. 1963 starb er in Deutschland bei einem Verkehrsunfall. Die Kurt Wolff-Stiftung, die 2000 zur Förderung unabhängiger Verlage gegründet wurde, trägt zu Recht seinen Namen. Sie vergibt einen mit 26.000 Euro dotierten Preis an Kleinverlage mit herausragendem Programm. Er ging 2013 an den Göttinger Wallstein Verlag, der pro Jahr etwa 130 Bücher produziert, also kaum noch „klein“ zu nennen ist.
Im Mittelpunkt der metamorphosen steht ein langes Gespräch, das Michael Watzka mit Heinrich Detering führte – beileibe kein vergessener Autor, sondern ein einflussreicher und brillanter Literaturprofessor, Akademiepräsident, Übersetzer, Rezensent der F.A.Z. und eben auch Lyriker (mit zuletzt drei Gedichtbänden bei Wallstein). Hier geht es ihm vor allem um das inspirierte Gedichteschreiben, das ein besonderes Glücksgefühl auslöst, um den mystisch-meditativen Moment, also um „Augenblicke weltvergessener Einsamkeit“, so Detering, der sehr offen von seinen Zweifeln und Ängsten spricht, als akademischer Lehrer zugleich intime Gedichte zu veröffentlichen. Aber: „Nicht der Schreiber, sondern das Gedicht ist nackt.“ Das Schreib-Handwerk zu erlernen, nütze auch etwas, ebenso das liebende Nachahmen der Vorbilder, wobei er Johannes Bobrowski und Günter Eich erwähnt sowie Tomas Tranströmer und Bob Dylan als „Hausheilige“.
Akzente: Heft 5, Okotber 2013
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.
europäische ideen: Heft 155, 2013
(A.W. Mytze, 1 The Riding, London NW11 8HL), 5,–.
Sinn und Form: Heft 5, 2013
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9,– €.
metamorphosen: Nr. 31, neue Folge
(Kopenhagener Straße 75, 10437 Berlin), 2,–€.
Michael Buselmeier 20.11.2013
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Michael Buselmeier
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